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Archiv "Chronische Erkrankungen: Steigender Bedarf an begleitender Psychotherapie" (16.10.2009)

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A 2080 Deutsches Ärzteblatt

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Jg. 106

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Heft 42

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16. Oktober 2009

C

hronische Erkrankungen sind in der Europäischen Region der Weltgesundheitsorganisation (europäische Staaten, Nachfolge- staaten der UdSSR, Türkei, Israel) für 86 Prozent der Todesfälle und 77 Prozent der Krankheitslast ver- antwortlich. Sie stellen sowohl die Betroffenen und ihre Angehörigen als auch die Gesundheitssysteme vor große finanzielle Herausforde- rungen. Während der Betroffene mög licherweise Pflegekosten finan- zieren und seinen Beruf aufgeben muss, entfallen auf die Gemein- schaft der Versicherten und auf die Gesellschaft unter anderem Kosten für Behandlung und Gesundheits- versorgung, krankheitsbedingte Fehl - zeiten und Vorruhestand.

Neben finanziellen und wirt- schaftlichen Aspekten sind chroni- sche Erkrankungen auch stets mit vermin derter Lebensqualität, ver- kürzter Lebenserwartung und indi- viduellem Leid verbunden. Die Be- troffenen müssen beispielsweise damit rechnen, jahrelang mit Ein- schränkungen, Behinderungen und Schmerzen zu leben. Sie verlieren phasenweise oder sogar endgültig die Kontrolle über ihr Leben und sind auf die Hilfe anderer ange - wiesen. Die Lebensführung muss grundlegend geändert werden, was meist nicht einfach ist.

Lebenspläne und -ziele müssen aufgegeben werden, weil sie nicht mehr durchführbar sind. Auch so- ziale Rollen und das soziale Umfeld sind betroffen und ändern sich, al-

lerdings nicht immer zum Vorteil.

Da chronische Erkrankungen un- heilbar sind, müssen die Betroffe- nen sie als Begleiter für den Rest des Lebens akzeptieren, was jedoch nicht jedem gelingt. Hinzu kommen Belastungen durch Diagnose, medi- zinische Behandlung und Stigmati- sierung. Zahlreiche Ängste und Sorgen beeinträchtigen zusätzlich, vor allem wenn das Leben unmittel- bar bedroht ist (zum Beispiel durch Krebs, Mukoviszidose, Aids).

Wurden chronisch Erkrankte frü- her mit diesen Herausforderungen und Belastungen alleingelassen, weil sich die Behandlungen aus- schließlich auf die körperlichen Symptome konzentrierten und die zahlreichen psychosozialen Aus- wirkungen ignoriert wurden, stehen den Patienten heute verschiedene Wege offen, um zu lernen, das Le- ben mit der Krankheit zu bewälti- gen. Psychologische und psycho- therapeutische Ansätze bieten sich hierfür besonders an, weil sie flexi- bel sind, über ein breites Spektrum

an Methoden und Verfahren verfü- gen, empirisch gut untersucht sind und die vielseitigen Wechselwir- kungen zwischen Körper und Psy- che berücksichtigen.

Die Angehörigen sollten einbezogen werden

Daher werden sie beispielsweise zur Psychoedukation eingesetzt.

Diese dient dazu, die Patienten über Medikamente und Nebenwirkun- gen, Krankheitsursachen, Folgen und Behandlungsoptionen zu infor- mieren. Wenn möglich, sollten auch die Angehörigen einbezogen wer- den, da sie einen wesentlichen Bei- trag zur Motivierung des Patienten leisten können. Im Mittelpunkt zeitgemäßer Patientenschulungspro- gramme steht heute nicht nur die Vermittlung von Wissen über Krank- heit und Behandlung, sondern auch die Förderung der Patientenkompe- tenzen (Empowerment). Letztere zielt darauf ab, die Patienten zur Anwendung des Gelernten im All- tag zu motivieren, Ressourcen zu CHRONISCHE ERKRANKUNGEN

Steigender Bedarf an begleitender Psychotherapie

Ein breites Spektrum an gut untersuchten Methoden und Verfahren berücksichtigt die vielseitigen Wechselwirkungen zwischen krankem Körper und Psyche.

Foto: mauritius images [m]

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16. Oktober 2009 A 2081 aktivieren und ihre Selbstwirksam-

keitsüberzeugung zu stärken.

Ein weiterer Einsatzbereich ist die korrekte Deutung körperlicher Symptome. Patienten mit chroni- schen Erkrankungen (vor allem Pa- tienten mit Asthma, Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen) nei- gen dazu, harmlose, körperliche Symptome bereits als „Alarmsi - gnal“ zu deuten, katastrophierende Gedanken zu entwickeln und in Pa- nik zu geraten. Irrtümliche Deutun- gen und Überreaktionen führen je- doch dazu, dass sich die Betroffe- nen unnötig Sorgen machen, soziale und sportliche Aktivitäten meiden, sich zurückziehen und sich schlech- ter an ihre Erkrankung anpassen.

Begleiterkrankungen

schränken Lebensqualität ein

Mithilfe psychotherapeutischer Me- thoden (zum Beispiel kognitives Umdeuten und Neubewerten) kön- nen Patienten lernen, ihre Selbst- wahrnehmung zu verbessern, ihre Annahmen realistischer einzuschät- zen und sich selbst zu beruhigen.

Dazu tragen auch Entspannungs- trainings und Biofeedbackverfah- ren bei.

