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Archiv "High Heels: Gut zu Fuß oder dumm gelaufen?" (24.05.2013)

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und behindert den physiologischen Gangablauf, um den weiblichen Körper in ein scheinbar erotisches Zeichen zu transformieren. Der Ausdruck weiblicher Sexualität ge- friert in der vorgefertigten Schablo- ne zum kollektiven Trugbild. Auf hohen Absätzen durch die Fußgän- gerzone zu stöckeln, entspricht nicht der weiblichen Natur.

Wenn eine Frau im 21. Jahrhun- dert dem Bild attraktiver Weiblich- keit entsprechen will, muss sie ihre Füße in einem Schraubstock zu- sammengepresst auf die Zehenspit- zen stellen. So verliert der Fuß sei- ne grundlegende physiologische Funktion, wird das Zusammenspiel von tragendem Knochengerüst, Muskelkraft, Blutversorgung und sensiblem Nervengeflecht tiefgrei- fend gestört. Im Zehenstand fixiert und in eine angeblich schöne Form gepresst, wird die anatomische Struktur der Frauenfüße destabili- siert und langfristig irreversibel de- formiert. Pathogene Veränderungen der Fußstatik und der Gangparame- ter lassen sich in biomechanischen Funktionsanalysen nachweisen.

Hoher Absatz und enge, kurze Passform typischer Damenschuhe beeinträchtigen nicht nur die Funk- tion der Fußgelenke, sondern sie be- lasten ebenso auch die Kniegelenke, Hüftgelenke und die Wirbelsäule.

Die Belastung und eingeschränkte Beweglichkeit in engen, zu kurzen Schuhen führt zu einem Spreizfuß und schmerzhaften Zehendeformi- täten, wie Hallux valgus und Ham- merzehen. Beidseitige Arthrosen im Kniegelenk sind bei Frauen fast doppelt so häufig wie bei Männern.

Eine plausible Erklärung dafür lie- fern biomechanische Untersuchun- gen, die ergaben, dass auch beim

D

ie typisch weibliche Fußbe- kleidung ist als Schuh eine Fehlkonstruktion und im Gebrauch eine Fußfessel. Um misshandelte Frauenfüße aus ihrer kulturge- schichtlichen Zwangslage zu be- freien, müssen wir die „mythische Aussage“ dechiffrieren und ihre scheinbar selbstverständliche eroti- sche Bedeutung als eine zum Zei- chen erstarrte Pose schmerzhafter Unbeweglichkeit verstehen.

In seiner „Beantwortung der Fra- ge: „Was ist Aufklärung?“ sorgte sich Immanuel Kant auch um das selbstständige Denkvermögen des ganzen schönen Geschlechts: Der Gängelwagen, ein Lauflerngerät für Kinder im 18. Jahrhundert, dient Kant hier als Bild für die Unselbst- ständigkeit des Denkens, und die Fähigkeit „allein zu gehen“ wird in Analogie zum eigenständigen Den- ken gebraucht. Von Fußschellen ei- ner „immer währenden Unmündig- keit“ ist weiter die Rede: „Wer sie auch abwürfe, würde dennoch auch über den schmalsten Graben einen unsicheren Sprung tun, weil er zu dergleichen freier Bewegung nicht gewöhnt ist.“

Wenn wir nun im Umkehrschluss und aus heutiger Sicht vom weibli- chen Gang auf die Fähigkeit zum eigenständigen Denken schließen würden, wie stünde dann das ganze schöne Geschlecht heute da? Mich reizt ein Versuch, das selbstständige Denken vom (metaphorischen) Kopf auf real existierende Frauen- füße zu stellen. Ganz im Gegensatz zur uneingeschränkten, grundge- setzlich garantierten Bewegungs- freiheit weiblicher Gedanken, wer- den die Füße des „ganzen schönen Geschlechts“ heute tatsächlich durch Fußschellen an ihrer artge- rechten Bewegung gehindert.

Die positiven Attribute, die dem Frauenschuh zugesprochen werden, stehen im eklatanten Gegensatz zu seiner tatsächlichen pathogenen Wirkung. Der hohe Absatz fixiert den deformierten Fuß in einer schmerzhaften Pose, destabilisiert

High Heels – Fußschel- len einer immerwähren- den Unmündigkeit

HIGH HEELS

Gut zu Fuß oder dumm gelaufen?

Die heilsame Dekonstruktion eines alltäglichen Mythos

Foto: Fotolia/Sven Vietense

Deutsches Ärzteblatt

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Jg. 110

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Heft 21

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24. Mai 2013 A 1051

K U L T U R

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A 1052 Deutsches Ärzteblatt

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24. Mai 2013 Gang auf scheinbar bequemen, brei-

ten, mäßig erhöhten Absätzen (wie sie von Frauen regelmäßig getragen werden) die Drehmomente im Knie- gelenk im Vergleich zum Barfußge- hen signifikant erhöht sind. In der Praxis machen Orthopäden häufig die Erfahrung, dass ihre Patientin- nen den Zusammenhang zwischen ihren Fußproblemen und der Form ihrer Schuhe gar nicht wahrnehmen.

Die Tatsache, dass der Vorfuß ex- trem zusammengepresst werden muss, um in den Schuh hineinge- zwängt zu werden, ist den meisten Frauen nicht bewusst.

