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Archiv "Psychogen - ?" (24.07.1985)

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EDITORIAL

Psychogen ?

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enn der Arzt bei einem Patienten keinen Befund erhebt, der zur Erklä- rung der Beschwerden aus- reicht, denkt er an eine „seeli- sche Verursachung". Die heuti- ge Medizin ist nicht mehr allein somatisch ausgerichtet, sie weiß auch von der Seele des Menschen.

„Psychogen" ist ein geläufiger medizinischer Begriff. Er be- deutet im heutigen Sprachge- brauch recht genau das, was die wörtliche Übersetzung be- sagt: aus der Seele entstanden.

Solches Denken aber ist aus mehreren Gründen proble- matisch. Die Vorstellung „psy- chogen" entspricht der organ- bezogenen, objektivierenden, kausalistischen Denkweise der Medizin. Diese soll hier be- stimmt nicht an sich in Frage gestellt werden, sie hat sich bewährt und wesentlich zu den großen Erfolgen der modernen Medizin beigetragen. Aber sie ist bekanntlich ergänzungsbe- dürftig. Das ärztliche Denken und Handeln ist nicht allein or- ganbezogen. Denn der Mensch ist auch Subjekt. Diese Denk- weise, die der Internist V. von Weizsäcker in die Medizin ein- führte, hat die ärztliche Arbeit zum Nutzen des Patienten we- sentlich erweitert. Der Mensch hat nicht eine Seele (wie er ei- ne Leber oder Schilddrüse hat), sondern er ist Person mit einem beseelten Leib.

Aber hier soll nicht weiter an- thropologisch, sondern klinisch argumentiert werden. „Psycho- gen" ist aus weiteren Gründen ein irreführender Begriff. Seeli- sches ist immer beteiligt, beim gesunden wie beim kranken Menschen. Das erscheint selbstverständlich, wird aber in der Medizin nicht genügend berücksichtigt. Bei einer Angi- na oder Grippe, nach einem Beinbruch oder bei akuter

lschialgie verändert sich die Si- tuation des Betroffenen als- bald, er erlebt sich und seine Umweltbeziehungen anders, er wird abhängig von anderen Menschen und versäumt man- ches, so daß Sorgen und Äng- ste auftreten. In solcher Situa- tion kommt es leicht zur Über- bewertung vorhandener Be- schwerden oder zu verstärkter Wahrnehmung banaler funktio- neller Störungen, die sonst kaum beachtet würden. Das al- les ist bekannt. Aber sollte man bei solchen Reaktionen von ei- ner „psychogenen" Störung sprechen? Gewiß nicht, wenn man von der selbstverständ- lichen Tatsache ausgeht, daß der Mensch ein erlebendes und handelndes und somit auch auf Krankheit reagieren- des Wesen ist.

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ranksein ist praktisch nie auf Seelisches allein zu- rückzuführen. Das hat die psychosomatische Forschung dargelegt, das zeigt sich täg- lich in der Sprechstunde. Auch wo Psychoreaktives unverkenn- bar ist, stößt die Untersuchung doch in der Regel auf einen

„organischen Kern", der natür- lich nicht alles erklärt, aber das Etikett „psychogen" verbietet.

Und auch bei rein funktionellen Störungen muß bedacht wer- den, daß sie sich an einem or- ganischen Substrat abspielen.

Bei funktionellen Magenbe- schwerden ist die glatte Mus- kulatur des Magens beteiligt, bei Spannungskopfschmerz das zerebrale Vasomotorium.

Entsprechendes ist von gynä- kologischen, urologischen und anderen funktionellen Be- schwerden zu sagen. Die Er- fahrung lehrt: Gerade wenn ein Arzt betont von „psychogen"

spricht, blieb nicht selten eine organische Krankheit uner- kannt. Aber auch im übrigen ist diese Redeweise ebenso miß- verständlich wie „psychisch überlagert" oder „psychisch unterlagert". Solche topogra- phischen Formulierungen sind

den menschlichen Reaktions- weisen nicht angemessen. Aus weiteren Gründen sollte man dem Patienten nicht seine an- gebliche Psychogenese auf den Kopf zusagen. Eine solche Mitteilung wird von den mei- sten Patienten ungünstig auf- gefaßt. Der Kranke versteht das etwa so: meine Beschwerden sind also grundlos und einge- bildet, der Arzt sieht in mir ei- nen Versager oder noch schlimmer: einen Simulanten;

ich bin also nicht krank, son- dern nur psychogen.

