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Ethnographie des Burgentourismus in Süddeutschland : Forschungsbericht der Teilgruppe Ethnographie im Rahmen des Projektseminars Tourismus von Prof. Dr. Bernhard Giesen (WS 06/07)

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Academic year: 2022

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Forschungsbericht der Teilgruppe Ethnographie

im Rahmen des Projektseminars Tourismus von Prof. Dr. Bernhard Giesen (WS 06/07)

vorgelegt von

Katrin Alle Lisa Kühn

Iris Braun Emina Lagumdzija

Daniel Brenner Tobias Luchsinger

Cristina Gassmann Christina Martin

Gerold Gerber Sebastian Mütz

Suzanne Glocker Dajana Richter

Sabrina Jurchen Viktoriya Skrypchenko

Andrea Kaifel Stefanie Troll

Katharina Koch Stefan Vogel

Sebastian Krämer Jolanda Wehinger

Universität Konstanz

Lehrstuhl Prof. Dr. Bernhard Giesen Fachbereich Geschichte und Soziologie Universitätsstr. 10

Postfach 5560 D-78457 Konstanz

Konstanzer Online-Publikations-System (KOPS) URL: http://www.ub.uni-konstanz.de/kops/volltexte/2007/2811/

URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:352-opus-28111

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort (Gerold Gerber) 1

1 Einleitung 4

2 Kulturtheoretische Überlegungen zum Burgentourismus 8

2.1 Tourismus als Passageritual und Rituale des Tourismus 8 2.2 Fragestellung: Wie wird touristische Wirklichkeit hervorgebracht? 11

3 Methodologie 14

3.1 Die Krise der ethnographischen Repräsentation 14

3.2 Qualitative Sozialforschung 15

3.3 Grounded Theory 17

4 Datenerhebung und -aufbereitung 19

4.1 Die Registrierung sozialer Dramen (Foto, Film, Gespräche, Interviews) 19 4.2 Feldforschung auf Burg Hohenzollern und auf der Meersburg 24

4.3 Audioschnitt, Videoschnitt, Transkription 27

5 Datenauswertung 31

5.1 Kategoriensystem 31

5.2 Tourismus zwischen Ordnung und Chaos 33

5.3 Tourismus zwischen Fakt und Fiktion 47

5.4 Tourismus zwischen Ernst und Spiel 64

6 Schluss: Die Unhintergehbarkeit des Alltags 76

7 Bibliographie 79

Anhang 1: Feldforschungstagebuch Burg Hohenzollern Anhang 2: Feldforschungstagebuch Meersburg

Anhang 3: Dateninventar (195 soziale Dramen) Anhang 4: 25 ausgewählte soziale Dramen Anhang 5: Transkriptionsvereinbarungen

Anhang 6: Die Konstruktion touristischer Wirklichkeit durch Blicke, Gesten und Posen

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Vorwort

Gerold Gerber

„Ich sage euch: man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können.

Ich sage euch: ihr habt noch Chaos in euch.“

(Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra)

Untersuchungen „des“ Tourismus haben stets mit dem Vorwurf zu kämpfen, Touristen seien nicht gleich Touristen. Gewiss lässt sich fragen, was den „Ballermann“-Urlauber auf Mallorca mit dem „Studiosus“-Reisenden in Weimar verbindet. Es ist jedoch gerade das Ziel der Kul- tur- und Sozialwissenschaften, allgemeine Aussagen zu treffen. Die vorliegende empirische Studie versucht dies für den Burgentourismus in Süddeutschland, der als eine Mischung aus Kulturtrip, Wandertag und Familienausflug betrachtet werden kann. Ihre Stellung innerhalb des von Prof. Giesen geleiteten Projektseminars Tourismus, das sich die Frage stellte, wie touristische Wirklichkeit hervorgebracht wird, bezieht die Studie aus der Zwischenlage ihres Forschungsgegenstandes. Nach der Vorbereitung einer Reise, etwa durch den Kauf eines Rei- seführers (Gruppe von Dr. Christoph Schneider), und vor ihrer Nachbereitung, zum Beispiel durch das Herumzeigen von Fotos (Gruppe von Dr. Valentin Rauer) oder durch Internet- Reiseberichte (Gruppe von Mark Weißhaupt), durch die das Erlebnis, quasi ex post, erst kon- struiert wird, kommt das eigentliche Reisen. Diesem Tun des Reisens, der gelebten und vib- rierenden Praxis des Tourismus also, wendet sich die von mir betreute Teilgruppe Ethnogra- phie in dieser Untersuchung zu.

