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Archiv "Vermittelnder Vorschlag: Über Naturheilkunde und das „Ganze“ in der Medizin" (20.02.1998)

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ie Terminologie eines „Gan- zen“, einer „Ganzheitsmedi- zin“ und Ansprüche einer

„ganzheitlichen“ Diagnostik und Therapie sind manchmal schwer zu ertragen. Bei manchen Autoren und medizinischen Richtungen sind sie Redensart und Teil einer Argu- mentation, die den wirklichen An- spruch und die eigentliche Idee eines

„Ganzen“ wohl gar nicht kennt. Ich empfinde solche Redensarten als auf- geblasen und anmaßend, manchmal denke ich an das von Luther übersetz- te Gebot: „Du sollst den Namen des Herrn deines Gottes

nicht unnütz führen.“

Und trotzdem: Ge- rade dieser ganzheitliche Anspruch bedeutet für viele Patienten und Ärz- te das Faszinierende mancher unkonventio- nellen und alternativen Medizin. Er kommt stark empfundenen Bedürfnis- sen entgegen, denen die herrschende und allge- mein anerkannte medizi- nische „Schule“ nicht mehr gerecht werden kann. In dem modernen, bio-psychosozialen Mo-

dell einer Ganzheit werden zwar in- teressante Zusammenhänge zwischen Psyche und Soma festgestellt und ge- genseitige Abhängigkeiten beschrie- ben, das Menschenbild bleibt aber dualistisch, die grundsätzliche wissen- schaftliche Haltung entspricht einer positivistischen Philosophie. An die- ser Stelle besteht Handlungsbedarf für die sogenannte Schul- oder Hoch- schulmedizin; zu dieser rechne ich auch die klassischen Naturheilverfah- ren.

Entscheidung für ein

„Maschinenmodell“

Das ursprüngliche Thema eines Ganzen galt nicht so sehr biographi- schen und sozialen Bedingungen als vielmehr der vollständigen Entität je- des einzelnen Menschen, der gleich- zeitigen Physis und Metaphysis einer Person, ehe der große René Descartes eine res extensa und eine res cogitans zu unterscheiden gelehrt hatte. Vor

zwei Jahren hatten wir seinen 400.

Geburtstag gefeiert.

Dieses ältere Modell eines Ganzen sieht hinter (meta) den sinnli- chen Erscheinungen (dem Physi- schen) weitere (metaphysische) An- teile, die mit dem Physischen eng ver- bunden beziehungsweise identisch sind; es handelt sich um ein monisti- sches Bild vom Menschen. In der Na- turwissenschaft und im öffentlichen Bewußtsein geht dieses Bild zuneh- mend verloren.

Praktische Medizin hatte sich lange gegen das Modell eines

l’homme machine (de La Mettrie, 1709 bis 1751) gewehrt, letztendlich war die moderne Entwicklung aber nicht aufzuhalten. 1841 kam es zu dem häufig zitierten Schwur der noch sehr jugendlichen E. Du Bois-Reymond (1818 bis 1896) und E. v. Brücke (1819 bis 1892), „die Wahrheit geltend zu machen, daß im Organismus keine an- deren Kräfte wirksam sind als die ge- meinen physikalisch-chemischen“.

Mit einer bis dahin gepflegten philo- sophia naturalis (zum Beispiel noch ihres Lehrers Johannes Müller) hat- ten sie nichts mehr gemein. Sympto- matisch ist aber auch die Mahnung des äußerst bedeutsamen H. v. Helm- holtz in seiner berühmten Berliner Rede von 1877 über das Denken in der Medizin, „daß auch der Materia- lismus eine metaphysische Hypothese ist“, die ein Dogma werden kann und

„dem Fortschritt der Wissenschaft ebenso hinderlich . . . wie andere Dogmen“.

Der Entscheidung für das Ma- schinenmodell und einer Konzentrati-

on klinischer Forschung auf das Sicht- und Meßbare verdanken wir die ge- waltigen Fortschritte in der Medizin;

wir werden sie nicht wieder aufgeben.

Medizin konnte Schule machen, sie wurde „Schulmedizin“ in einer unein- geschränkt positiven Wertung dieses Begriffes.