Man sage nicht, der Patient verstehe das falsch. Wenn er sich durch die unvermittelte Konfrontation mit der Diagnose

„psychogen" diskriminiert fühlt, versteht oder ahnt er die Denkweise des Arztes, der sol- ches Kranksein nicht für echt hält und entlarven will. Psycho- gen klingt heute ähnlich ab- schätzig wie früher hysterisch oder psychopathisch.

Einen Kranken so anzuspre- chen, ist auch untherapeutisch.

Oft spiegeln funktionelle Be- schwerden oder Symptome ein schmerzliches Erleben wider.

Solche Umsetzungen vom See- lischen ins Körperliche (Kon- versionsreaktionen) geschehen unbewußt. Daher ist der Patient überzeugt, körperlich krank zu sein. Wenn ihn nun der Arzt mit „Psychogenese" konfron- tiert, kann der Patient diese Deutung nicht akzeptieren, er muß sie ablehnen und abweh- ren. Eine Folge ist, daß er sich noch mehr auf sein Symptom fixiert. Danach wird der Patient nicht wieder mit dem Arzt hier- über sprechen, er wird sich be- schämt, resigniert oder verär- gert zurückziehen, vielleicht auch den Arzt wechseln. Und schlimmer noch: der Patient wird abgeschreckt, sich auf ei- ne Behandlung einzulassen, die angebracht wäre. Mancher reagiert mit Rationalisieren („Meine Beschwerden sind ja psychisch ... "), was einer The- rapie im Wege steht.

2188 (54) Heft 30 vom 24. Juli 1985 82. Jahrgang Ausgabe A

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ie aber soll sich der Arzt in solchen Situationen verhalten? Am besten vermeidet er überhaupt ab- strakte Ausführungen und dia- gnostische Etiketten. Wenn er überwechselt von dem objekti- vierenden Diagnostizieren zu dem Umgang mit dem kranken Menschen als Subjekt, braucht er hierfür keine Erklärungen (zum Beispiel über Psychoge- nese) abzugeben, sondern er wird zunächst hinhören und zu verstehen versuchen, um dann behutsam auf mögliche Bezie- hungen zwischen Leben und Erleben des Patienten einer- seits und andererseits Be- schwerden und Symptomen einzugehen. Dabei kann er for- mulieren: Was meinen Sie selbst ... ? Wenn ich Ihre Si- tuation bedenke, dann ...

Wenn ich höre, was Sie eben über den Beginn Ihrer Be- schwerden sagten, wann Ihre Beschwerden jeweils zuneh- men oder zurücktreten ...

usw. Die Fortsetzung dieser Gedankengänge sollte man dem Patienten möglichst selbst überlassen. So wird das Selbst- wertgefühl des Patienten ge- schont, und er wird zur Intro- spektion angeleitet. Denn mehr noch als der Arzt muß der Pa- tient selbst die Zusammenhän- ge sehen und lernen. Auf diese Weise gewinnt der Arzt weiter- reichende diagnostische Infor- mationen, so daß er nicht mehr nur auf das Etikett „psychoge- ne Beschwerden" angewiesen ist, sondern zum Beispiel sa- gen kann, daß ein Erschöp- fungssyndrom und psychove- getative Beschwerden nicht nur auf beruflichen Streß, son- dern mehr noch auf eine per- sönliche Konfliktsituation des Patienten zurückzuführen sind.

Ein derartiges ärztliches Ge- spräch hat nicht nur diagnosti- sche Funktion, es kann auch therapeutisch nützlich sein:

wenn der Patient sich verstan- den fühlt und sich selbst zu verstehen beginnt, sieht er ei-

nen neuen Weg und wird von Ängsten entlastet; wenn der Patient, der zunächst nur seine Beschwerden im Sinn hatte, auf sich selbst hingelenkt wird, können die Beschwerden allein hierdurch schon zurücktreten.