Die Idee für dieses Projekt entstand bei einem Ausflug auf Burg Hohenzollern, den ich am 1.

September 2006 zusammen mit meiner Frau und einer Freundin aus Vorarlberg unternommen habe. Zum Spaß habe ich einfach mal das Mikrofon in die Menge gehalten. Schnell wurde dabei die Bedeutung von Kindern deutlich. Frei nach Pippi Langstrumpf machen sie sich die Welt, „widdewidde wie sie ihnen gefällt“, indem sie zwischen Realität und Fiktion kaum trennen. Während Kinder noch genug Chaos in sich haben, um tanzende Sterne zu gebären, und dafür eigentlich auch keinen Tourismus brauchen, scheinen Erwachsene mehr Probleme zu haben mit der Wiederverzauberung der Welt. Als wir auf der Freitreppe auf die Burgfüh- rung warteten, hielt ein kleines Mädchen staunend die Burgführerin am Eingangstor für ein

„Burgfräulein“. Kaum wollte sie sich ihren kindlichen Fantasien hingeben, wurde sie von

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ihrer Tante in die Wirklichkeit der Erwachsenen zurückgeholt. Sie desillusionierte ihre Nich- te, indem sie betonte, dass die Frau, die da oben Tickets kontrollierte, keineswegs ein Burg- fräulein sei, dass sie auf der Burg „arbeite“, und dass es in Deutschland ohnehin „keine Köni- ge und Königinnen mehr gebe“. Im Verlauf unserer Untersuchungen stellte sich heraus, dass dies nur ein besonders prägnantes Beispiel für den Einbruch des Alltags ins Fest war, den wir noch häufig feststellen konnten. Damit freilich setzt die vorliegende Studie ein Fragezeichen hinter eine zentrale These der jüngeren Tourismusforschung. Dean MacCannell (1976) und Jeremy Boissevain (1989), der Ethnologe Maltas, rückten bekanntlich das Reisen moderner Menschen in die Nähe des Heiligen. So schreibt der Toskana-Kenner Christoph Hennig in seinem lesenswerten Buch Reiselust (1997:79): „Reisen, Ritual und religiöse Erfahrung ste- hen in einer systematischen Beziehung. Sie rührt aus dem Bruch mit dem gewöhnlichen Le- ben her, der gleichermaßen die Reise wie das spirituelle Erleben kennzeichnet. In beiden Formen wird der Alltag transzendiert“. Dieser Idee, wonach Touristen reisen, um jenseits des Alltags an einem anderen Ort „die Verdichtung des idealen Lebens“ zu erleben, wie es Bern- hard Giesen formulierte, folgten auch wir in unserem Projektseminar. In den von uns auf Burg Hohenzollern und auf der Meersburg aufgenommenen Gesprächen und Interviews manifes- tierte sich jedoch so viel Banales und Profanes, dass wir zu der These der Unhintergehbarkeit des Alltags auch im Tourismus gelangten. Es könnte indes sein, dass dieses Ergebnis unserer Fokussierung auf das gesprochene Wort geschuldet ist. Bilder, die wir zwar aufgenommen haben, aber aus Zeitmangel zu wenig unter die Lupe nehmen konnten, scheinen nämlich eine andere Sprache zu sprechen. Unter Verwendung von Susanne Langers (1984) Unterscheidung zwischen diskursivem und präsentativem Symbolismus sei hier nur angedeutet, dass Sprache, mit Rede und Gegenrede, ein Phänomen der Postmoderne ist, welche die Wirklichkeit als vergänglich erscheinen lässt, während visuelle Formen, die ohne Gegenrede bleiben, dem Traum der Moderne von Ewigkeit eher gerecht zu werden vermögen. Umgangssprachlich formuliert: Touristen, die sich dauernd in den Ohren liegen, stören sich wechselseitig beim touristischen Erleben, zumindest beim Genuss von Kulturgütern, während sie durch Blicke, Gesten und Bilder, vor allem solchen, auf denen sie selbst vor der Sehenswürdigkeit posieren, über den „Drachen“ triumphieren (vgl. Anhang 6). Es liegt nahe, hierin eine mögliche Erklä- rung für die ungeheure Verbreitung von Kameras im Massentourismus zu sehen.