Mit dem Maschinenmodell kam es aber auch zu den bereits genannten Defiziten in der modernen Medizin.

Zu einem Verlust an Transzendenz und Spiritualität, zu der häufig be- klagten Situation des „gegenüber“

statt des „in“ der Natur. Die metaphy- sische Dimension der Natur war verlorenge- gangen. Das Faustische Element in der naturwis- senschaftlichen Neugier wird nicht mehr befrie- digt, unsere Studenten suchen jetzt in der chine- sischen Medizin zu erfah- ren, was die Welt (und den Menschen) „im In- nersten“ zusammenhält.

Wie könnte es weiter- gehen, wie gewinnen wir höhere Begriffe von der Natur, sinnhafte und Sinn stiftende Bilder, ehrliche Mythen und wahrhaftige Spiritualität für die Medizin zurück?

Für sehr viele Ärzte und für die mei- sten Patienten haben sie einen hohen Stellenwert, für manche sind sie es- sentiell.

Ganzheitliche Ansätze in der Naturheilkunde

Manche philosophische Richtun- gen lehnen eine Metaphysis prinzipi- ell ab. Dieses geschieht aber nicht mit einer grundsätzlichen naturwissen- schaftlichen Argumentation und ist keine zwingende Haltung moderner Naturwissenschaft. Auf keinen Fall steht Metaphysik in einem grundsätz- lichen Gegensatz zu moderner

„Schulmedizin“.

Ich sehe an dieser Stelle große Aufgaben und Möglichkeiten für die klassischen Naturheilverfahren. Sie haben eine Vielzahl tragfähiger und authentischer Angebote, und zwar für beide Modelle eines Ganzen und ei- ner Ganzheit. Neben ihren körperli- A-404 (32) Deutsches Ärzteblatt 95,Heft 8, 20. Februar 1998

T H E M E N D E R Z E I T KOMMENTAR

Vermittelnder Vorschlag

Über Naturheilkunde und das „Ganze“

in der Medizin

D

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chen und seelischen Wirkungen för- dern sie Selbstkompetenz und soziale Fähigkeiten des Patienten. In einem kultivierten Milieu haben sie gleich- zeitig Anteil an „höheren“ Dimensio- nen der Natur. Fangen wir mit dem Einfacheren an:

Körperliche und seelische Wir- kungen von Naturheilverfahren

Wärme und Kälte, Ruhe und Be- wegung, Haltung und Berührung, Ge- schmack und Geruch werden mit den primären Sinnesorganen wahrgenom- men. Auf sehr unterschiedliche Weise machen sie die Umwelt und den eige- nen Organismus bewußt.

Gleichzeitig werden sie auch he- donisch erlebt: Ich denke an das Woh- lige von Wärme, das Erfrischende von Kälte, das Einhüllende und das Ber- gende eines Wickels, die Herausfor- derung körperlicher Aktivität, die Ästhetik einer Bewegung und vieles andere mehr.

Wir erinnern uns: Ein Verlust an Selbstaufmerksamkeit, eine Anhedo- nie, eine reduzierte Emotionalität und eine eingeschränkte Erlebnisfähigkeit gelten heute als wichtige soziale Defi- zite und Risikofaktoren, auch für kör- perliche Erkrankungen.

Naturheilverfahren bedeuten aber noch mehr: sie sind Hilfe zur Selbsthilfe, empowerment für den Pa- tienten, sie sind wichtige Grundlagen einer Bewältigungsstrategie bei aku- ter und chronischer Erkrankung oder Behinderung. In der Mehrzahl sind sie dem medizinischen Laien durch- schaubar, sie leuchten ein. Dem Kran- ken ermöglichen sie auch eine kogni- tive Beteiligung an der Therapie. Na- turheilverfahren fördern Sozialisation und Kommunikation, sie sind Vehikel menschlicher Zuwendung und Empa- thie. Sie werden zu einer regelmäßi- gen Gewohnheit, auf einer höheren Ebene auch zu guter Sitte, zu einem Ritus und Lebensstil.

Metaphysische Ansätze in der Na- turheilkunde

Kommen wir aber zu einer Ganz- heit aus Physis und Metaphysis, bemühen wir uns um eine Spiritua- lität, ohne spiritistisch zu werden, um höhere Bilder und Begriffe von der Natur ohne billige Esoterik und ober- flächliches new age, um eine Ethik und Ästhetik, die wahrhaftig und an- spruchsvoll sind.