Das Schönheitsideal der kleinen, zierlichen Frauenfüße lässt sich weit in der Kulturgeschichte zu- rückverfolgen und erreichte im so- genannten chinesischen Lotusfuß einen traurigen Höhepunkt. Bereits im 13. Jahrhundert war in China die Sitte weit verbreitet, die Füße klei- ner Mädchen durch Verletzungen und Bandagen so zu verkrüppeln, dass sie in winzige, zehn bis 13 Zentimeter lange spitze Schuhe hin - einpassten. Diese als „Lotus“ be- zeichneten Füße, auf denen Frauen nur unter Schmerzen gehen konn- ten, galten ebenso wie der unsicher tippelnde Gang als erotisch und wa- ren eine Voraussetzung für die stan- desgemäße Verheiratung des Mäd- chens. Erst nach Gründung der Volksrepublik China (1949) been- dete ein Verbot der Regierung all- mählich diese systematische Ver- stümmelung weiblicher Füße.

In der westlichen Zivilisation ist das Ideal der kleinen zierlichen Frauenfüße bis heute wirksam. Als ein besonderer Vorzug hoher Absät- ze wird häufig angeführt, sie wür- den den Fuß optisch verkürzen.

Ganz unabhängig von der tatsächli- chen Schuhgröße ist das Missver- hältnis zwischen dem vorgegebe- nen Idealbild kleiner Füße und der eigenen (scheinbar immer unpas- senden) körperlichen Realität beim Schuhkauf eine alltägliche weibli- che Erfahrung, die nicht dem (un- physiologisch geformten) Schuh, sondern den eigenen Füßen ange- lastet wird. Denn die Form angeb- lich schöner Damenschuhe igno- riert die anatomischen Gegebenhei- ten unserer Füße vollständig.

Erst in der bürgerlichen Gesell- schaft des 19. Jahrhunderts wurde der Schuh zu einem geschlechtsspe- zifischen Kleidungsstück, wohinge- gen er in den Jahrhunderten zuvor vor allem Standesunterschiede zum Ausdruck brachte. Zierliche Schuhe mit hohen Absätzen führte Ludwig XIV. (1638–1715) für Männer und

Frauen im Zeitalter des Barocks ein. Sie blieben beim weiblichen Geschlecht meist unter langen Rö- cken verborgen. Männer dagegen zeigten gern viel Bein, wie Ludwig XIV. im Krönungsornat (1702) auf hohen Absätzen, die als Zeichen des Adels rot waren.

In der Französischen Revolution (1789–1792) verschwanden mit den ständischen Privilegien auch die hohen Absätze unter den Schu- hen. Damen und Herren trugen in der Zeit des Direktoriums (1795–

1799) und im Kaiserreich Napoleon I.

dünnsohlige Escarpins, flache Slip- per aus Stoff oder dünnem Leder, die Vorbilder der heutigen Balleri- nas. Im sogenannten zweiten Roko-

ko um 1850 kehrte der hohe Absatz unter den Schuhen zurück, jetzt al- lerdings ausschließlich als ein Merkmal weiblicher Fußbeklei- dung. Männerschuhe erhielten die auch gegenwärtig noch gültige Form praktischer Schnürstiefel und Halbschuhe.

Heute nehmen wir die barocke Körperinszenierung Ludwig XIV., die das schlanke Bein und den zier- lich beschuhten Fuß auf hohen Ab- sätzen hervorhebt, als typisch weib- liche Körperhaltung wahr. Sie be- stimmt unsere Vorstellung von at- traktiver Weiblichkeit und prägt die Körperwahrnehmung einer Frau im 21. Jahrhundert, die sich mit diesem Körperbild identifiziert. Warum wird ein ursprünglich männliches Körperbild, das einer barocken Le- bensform des Müßiggangs ent- sprach, heute von Frauen tradiert?

Dieses Körperideal basiert auf dem Mythos einer als typisch weiblich geltenden Fußbekleidung, und es steht ganz offensichtlich im Wider- spruch zu der Bewegungsfreiheit, die sich Frauen seit dem 19. Jahr- hundert im gesellschaftlichen Le- ben erkämpft haben.

Wichtig erscheint es, dass frau die eigene Wahrnehmung und das selbstständige, weibliche Denken von einem deformierenden Mythos auf real existierende Frauenfüße stellt. Ein reizvolles Beispiel weib- licher Gangart ist auf dem abgebil- deten Aglauriden-Relief (Vatikani- sche Museen) zu sehen. Ein grie- chischer Künstler zeigt (um 400 vor Christus) die anmutige Bewegung einer schreitenden jungen Frau. Der Fuß des Standbeins (links) ist flach auf den Boden aufgesetzt, während der Fuß des Spielbeins (rechts) schon bis auf die Zehen abgehoben ist, um im nächsten Moment nach vorn aufgesetzt zu werden.

Dieser Blick in die Kulturge- schichte macht deutlich, dass die Vorstellung vom attraktiven weibli- chen Körper zeitbedingt und daher veränderbar ist, und dass es durch- aus ein alternatives weibliches Kör- perbild gibt, das die weibliche Be- wegungsfreiheit nicht einschränkt und sich dann auch von Kopf bis

Fuß gut anfühlt.

Renate von Strauss und Torney Ein reizvolles

Beispiel weibli- cher Gangart auf dem Aglauriden- Relief (um 400 vor Christus)

Foto: Wikimedia Commons

K U L T U R

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