Die vorliegende Untersuchung ist das Resultat der ehrgeizigen Vorgabe unseres Projektleiters, in unserem Teilprojekt zu zwanzigst einen Forschungsbericht zu schreiben. Die wichtigste Maxime für mich als Betreuer war demzufolge, dass jeder Studierende an allen Teilschritten

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mitbeteiligt sein sollte, dass aber erkennbar bleiben sollte, von wem die einzelnen Kapitel des Berichtes verfasst sein würden. Bei der Datenerhebung, -aufbereitung und -interpretation wurden jeweils Teams gebildet. Außerdem wurde darauf geachtet, dass die erhobenen Daten allen zugänglich gemacht wurden. Empirische Sozialforschung wird auf diese Weise zu ei- nem gemeinschaftlichen Projekt, wobei ich hier auf wertvolle Erfahrungen zurückgreifen konnte, die ich bei Prof. Bo Stråth am EUI in Florenz gemacht habe. Im Idealfall zeigt sich, dass Max Webers Vorstellung von Wissenschaft als einem Wettbewerb der Ideen nicht gleichbedeutend sein muss mit einem Wettbewerb der beteiligten Wissenschaftler. Gruppen- arbeit ermöglicht, aus den unterschiedlich verteilten Talenten der Mitglieder Nutzen zu ziehen - manche können clever Daten aufzeichnen, andere können sauber transkribieren, wieder an- dere haben die Fähigkeit, aus den Daten Fruchtbares herauszulesen. Ein solches Unterfangen erfordert insbesondere vom Betreuer großen Koordinationsaufwand, der nur unter bestimmten Bedingungen, wie sie für mich im WS 06/07 erfüllt waren, zu erbringen ist. Bedenken sollten Leser und Leserinnen, dass der vorliegende Bericht zu Übungszwecken angefertigt wurde. Es sollten daher keine fertigen Ergebnisse erwartet werden. Dennoch erachte ich die geleisteten Arbeiten für so beachtlich, dass es mir der Mühe wert war, sie in eine akzeptable Form zu bringen. Die Kapitel wurden formell angeglichen und auf offensichtliche inhaltliche, gram- matikalische und orthographische Fehler hin durchgesehen. Der Inhalt wurde jedoch so weit als möglich belassen, da gerade die verschiedenen Zugänge und Weisen der Bearbeitung der Studierenden ihren besonderen Reiz haben. In diesem Licht betrachtet mutet es erstaunlich an, wie rund das Ganze geworden ist.

Bleibt mir noch zu danken, als erstes Prof. Dr. Bernhard Giesen, der uns im Rahmen seines Projektseminars die Gelegenheit bot, diese ethnographische Studie durchzuführen, und dessen umfassende theoretische Einsichten in das Phänomen Tourismus Quelle steter Anregung wa- ren. Dank gebührt ferner meinem Kollegen Sigmar Papendick für seine technische Unterstüt- zung, als mir solch grässliche Dinge wie wav-, mp3- und lame-Formate den Schlaf zu rauben drohten, aber auch für seine wohlwollende und selbstlose Beteiligung an den späteren Sitzun- gen. Dank sagen möchte ich schließlich Sabine Appt, die mit Geduld und Sachverstand die Arbeiten begleitet hat. Nun aber Bühne frei für die Studierenden, mit denen zu forschen eine Freude war.

Allensbach, den 15. Mai 2007

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1 Einleitung

Thema des vorliegenden Forschungsberichtes ist eine Ethnographie des Tourismus am Bei- spiel des Burgentourismus in Süddeutschland. In dieser Einleitung möchten wir - das sind Tobias Luchsinger und Stefanie Troll - zunächst die Gliederung unserer Arbeit vorstellen.

Danach werden wir kurz auf die Burgenromantik eingehen, die man als den Ursprung des Burgentourismus und als einen bis heute gültigen Grund für die Beliebtheit dieser Art von Ausflugsziel ansehen kann. Passend hierzu werden wir abschließend die Geschichte der bei- den von uns im Rahmen unserer Feldforschungen aufgesuchten Burgen - Hohenzollern und Meersburg - knapp darstellen.