An anderer Stelle haben wir vor- geschlagen, Naturheilverfahren auch mit Methoden der Systemtheorie zu untersuchen (Bühring, 1997). Hier werden höhere Bedeutungen „emer- gent“, die für das übliche Bewußtsein in der Medizin verlorengegangen sind. Sie sind Themen der Medizin- und der Kulturgeschichte, der Philo- logie, der Philosophie und der Kunst.

Ein nur noch technisch verstande- nes Wasser könnte wieder zum Ele- ment der Aphrodite und des Oceanos werden, zu Mnemosyne und Lethe,

zum Fluiden unter den Elementen, zu dem Fluß, in dem Du – ach – „nicht ein zweites Mal“ schwimmst (im Westöst- lichen Diwan). In diesem Wasser schwimmt dann auch der Patient.

In der Balneotherapie gewinnt Salz die Qualitäten von sal, Schwefel reiht sich als sulphur neben die Bilder von Teufel und Tod. Heliotherapie ge- schieht mit einer Sonne, deren An- blick den Engeln Stärke gibt (im Pro- log des Faust), in der Atemtherapie wird Luft neben aer auch pneuma, Wärme ist gleichzeitig auch pepsis (Kochung) und gesunde Cholerik.

Körperliche Ertüchtigung gewinnt Vorbilder bei den antiken Heroen und in Olympia, Betrachtungen zu den Heilpflanzen und den Nahrungsmit-

teln führen zu einer Achtung und ei- ner Frömmigkeit gegenüber der Na- tur. Eine Hygiene der Tages- und Jah- reszeiten verbindet mit kosmischen Gesetzen und Gesetzmäßigkeiten.

Derartige Mythen und Bilder von der Natur sind authentisch, sie grün- den in langer Tradition und Kultur. In- sofern sind sie wahrhaftig und wahr, sie unterscheiden sich wohltuend von den Spekulationen und pseudowis- senschaftlichen Hypothesen mancher Paramedizin. Von einem wirklich

„Ganzen“ sind wir noch weit entfernt.

Metaphysis kann allenfalls erahnt werden, man könnte von einem Ro- mantisieren der Natur und ihrer Heil- mittel sprechen. Sie bringen mehrfa- ches Heil. Der eine Arzt findet hierin seine Befriedigung und seine ihm wichtige Rolle, sein Patient gewinnt ein Gefühl der Geborgenheit. Einem anderen sträuben sich die Haare ob solcher Unwissenschaftlichkeit!

Zu einem Ganzen in der naturwissen- schaftlichen Medizin

An dieser Stelle sind neue Ent- wicklungen auch in der naturwissen- schaftlichen Schule zu erkennen. Das Bild vom Menschen ist lebendiger ge- worden, neben dem Statischen wird vermehrt auch die Dynamik gesund- heitlicher Verhältnisse untersucht.

Sich selbst regulierende Prozesse, Chronobiologie und Rhythmusfor- schung, Vorgänge einer Gewöhnung und einer Adaptation gewinnen ein zunehmendes Gewicht in der Planung und Deutung von Therapie.

Pathologie sieht den Menschen auch als Teil seines Ökosystems, In- fektiologie beschäftigt sich neben dem mikrobiellen Erreger auch mit dem „Terrain“, das heißt mit den be- sonderen körperlichen und seelischen Bedingungen eines Patienten, in wel- chem sich der Erreger vermehrt. Statt einer zufällig entarteten Zelle sieht Onkologie eine Krebskrankheit des ganzen Menschen, für die immunolo- gische Abwehr werden wichtige Steu- ersysteme auch in zentralnervösen, von Psyche bestimmten Strukturen erkannt. Der Begriff einer Fitneß oder Widerstandskraft gilt gleichzei- tig für körperliche und seelische An- A-405 Deutsches Ärzteblatt 95,Heft 8, 20. Februar 1998 (33)