Man braucht also gar nicht von

„psychogen" zu sprechen, son- dern kann ohne eine solche

„Überschrift" das ärztliche Ge- spräch mit dem Patienten auf- nehmen. Welche Termini sind aber nun zu benutzen, wenn der Patient irgendwann doch nach der Auffassung des Arztes fragt oder wenn einem anderen Arzt eine Diagnose mitgeteilt werden soll? Die Beschwerden oder Beschwerdenanteile, von denen hier die Rede ist, sind am besten als funktionelle Be- schwerden zu bezeichnen. Die

Genese der Beschwerden ist sinnvoll mit Worten wie situa- tiv, psychoreaktiv oder konflikt- bedingt zu benennen (neuro- tisch ist hingegen eine speziel- lere Bezeichnung für bestimm- te Krankheitsbilder).

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s soll aber nicht verschwie- gen werden, daß „psycho- gen" gelegentlich auch in der Fachsprache auftaucht.

Das ist historisch zu verstehen.

Psychogene Krankheiten wur- den zunächst die Neurosen ge- nannt, von den 30er Jahren ab auch die psychosomatischen Krankheiten. Heute ist „psy- chogene Krankheit" nicht mehr wörtlich gemeint, sondern le- diglich ein Arbeitsbegriff, ähn- lich wie der obsolete Begriff

„endogene Psychose". Beide Termini sind so mißverständ- lich, daß sie aufgegeben wer- den müssen.

Wann aber ist das skizzierte ärztliche Gespräch ange- bracht? Gewiß nicht nur, wenn alle somatischen Untersuchun- gen befundlos blieben. Denn Diagnosen per exclusionem sind bekanntlich nicht die be- sten, ganz abgesehen vom Auf- wand. Und natürlich sind nicht bei allen Beschwerden, die auf den ersten Blick unerklärbar

erscheinen, psychophysische Wechselbeziehungen und psy- choreaktive Mitbedingungen anzunehmen. Hierfür gibt es einige diagnostische Signale:

zunächst die Art der Beschwer- den: Wie, wo und wann sich die Beschwerden äußern, gibt dem erfahrenen Arzt schon ge- wisse Hinweise, zum Beispiel bei funktionellen Herzbe- schwerden*). Sodann sind in der Anamnese zeitliche Zusam- menhänge zwischen belasten- den Lebenssituationen und Be- ginn der Beschwerden wichtig.

Am meisten ist aus dem Ver- halten des Patienten zu schlie- ßen: wenn er besonders auffäl- lig seine Beschwerden hervor- hebt oder aber bagatellisiert, wenn er in ungewöhnlichem Maße besorgt und ängstlich ist, wenn er seiner Beschwerden wegen bestimmte Situationen meidet oder anstehende Ent- scheidungen hinausschiebt, wenn sein Leidenszustand eine feste Größe im familiären Zu- sammenleben darstellt — diese und ähnliche Beobachtungen legen das ärztliche Eingehen auf die Person des Kranken nahe.

Literatur

Kuiper, P. C.: Die seelischen Krankheiten des Menschen. 5. Aufl. Stuttgart: Klett 1980 — Meerwein, F.: Das ärztliche Ge- spräch. Grundlagen und Anwendungen.

2. Aufl. Bern—Stuttgart—Wien: Huber 1974

— Tolle, R.: Psychiatrie. 6. neu verfaßte und erweiterte Aufl. Springer: Berlin—Hei- delberg—New York 1982

Professor Dr. med.

Rainer Tölle

Psychiatrische Klinik der Universität Münster Albert-Schweitzer-Straße 11 4400 Münster

*) Siehe dazu auch: Kröger, F.; Hahn, P.;

Senges, J.: Funktionelle Herzbe- schwerden (I), Probleme der Abgren- zung: Somatisch — psychisch — psy- chosomatisch? Deutsch. Arztebl. 82, Heft 27 (1985)

Ausgabe A 82. Jahrgang Heft 30 vom 24. Juli 1985 (55) 2189

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