Die Teilgruppe Ethnographie unterteilt die Präsentation ihrer Forschungen in sechs Haupt- punkte. Nach der Einleitung werden Cristina Gassmann und Jolanda Wehinger im zweiten Teil einige kulturtheoretische Überlegungen zum Burgentourismus anstellen. Sie geben einen kurzen Überblick über die soziologischen Ansätze von Peter L. Berger, Thomas Luckmann, Erving Goffman, Arnold van Gennep und Victor W. Turner, die unseren später folgenden Interpretationen zugrunde liegen. Danach präsentieren sie die zentrale Fragestellung unserer Untersuchung. Im dritten Teil widmet sich Daniel Brenner der Methodologie unseres Projek- tes. In drei Punkten, die wir „Krise der ethnographischen Repräsentation“, „Qualitative Sozi- alforschung“ und „Grounded Theory“ genannt haben, werden Strategien zur Datenerhebung und zu deren Interpretation vorgestellt, aber auch Probleme beschrieben, die bei der ethnolo- gischen Arbeit auftauchen können. Ziel unserer Datenerhebung war eine möglichst wirklich- keitsnahe Erfassung der touristischen Wirklichkeit und deren Entstehung in der Praxis leben- diger Akteure. Am Ende sollte der Gruppe ein breiter, allen zugänglicher Korpus an transkri- biertem Datenmaterial für die Interpretation zur Verfügung stehen. Dajana Richter, Sebastian Krämer und Sebastian Mütz gehen im vierten Teil, Datenerhebung und -aufbereitung, auf den handwerklichen Teil unserer Arbeit ein. Sie zeigen auf, wie Film-, Ton- und Bilddokumente aufgezeichnet worden sind, wie die Feldforschung auf den Burgen anhand von Forschungsta- gebüchern dokumentiert wurde und mit Hilfe welcher Software die erhobenen Daten später bearbeitet wurden, um sie für die Auswertung aufzubereiten. Auch sie kommen dabei auf ei- nige Probleme zu sprechen, die sich dabei ergeben können. Danach kommen wir im fünften Teil zur Auswertung der Daten. Nach Gerold Gerbers Vorstellung des von uns im Laufe der Sitzungen erarbeiteten Kategoriensystems, welches die Interpretationsarbeit strukturierte, prä- sentieren drei Interpretationsgruppen, die sich jeweils eines bestimmten Kategorienpaares

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angenommen haben, ihre Ergebnisse. Anhand der von uns gesammelten empirischen Bei- spiele, die wir nach Victor W. Turner „soziale Dramen“ genannt haben, wird der von uns un- tersuchte Burgentourismus als ein Phänomen betrachtet, das zwischen Ordnung und Chaos (Katrin Alle, Sabrina Jurchen, Katharina Koch, Lisa Kühn), Fakt und Fiktion (Iris Braun, Su- zanne Glocker, Andrea Kaifel) sowie Ernst und Spiel (Emina Lagumdzija, Christina Martin, Viktoriya Skrypchenko, Stefan Vogel) angesiedelt ist. Ohne zu viel vorgreifen zu wollen, soll bereits an dieser Stelle auf zwei wichtige Ergebnisse hingewiesen werden. Zum einen ist bei der Sichtung und Auswertung der Daten die besondere Rolle von Kindern beim touristischen Erleben deutlich geworden. Aus diesem Grunde haben wir uns dazu entschlossen, in den In- terpretationen zwischen der Interaktion unter Erwachsenen einerseits und der Interaktion zwi- schen Erwachsenen und Kindern bzw. unter Kindern andererseits zu unterscheiden. Zum an- deren hat sich gezeigt, dass es sich beim Tourismus - zumindest beim Kulturtourismus - nicht um eine einmalige Grenzüberschreitung vom Alltag zum Fest handelt, wie unter anderem von Christoph Hennig behauptet wird.1 Die Arbeit mit unseren Daten hat vielmehr gezeigt, dass wir es mit einer permanenten Grenzüberschreitung zwischen Alltag und Fest, d.h. einem an- dauernden Wechsel zwischen Ordnung und Chaos, Fakt und Fiktion sowie Ernst und Spiel, zu tun haben. Zum Schluss werden wir, d.h. die Verfasser der Einleitung, noch einmal zu Wort kommen, um ein kurzes Resumee zu ziehen und die wichtigsten Punkte noch einmal heraus- zustreichen.