T H E M E N D E R Z E I T KOMMENTAR

H. v. Helmholtz sagte in seiner berühmten Berliner Rede von 1877 über das Denken in der Medizin,

„daß auch der Materialismus eine metaphysische Hy- pothese ist“, die ein Dogma werden kann und „dem Fortschritt der Wissenschaft ebenso hinderlich . . . wie andere Dogmen“. Foto: Archiv

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teile des Menschen. Insofern bedeutet das bio-psycho-soziale Modell des Menschen bereits einen großen Fort- schritt in der Medizin. Die Maschine bekommt wieder eine Seele, neben ra- tio zählt auch emotio in der Diagno- stik und Therapie, neben scientia auch eine prudentia bei den Ärzten, neben philia auch agape in dem Verhältnis zu ihren Kranken. Schulmedizin und Na- turheilkunde gehen an vielen Stellen aufeinander zu.

Warum aber tun sich diese Ver- fahren in der modernen Medizin trotzdem so schwer? Auf seiten der

„Schule“ sind sie kaum noch bekannt, oft werden sie unheilvoll mit der alter- nativen Medizin und Methoden der Außenseiter in einem Atem genannt.

Man kennt sie zu wenig, sie stellen sich zu wenig und nicht ausreichend professionell dar.

Die mangelhaften Kenntnisse bei vielen Ärzten sind sehr zu bedauern, sie enthalten den Patienten Wichtiges vor. Häufig könnten Naturheilverfah- ren die übliche Therapie sinnvoll er- gänzen, häufig wären sie sogar die bessere Alternative, oft bieten sie die einzige Möglichkeit einer sinnvollen Behandlung. Naturheilkunde und Na- turheilverfahren müssen sich ihren verlorenen Platz in der Medizin zurückgewinnen.

In ihren gleichzeitig körperli- chen, seelischen und sozialen Wirkun- gen, in ihren Traditionen und ihren Metaphern liegt ihre große Stärke, diese sind mehr als nur Plazebo. Vor kurzem haben wir eine „Europäische Gesellschaft für klassische Naturheil- kunde“ gegründet; sie soll die Ideen und die wissenschaftlichen Kräfte des alten Kontinents zusammenführen und neue Initiativen anregen. Natur- heilkunde soll der augenblicklichen Mutter und hohen Schule aller Medi- zinen – so verstehe ich den Begriff

„Schulmedizin“ – solide Anregungen und wertvolle Bereicherungen zu- führen und zurückgewinnen.

Literatur

Bühring M.: Naturheilkunde. Beck’s Wissen, München, im Druck

Prof. Dr. med. Malte Bühring

Lehrstuhl für Naturheilkunde im Uni- versitätsklinikum Benjamin Franklin und Krankenhaus Moabit

Turmstraße 21, 10559 Berlin

A-406 (34) Deutsches Ärzteblatt 95,Heft 8, 20. Februar 1998

T H E M E N D E R Z E I T KOMMENTAR/BERICHTE

ls Oswald von Nell-Breuning 1990 das ehrwürdige Alter von einhundert Jahren erreichte, wünschte er sich bezeichnenderweise, noch einmal mit einem Gleichaltrigen sprechen zu können. Damit brachte er zum Ausdruck, was auch viele andere Alte unserer Gesellschaft heute möchten, nämlich den Gedanken- und Erfahrungsaustausch mit An- gehörigen ihrer Generation.

Vergleich und Konkurrenz zu Altersgleichen

Auf der sechsten Tagung für Ge- rontopsychosomatik und Alterspsy- chotherapie* fragten Fachvertreter aus Medizin, Psychologie, Psychothe- rapie, Soziologie sowie den Pflege- und Betreuungsberufen kürzlich nach den Hintergründen dieses allgemei- nen Phänomens. Zwar sind „Gleich- heit“ und „Zugehörigkeit“ als ele- mentare Bedürfnisse des Individuums schon seit langem anerkannte Kate- gorien der Selbstpsychologie. Doch sollte nun auch gezielt danach gefragt werden, ob der innerseelische Wunsch nach einem Kontakt zur selben Gene- ration durch den Wunsch nach erleb- ter Solidarität und geteilter Lebenser- fahrung zusätzlich verstärkt wird.

