Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 106⏐⏐Heft 10⏐⏐6. März 2009 A469
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s soll inzwischen Touristen ge- ben, die mit dem „Turm“ in der Hand den „Weißen Hirsch“ in Dres- den durchstreifen, um die Orte der Handlung von Uwe Tellkamps Ro- man kennenzulernen. Sie werden die eine oder andere Straße oder Villa identifizieren. Doch den Roman werden sie so nicht begreifen.Sehr deutsch mutet Tell- kamps mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnetes Epos an: gedankenreich, ernsthaft, auf sympathische Weise umständlich. Das 1 000-Seiten-Werk zeugt vom langen Atem wie vom Bildungsspektrum des Au- tors, und die deutsche Spra- che beherrscht er derart, dass ihm sogar eigene Wort- bildungen überzeugend gelingen.
Den Leser versetzt Tellkamp in eine eigene Welt, versponnen, fast ver- schroben, wie längst vergangen – obwohl sie doch erst jüngst vergan- gen ist, die letzte Periode der DDR nämlich, in der die Handlung spielt.
Handlung? Nicht im üblichen Sin- ne. Es gibt keinen dramatisch aufge- bauten Spannungsbogen, selbst der rote Faden wird über all den Fami- liengeschichten und eingestreuten kurzweiligen Geschichtchen gele- gentlich dünn. Dennoch lässt das Buch den Leser, wenn er sich erst einmal darauf eingelassen und die ersten 100 Seiten überwunden hat, nicht mehr los. Er versinkt in dieser anderen Welt.
Und die besteht aus drei abge- grenzten Kontinenten. Der erste ist bevölkert mit den intellektuellen Hauptfiguren des Romans, die Christian, einen jungen Mann, der sich finden muss, umgeben. Sie sind zumeist naturwissenschaftlich oder medizinisch gebildet (Tellkamp kennt sich aus, er ist selbst Arzt, sein Vater ist Arzt) und musisch in-
teressiert. Sie wohnen be- drängt in den herunterge- kommenen Villen über der Elbe in Dresden. Man hält Distanz zum Staat, hat sich aber arrangiert, Nähe und Ablehnung liegen nahe beieinander:
„Hier die Orden, hier die Parteistra- fen“, bei ein und derselben Person.
Diese Türmer le- ben für sich mit Hausmusik und klugen Gesprächen über Literatur wie Biologie; zuneh- mend wetterleuch- ten die politischen Klimaumbrüche von Breschnew bis Gorbatschow hinein. Die fa- miliären Bande werden ge- pflegt, doch wahrt man auch privat Distanz. „Sie haben sie zwar die großen Gefühle, aber sie spielen sie herunter und machen sie eher lächer- lich, als sie einzugestehen“, bemerkt ein Tagebuch schrei- bender Onkel.
Die Türmer bleiben nicht ständig im Turm, sondern gehen draußen ihren Beru- fen nach – Kontinent zwei.
Richard zum Beispiel, eine der Hauptfiguren, ist Ober- arzt in der Orthopädie und kämpft mit dem Material- mangel und um seine Karrie- re. Onkel Meno arbeitet in einem ambitionierten Verlag und kämpft mit Zensur und um Papierzuteilungen. Meno wie Richard gewähren damit tiefe Einblicke in einen von Knapp- heit, Bürokratie und einer allgegen- wärtigen Überwachung geprägten Berufsalltag. Der schwappt auch ins Private hinein, so, wenn Richard von
der Staatssicherheit erpresst wird und sich nicht anders zu helfen weiß, als sich der Familie zu offenbaren.
Kontinent drei, die Na- tionale Volksarmee, kontras- tiert völlig mit den Villen am Elbhang und ihren kulti- vierten Bewohnern. In das Leben der Schikanen und der brutalen Strafen gerät Richards Sohn Christian, der eigentlich Medizin stu- dieren will, sich zuvor aber beim Militär bewähren muss. Über Christian lernt der Leser neben der Dresde- ner Exklave das harte Leben in Manöverdreck, Braun- kohletagebau und Che- mieindustrie bis ins Detail kennen.
Christians überlanger Mi- litärdienst endet, als es mit der DDR und damit auch mit deren Armee zu Ende geht. Im Nachhinein scheint der Dienst somit sinnlos gewesen zu sein. Für Chris- tian nicht. Nach seinen Be- währungseinsätzen in der Arbeitswelt ist er endgültig aus dem „Turm“ heraus.
Das widerfährt am Ende der DDR und des Romans auch den lange in sich zurückgezogenen Türmern selbst. Sie waren „wie Kin- der, die aufgestanden sind und laufen lernen“, be- schreibt Tellkamp den Umschwung von 1989.
„Sie hatten die Köpfe er- hoben, noch beklommen atmend, doch schon voller Stolz, dass es möglich war, dieses Geradeaus, dass sie aufrecht gingen.“
Da kamen sie schließlich doch, die großen Gefühle. I Norbert Jachertz
TELLKAMPS TURM
Vom Herunterspielen der großen Gefühle
Halb Entwicklungsroman, halb Zustandsbeschreibung der DDR in ihren letzten Jahren – Uwe Tellkamp erzählt von einem jungen Mann in einer eingeschlossenen Gesellschaft.
Foto:Eberhard Hahne
Uwe Tellkamp:
„Der Turm“, Roman, Suhrkamp, 2008, 976 Seiten, 24,80 Euro
Wie autobiogra- fischschreibt Uwe Tellkamp?
Dazu das Interview vorne im Heft