Wir haben uns in unserem Teilprojekt dazu entschlossen, gemeinsam zwei Burgen in Baden- Württemberg zu besuchen und dort Tagesausflügler beim touristischen Erleben zu beobach- ten. Warum haben wir uns ausgerechnet für Burgen als touristisches Ziel entschieden (nach- dem anfangs auch andere Ziele im Gespräch waren)? Ausschlaggebend hierfür war unter an- derem der Begriff der „Burgenromantik“. Dieser gibt nicht nur einen Hinweis auf die Beliebt- heit von Burgen für einen Ausflug, sondern auch Aufschluss über die mit dem Tourismus verbundene Möglichkeit einer Wiederverzauberung der Welt. Die Burgenromantik fand ihren Ursprung in England zum Ende des 18. Jahrhunderts. Mit der literarischen Burgenromantik kam gleichzeitig das Genre des Schauerromans, der sogenannten „Gothic novel“ (1790-1830), auf. Der erste Vertreter war Horace Walpole mit dem Roman The Castle of Otranto, in dem der Protagonist für den Erhalt seiner Blutlinie selbst vor Vergewaltigung nicht zurück- schreckt. Diese Art des Romans erfreute sich großer Beliebtheit, und viele weitere folgten, wie The Monk von Matthew Lewis, Frankenstein von Mary Shelley oder Dracula von Bram

1 Vgl. Hennig (1997:74-81).

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Stoker. Viele Elemente des Schauerromans fanden sich später in Detektivromanen wieder oder beeinflussten Werke wie etwa das von Edgar Allen Poe oder die Kategorie Thriller, zum Beispiel Dan Browns The Da Vinci Code. In ihnen geht es einzig und allein um die Erzeu- gung von Grauen, Angst und Horror, und Burgen spiegeln dabei das „finstere Mittelalter“

wieder. Gleichzeitig orientierte sich die Burgenromantik an einem weiteren Phänomen, das etwa zur gleichen Zeit in England entstand, dem Landschaftsgarten. Diese auch als „Engli- sche Gärten“ bekannten Anlagen mit ihren Ruinen waren das Gegenstück zu den französi- schen Barockparks mit ihren exakten geometrischen Formen.2 Einer der wichtigsten Gründe für die wachsende Beliebtheit von Burgen war die Aufgabe der Adelsburgen im ausgehenden Mittelalter. Damit begann ihre Verklärung als Überrest einer vermeintlich „guten alten Zeit“.

Dies gipfelte im 18. und 19. Jahrhundert in der schwärmerischen Burgenromantik, in der die zeitgenössischen Sehnsüchte nach nationaler Einheit, politischer Ordnung und Freiheit ins Mittelalter zurückprojiziert wurden, wo dies alles nach der damaligen Vorstellung vorhanden war. Burgen, vor allem Burgruinen, wurden im Zuge dieser Entwicklung zu beliebten Aus- flugszielen, und die Verklärung fand ihren Niederschlag in Dichtung, Baukunst und Malerei.

Durch diese Form der Burgenromantik wurde ein Bild geprägt, das noch heute im Bewusst- sein der Bevölkerung verankert ist, was die Beliebtheit von Burgen als touristische Ausflugs- ziele erklären könnte. Die romantischen Klischees werden noch heute bedient, selbst wo die Burgen, wie etwa die Hohenzollern, aber natürlich auch Neuschwanstein, gar nicht über eine echte Historizität verfügen. Dem Touristen soll das Eintauchen in eine akkurat erhaltene, mittelalterliche Authentizität ermöglich werden, auch wenn es diese in der Realität vergange- ner Zeiten nicht gab. Angereichert mit „Requisiten“ wie antiken Waffen, Geräten und Ritter- schänken, die, wenn überhaupt, nur ein kleiner Bestandteil des alltäglichen mittelalterlichen Lebens auf einer Burg waren, inszenieren diese Fantasiebauten die verklärte Sichtweise auf eine Zeit der Helden und Minnen, der Ehre und des Rittertums.