Darüber hinaus sollten auch Aspekte von Vergleich und Konkur- renz mit den Altersgleichen berück- sichtigt werden, zumal die Variabilität sowohl der körperlichen als auch der psychischen und sozialen Fähigkeiten

mit zunehmendem Alter bekanntlich steigen. Obwohl es den typischen 70jährigen oder dietypische 80jährige nicht gibt, scheint sich das Zugehörig- keitsgefühl zur eigenen Altersgruppe doch spontaner einzustellen als zu al- len anderen Altersgruppen, zumin- dest außerhalb der Familie.

Die Tagung, die die Bedeutung einer Beziehung des Menschen in der zweiten Hälfte des Erwachsenenle- bens zur eigenen Generation und zu den nachfolgenden Generationen für ein sicheres Identitätserleben und die psychische Gesundheit zu klären ver- suchte, bot den Teilnehmern ein kom- petentes interdisziplinäres Forum.

Die fachliche Querschnittsperspekti- ve psychosomatischer Aufgabenstel- lungen bei Menschen jenseits des 60.

Lebensjahres wurde bereits durch die Gruppe der Veranstalter deutlich, in der G. Heuft (Fachgebiet Psychoso- matische Medizin und Psychothera- pie), A. Kruse(Lehrstuhl für Geron- tologie, Universität Heidelberg), H.

G. Nehen(Innere Medizin/Geriatrie, Essen) und H. Radebold(Psychothe- rapie alter Menschen, Universität Kassel) vertreten waren.

Psychotherapie affektiver Störungen

Übereinstimmend wurde festge- stellt, daß die psychotherapeutische Behandelbarkeit alter Menschen bei akuten psychoneurotischen (affekti- ven) Störungen zwischenzeitlich als gut belegt gelten kann. Das Indikati- onsspektrum reicht von fokalthera- peutisch konzipierten kürzeren Be-

Lebenszufriedenheit

Neue Beziehungen bis ins hohe Alter

Wissenschaftler unterschiedlicher Fachrichtungen trafen sich kürzlich zu einer Arbeitstagung für Gerontopsychosomatik und Alterspsychotherapie. Diskutiert wurden das Thema

„meine“ Generation und die intragenerative Perspektive.

A

* An der Klinik für Psychotherapie und Psy- chosomatik des Universitätsklinikums Essen

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handlungen über verhaltenstherapeu- tische Verfahren bis hin zu längerfri- stigen psychoanalytischen Therapien.

Außerdem konnte in den letzten Jah- ren auch die Effektivität multimoda- ler stationärer psychosomatischer Be- handlungen über sechs beziehungs- weise 12 Wochen bei Patienten zwi- schen 60 und 80 Jahren mit einer der stationären Indikation entsprechen- den hohen psychogenen Beeinträchti- gung gezeigt werden. Gerade in der primärärztlichen Versorgung besteht die Notwendigkeit, bei neu auftreten- den Körpersymptomen, die sich orga- nisch nicht erklären lassen, auch im Alter an eine funktionelle oder Soma- tisierungsstörung zu denken.

Mit dem Wunsch nach einem Ge- danken- und Erfahrungsaustausch mit Gleichaltrigen wird gleich-

zeitig eine wesentliche Ent- wicklungsaufgabe im Le- benslauf deutlich: die Not- wendigkeit, bis ins hohe Al- ter auch neue Beziehungen einzugehen. In ihrem Einlei- tungsreferat entwickelte E.

Minnemann (Amsterdam) die verschiedenen Ebenen des Generationsbegriffes:

die Gesellschaftsgeneration mit gemeinsamer Geschich- te (Makroebene), die Orga- nisationsgeneration (Meso- ebene) und die Familienge- neration (Mikroebene).

Der Austausch auf al- len drei Ebenen scheint für

den einzelnen wichtig, wobei die Re- ferentin – wie auch U. Kleinemas (Bonn) – eine pointierte Kritik al- tersbezogener Vorurteile der oft jün- geren Behandler gegenüber ihren al- ten Patienten vortrug. So werden et- wa bei der Diskussion des materiel- len Transfers zwischen den Genera- tionen oft die Belastungen der Sozi- alversicherungen genannt, ohne bei einer gesamtökonomischen Analyse den Transfer von Geldgeschenken und Erbschaften zu erwähnen. Das (verschämte?) Verschweigen solcher Aspekte verweigert den heute alten Menschen oft auch eine entspre- chende Anerkennung. Die Verbrei- tung unrealistischer Altersbilder bei der jüngeren Generation hat nach- weislich negative Auswirkungen auf die gelebten Potentiale und die Be-

reitschaft älterer Menschen, neue Aufgaben mit Zuversicht anzuge- hen. Neben einer kritischen Reflexi- on der entsprechenden Medienbe- richte scheinen Begegnungsprojekte eine größere Dialogbereitschaft für alle beteiligten Generationen zu för- dern.