Ein wichtiger Einsatzbereich ist darüber hinaus die Motivation, bei- spielsweise zur Behandlungscom- pliance. Chronisch Kranke müssen oft ein Leben lang verschiedene Medikamente einnehmen. Die re- gelmäßige, korrekte Einnahme er- fordert einerseits ein hohes Maß an Selbstdisziplin und eine gewisse Toleranz der Nebenwirkungen, er- möglicht andererseits aber eine re- lativ hohe Lebensqualität und kann sogar lebensverlängernd sein (zum Beispiel bei Krebs und Aids).

Motivation zum Selbstmanage- ment ist ebenfalls ein wichtiger Ein- satzbereich. Sie soll die Patienten dabei unterstützen, die Opferrolle und eine passive Behandlungserwar- tung aufzugeben und selbst aktiv zu werden. Dadurch sollen sie in die Lage versetzt werden, ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen, mit der Krankheit zu leben und medizinische Leistungen seltener in Anspruch zu nehmen. Auch die Mo- tivation zum gesundheitsorientierten Verhalten gehört zu den Einsatzbe-

reichen. Die meisten chronischen Erkrankungen machen eine Verhal- tensumstellung erforderlich. Es wird etwa angestrebt, dass die Patienten sich regelmäßiger bewegen, gesünder ernähren, ihr Körpergewicht redu- zieren oder das Rauchen aufgeben.

Anleitungen, Verhaltenstraining und entsprechende Motivation können beispielsweise Gesundheitspsycho- logen vermitteln.

Psychotherapeutische Verfahren kommen auch zum Einsatz, um ko- morbide Erkrankungen zu behan- deln. Depressionen und Ängste zäh- len zu den häufigsten Begleiterkran- kungen, aber auch posttraumatische Belastungsreaktionen und Panikatta- cken treten gehäuft auf. Sie schrän- ken die Lebensqualität der Patienten noch stärker ein, als dies durch die chronische körperliche Erkrankung ohnehin schon der Fall ist. Zudem verschlechtern sie in vielen Fällen die Krankheitsprognose und tragen zu einem rascheren Fortschreiten der körperlichen Erkrankung und zu einer geringeren Lebenserwar- tung bei (zum Beispiel bei Herz- kranken). Dennoch werden komor- bide psychische Störungen häufig übersehen und nicht behandelt. Die Einbeziehung von Psychotherapeu- ten in die Behandlung kann dies verhindern.

Jede chronische Erkrankung geht mit spezifischen Behandlungen, Problemen und Herausforderungen einher, und jeder Patient ist anders.

Psychotherapeutische Techniken und Methoden haben den Vorteil, dass sie individuell angepasst und eingesetzt werden können. So kann beispielsweise Patienten mit chro- nischen Schmerzen, rheumatischen Erkrankungen oder Krebs geholfen werden, Schmerzen besser zu ertra- gen. Diabetikern kann die Angst vor Spritzen oder Unterzuckerung genommen werden. HIV-positive Patienten können motiviert werden, Risikoverhaltensweisen aufzuge- ben. Herzpatienten werden ange - leitet, konstruktiv mit Stress und Ärger umzugehen und ihre kommu- nikativen Kompetenzen zu verbes- sern. Schwer erkrankte Patienten können zudem bei der Sinnfindung und Annahme ihres Schicksals un- terstützt werden.

Psychologische und psychothe- rapeutische Interventionen sollten nicht als Konkurrenz, sondern als wichtiger Beitrag zur Behandlung chronischer Erkrankungen gesehen werden. Sie tragen nicht zur Hei- lung bei, können aber den körperli- chen und psychischen Zustand und den Krankheitsverlauf positiv be- einflussen. Darüber hinaus können sie chronisch kranke Patienten darin unterstützen, mit der Erkrankung adäquat umzugehen und an Lebens- qualität zu gewinnen, was letztlich wiederum die Gesundheitssysteme entlastet.

Chronische körperliche Erkran- kungen werden voraussichtlich welt- weit weiter zunehmen. Daher wird auch der Bedarf an Disease-Ma- nagement-Programmen (DMP) und an psychologisch und psychothera- peutisch ausgebildeten Fachkräf- ten in Krankenhäusern, Fach- und Rehabilitationskliniken, Beratungs- stellen und in der ambulanten Ver- sorgung in den nächsten Jahren weiter steigen. Psychosoziale Be- gleitung und Psychotherapie erhält aber nach wie vor nur ein geringer Teil der chronisch Kranken.

Psychotherapeuten werden häufig nicht beteiligt

Dafür gibt es verschiedene Gründe.

Beispielsweise bleiben psychoso- ziale Belastungen und psychische Störungen, die mit chronischen Er- krankungen einhergehen, häufig unerkannt oder werden von behan- delnden Ärzten nicht als behand- lungsbedürftig eingestuft. Bei der Schaffung neuer DMP wird die Beteiligung von Psychotherapeuten oft nicht eingeplant. Es liegt auch an den Patienten selbst: Viele haben ein somatisches Krankheitsmodell und weigern sich, psychische Aspekte anzuerkennen.

Darüber hinaus gibt es zu wenige ausgebildete Fachkräfte. Der Lon - doner Gesundheitspsychologe Prof.

Dr. Claus Vögele meint dazu: „Eine ausreichende psychologische Versor- gung von chronisch Kranken ist schon heute nicht mehr gewährleis- tet, da zu wenige Psychotherapeuten ihre Ausbildung abschließen, um den steigenden Bedarf zu decken.“ ■ Dr. phil. Marion Sonnenmoser

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