2 In englischen Gärten gab es so gut wie keine Blühpflanzen, alles sollte nach der natürlich vorhandenen Land- schaft aussehen im Sinne eines „begehbaren Landschaftsgemäldes“. Sie waren durch von der Ferne unsichtbare Gräben von der umgebenden Landschaft abgegrenzt. Antike Tempel, chinesische Pagoden, gotische Ruinen, Grotten und Einsiedeleien wurden in die Landschaft gestellt. Es gab verschiedene Wege und Flüsse, die sich durch die Landschaft schlängelten. Durch die demonstrative Abgrenzung zu Frankreich wurde dieses Phänomen auch in Deutschland schnell beliebt. Entscheidend für die Einführung in Deutschland war Christian Cay Lorenz Hirschfeld, dessen Theorie der Gartenkunst in fünf Bänden zwischen 1779 und 1785 erschien, und der unter anderem Carl Heinrich August Graf von Lindenau (1755-1842) beeinflusste, dessen Park in Machern einen der frühesten englischen Gärten in Deutschland darstellt.

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Passend dazu fügt sich die Geschichte der Burg Hohenzollern in das heutige touristische Ver- ständnis von Burgen ein. Schon ab dem späten Mittelalter wurde die Burg trotz zahlreicher wechselnder Besitzer nicht mehr gepflegt und restauriert, so dass sie bereits im 18. Jahrhun- dert eine verfallene Ruine war. Erst ab 1850 wurde die Burg auf Veranlassung des Kronprin- zen Friedrich Wilhelm von Preußen wieder aufgebaut, der sich mit dem Bewohnbarmachen der Burg seiner Vorfahren einen Jugendtraum verwirklichte. Die Hohenzollern ist also weni- ger eine historische Anlage als eine in der Zeit der Romantik entstandene Adelsresidenz im neugothischen Stil, für die nachträglich eine lange Geschichte und Kultur inszeniert wurde, was sich für unsere Untersuchungen geradezu anbot. Im Gegensatz dazu verfügt die Meers- burg über eine Geschichte, die bis ins 7. Jahrhundert zurückreicht. Sie ist die älteste noch heute bewohnte Burg Deutschlands. Die Anlage wurde ständig restauriert und nach Zerstö- rungen wieder aufgebaut. Neben Adeligen wie etwa Kaiser Friedrich II. diente sie auch dem hohen Klerus als Herrschaftssitz. Durch die Säkularisation fiel die Burg zunächst dem badi- schen Staat zu, wurde dann aber 1838 in Privatbesitz abgegeben. Unter Freiherr Joseph von Laßberg wurde die Burg Begegnungsstätte für Dichter und Gelehrte vom Range des schwäbi- schen Romantikers Ludwig Uhland oder der Gebrüder Grimm. Am bekanntesten wurde die Meersburg als Aufenthaltsort der größten deutschen Dichterin Annette von Droste-Hülshoff, die dort im Jahre 1848 verstarb. Für unsere Feldforschungen versprachen wir uns von der Wahl dieser beiden Burgen - Hohenzollern und Meersburg - genug über die dem Burgentou- rismus in Süddeutschland zugrundeliegenden allgemeinen Strukturen und Praktiken zu erfah- ren.

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2 Kulturtheoretische Überlegungen zum Burgentourismus

Wir haben uns im Laufe des Arbeitsprozesses mehreren Kulturtheorien gewidmet. Einige werden hier kurz von Jolanda Wehinger vorgestellt. Danach geht Cristina Gassmann auf die zentrale Fragestellung unserer Ethnographie ein.

2.1 Tourismus als Passageritual und Rituale des Tourismus

Die Soziologen Peter L. Berger und Thomas Luckmann beschäftigen sich in ihrem klassi- schen Werk Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit (1980) mit der alltäglichen Wirklichkeit, und sie wollen diese Wirklichkeit erklären. Jeder Mensch lebt in seiner eigenen alltäglichen Wirklichkeit und empfindet diese anders als andere und ist sich auch dessen be- wusst, dass es andere Wirklichkeiten gibt, d.h. also dass es nach Berger und Luckmann viele verschiedene Wirklichkeiten gibt, doch die „oberste Wirklichkeit“ stellt die „Wirklichkeit der Alltagswelt“ dar. Die Alltagswirklichkeit ist eine Wirklichkeitsordnung.3 Die Alltagswelt kann nicht existieren, ohne immerwährend mit anderen zu verhandeln und sich mit ihnen zu verständigen. Es ist wichtig für Individuen, untereinander fortlaufend zu korrespondieren,