Schicksal der eigenen Kinder und der Enkel

Bekanntermaßen ist für alte Menschen das Schicksal der eigenen Kinder oder Enkel von zentralem In- teresse. Im Leben der nachfolgenden Generation spiegelt sich viel von der eigenen Hoffnung und dem, wofür man sich ein Leben lang eingesetzt

hat. G. Schneider (Essen) wies nach, daß die Beziehung zu Gleichaltrigen von mindestens ebenso großer Be- deutung ist. Der lebendige Kontakt zu Angehörigen der eigenen Generation wirkt sich unmittelbar auf die Lebens- zufriedenheit alter Menschen aus. Da- bei werden die Kontaktmöglichkeit und das Zugehörigkeitsgefühl zur eigenen Generation ausführlichen biographischen Studien zufolge be- reits in der Jugend eingeübt. Was in jungen Jahren im Umfang mit Ge- schwistern, Mitschülern oder Arbeits- kollegen erlebt wird, bestimmt oft auch die Form des Umgangs mit den eigenen Altersgenossen.

Außerfamiliäre Bindungen er- möglichen ein hohes Maß an Sinnhaf- tigkeit und geistigem Austausch. Um diesen Austausch zu fördern, schlug

F. Eckert (Heidelberg) den verstärk- ten Einsatz gruppentherapeutischer Behandlungskonzepte bei alten Pati- enten vor. Die Bedeutung der dabei stets thematisierten „Geschwister- ebene“ wurde auch von I. Fooken (Siegen) besonders unter dem Ge- sichtspunkt betont, daß die Geschwi- sterbeziehungen im höheren Lebens- alter oft wieder reaktiviert werden.

Geschwisterbeziehungen sind Teil ei- ner lebenslangen Identität. Diese scheinen um so wichtiger, als Tenden- zen zu abschnitthaften Beziehungen (etwa als Lebensabschnitt-Partner- schaften) einer drohenden sozialen

„Entwurzelung“ Vorschub leisten.

Den in diesem Kontext virulenten Aspekt einer notwendigen Weiterent- wicklung präzisierte H. G. Nehen(Es- sen) mit dem Konzept einer Tertiären Sozialisation. Ei- nigkeit bestand in der Dis- kussion darüber, daß die Einflußfaktoren, die eine Tertiäre Sozialisation und damit die Erhaltung von Kompetenzen, den Neuer- werb von Fähigkeiten und die Lebenszufriedenheit be- günstigen, noch nicht hin- reichend bekannt sind.

Für die Berichterstat- tung auf dem Deutschen Ärztetag 1998 hat die Bun- desärztekammer eine Ar- beitsgruppe „Gesundheit im Alter“ berufen, die unter anderem auch die erfolg- reichen Möglichkeiten psychosoma- tisch-psychotherapeutischer Behand- lungsverfahren bei alten Menschen berücksichtigen und vor dem Hinter- grund dieser neuen Forschungsergeb- nisse erläutern wird.

Anschriften der Verfasser

Priv.-Doz. Dr. med. Gereon Heuft Ltd. Oberarzt der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie Universitätsklinikum Essen Virchowstraße 174

45147 Essen

Dr. phil. Burkhard Dietz

Geschäftsführung der Bundesärzte- kammer, Dezernat Fortbildung und Gesundheitsförderung Herbert-Lewin-Straße 1 50931 Köln

A-407 Deutsches Ärzteblatt 95,Heft 8, 20. Februar 1998 (35)

T H E M E N D E R Z E I T BERICHTE

Das Schicksal der Kinder und Enkelkinder ist für alte Menschen von zentralem In- teresse. Große Bedeutung haben jedoch auch die Beziehungen zu Gleichaltrigen.

Foto: Hansa-Press

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