„von sich und auch anderen Auffassungen von und in dieser Welt“.4 Die Alltagswirklichkeit wird als Wirklichkeit hingenommen und man darf sie nicht fortwährend hinterfragen, da wir nicht existieren könnten, wenn wir jede Routinehandlung in Frage stellen würden. Routinen erleichtern unser Leben, und falls Probleme auftauchen werden sie mit erprobten Handlungen gelöst. „Andere Wirklichkeiten (erscheinen) als umkreiste Sinnprovinzen, als Enklaven.“ Die

„Grenzen“ der Enklaven in der obersten Wirklichkeit „sind markiert durch fest umzirkelte Bedeutungs- und Erfahrungsweisen.“ Die Burgenwelt ist eine Enklave in der Alltagswirklich- keit und soll nur wie alle Enklaven, die Aufmerksamkeit von der Alltagswelt ablenken.5 Auf den zwei von uns besuchten Burgen haben wir bemerkt, dass die Menschen immer wieder über alltägliche Dinge reden und auch hin und wieder Alltagsprobleme besprechen. Es findet auf der Burg ein ständiger Wechsel zwischen der Alltagswirklichkeit und dem Fest als Enkla- ve statt.

In unserer Projektgruppe haben wir die einzelnen Szenen, die wir auf den Burgen aufgenom- men bzw. gefilmt haben, als „soziale Dramen“ nach Victor W. Turner bezeichnet. „Das sozi- ale Drama stellt die ursprüngliche, alle Zeiten überdauernde Form der Auseinandersetzung

3 Berger & Luckmann (1980:24).

4 Berger & Luckmann (1980:26).

5 Berger & Luckmann (1980:28).

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dar.“6 „Im Verlauf sozialer Dramen ist das emotionale Klima einer Gruppe von gewittrigen Entladungen und böigen Luftströmungen bestimmt.“7 Zu allererst findet der „Regelbruch“

statt, der rein zufällig geschehen konnte, z.B. ein unüberlegter Streit. Als zweites kommt es dann zur „Krise“. Es werden „Gegensätze erst einmal offen ausgesprochen“ und schließlich ergreift jedes Mitglied der Gruppe Partei oder „Kritiker der Krise versuchen den Frieden wie- der herzustellen“ durch „Bewältigungsmechanismen“. Zuletzt endet das soziale Drama mit dem Schlussakt, entweder mit der „Versöhnung der Streitenden“ […] oder mit der Feststel- lung unüberwindbarer Gegensätze“.8 Für Turner sowie auch für uns war es wichtig, nicht nur die Oberfläche des Gesprochenen wahrzunehmen, sondern auch Feinheiten offen zu legen.

Nicht nur der „individuelle Charakter und der persönliche Stil der Wortwahl, rhetorische Fä- higkeiten, moralische und ästhetische Unterschiede“ der Sprache lassen einen Blick unter die Oberfläche zu, für Turner war die „Macht der Symbole in der menschlichen Kommunikation (am wichtigsten)“. Ihn interessierte nicht nur die „Grammatik und der Wortschatz“, sondern auch die visuelle Gestaltung der Rede, und im Besonderen auch die „Gestik, Mimik, Körper- haltung“, […] Bewegungen und Regeln […] bei Ritualen.“9

Die Phasen der Übergangsrituale, wie sie klassisch von Arnold van Gennep beschrieben wur- den10, lassen sich auf den Burgentourismus übertragen. Auf die Trennung vom Alltag, also die Anfahrt auf die Burg, folgt der Übergang bzw. die Umwandlung. In der Umwandlungs- phase sind die Regeln des Alltags aufgehoben, sie geht mit der physischen Trennung mit der gewohnten Umgebung einher. Außerdem verlieren Statussymbole ihre Bedeutung auf einem Ausflug zu einer Burg. Man gelangt bei einer Burgführung zu größerer Nähe innerhalb der Gruppe sowie zu mehr Gleichheit als in der Normalwelt. Die Menschen sind meistens befreit von den üblichen Pflichten, und sie spielen mit den Elementen des Vertrauten und Fremden.

Sie fühlen sich im selben Boot. Die dritte und letzte Phase ist die Wiedereingliederung, in der die Leute nach Hause zurückkehren. Die Ausflügler sprechen untereinander über ihre Erleb- nisse auf der Burg und schauen Fotos an. Besonders aber zeigt man Leuten, die nicht auf dem Ausflug dabei waren, die Fotos und erzählt dazu, was man auf der Burg so alles erlebt hat.

6 Turner (1995:14).

7 Turner (1995:11).

8 Turner (1995:12).

9 Turner (1995:10-11).

10 Van Gennep (1999).

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Daneben bildet der Tourismus selbst Rituale aus, die etwa nach Erving Goffman beschrieben werden können.11 „Auf vertrauten Bühnen“ präsentiert sich das „Selbst“ ohne Probleme, doch auf fremden Bühnen wird die „Glaubwürdigkeit“ geprüft. Der Tourist begibt sich auf „unsi- chere Bühnen der Selbstdarstellung“ und die Grenzen zwischen den “stages” sind schwer zu erspähen.12 In Grenzbezirken kann man erfahren, wie sich die Selbstdarstellung von Individu- en plötzlich verändern kann, z.B. eine Burgführerin zwischen der Burgführung und dem Büro, oder ein Kellner zwischen Küche und Speisesaal. Das Problem Vorderbühne (frontstage) und Hinterbühne (backstage) zieht sich durch „die Welt des Tourismus“. In der frontstage wird die

„Lockerheit“ und die „gelassene Atmosphäre“ inszeniert, und auf der backstage steht die

„durchrationalisierte Organisation“, zu der der Tourist keinen Zugang hat.13 Die Unterschei- dung Vorder- und Hinterbühne ist auch auf den Burgentourismus anwendbar. Der für die Touristen zugängliche Teil der Burg wird schön und mit viel Aufwand herausgeputzt, wäh- rend zum Beispiel die Privatgemächer geheim gehalten werden. Damit die Vorderbühne in hellem Licht erstrahlen kann, wird auf der Hinterbühne schweißtreibende Arbeit vollbracht.

Damit kann die Inszenierung gelingen und die Hinterbühne bleibt für die Touristen unzu- gänglich. Doch nach Goffman sind neugierige und risikofreudige Touristen auf der Suche nach der authentischen Welt und können nicht davon abgehalten werden, über Grenzzäune zu schauen oder die Hinterbühne zu betreten, wobei Scham- und Peinlichkeitsschwellen verletzt werden. Der Tourist fängt dabei einen „flüchtigen Einblick in den fremden Alltag“ ein.14 Au- ßerdem zeigt Goffman, „wie schutzbedürftig das Selbst ist“. Im „Territorialverhalten“ geht es auch um „Körperzonen“ und um die „Unantastbarkeit der persönlichen Identität“. Im Territo- rialverhalten zeigen Touristen Territorialkämpfe und Dominanzverhalten, wenn sie in Kon- kurrenz um scheinbar beschränkte Ressourcen stehen.15 Dies zeigt sich z.B. beim Ergattern eines Platzes in der Burgschenke oder beim Besteigen der Burgkanone, die inmitten der Burg Hohenzollern steht, durch Kinder. „Im Alltag wie auch in der Welt des Tourismus beschrän- ken Interaktionsrituale die Risiken der Interaktion. […] Ein großer Teil von Interaktionen spielt sich rituell ab“, doch die Bedeutung von Ritualen hat in der heutigen Welt gegenüber

„vormodernen Zeiten abgenommen“. Rituale sind vorhanden in der Arbeitswelt, in der Frei- zeit, im Sport und auch im Tourismus. „Rituale gewähren Verhaltens- und Erfahrungssicher- heit […] (und) regulieren physische und soziale Nähe bzw. Distanz, sie kanalisieren die ge- genseitige Anerkennung und Respekterweisung oder […] sie ordnen den sozialen Aus-

11 Goffman (1998).

12 Vester (1999:27).

13 Vester (1999:28).

14 Vester (1999:28-29).

15 Vester (1999:29-30).

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tausch.“16 Goffman zufolge sind Rituale in einer bestimmten Kultur völlig eindeutig und un- missverständlich, wogegen sie in einem interkulturellen Kontakt zu Verwirrung führen kön- nen, wie z.B. bei Begrüßungsformeln. Die Funktion von Ritualen ist es, Übergänge zwischen Situationen, Erfahrungswelten, Kulturen oder auch Lebensphasen zu regeln und die Kon- frontation mit Unbekannten erträglich zu machen.17 Touristische Organisationen haben daher eigene Rituale des Übergangs entwickelt, um Irritationen und Kulturschocks vorzubeugen bzw. zu erleichtern, wie z.B. anhand von Begrüßungs- und Empfangszeremonien.18 Auch auf Burgen gibt es Einstiegs- und Übergangsrituale. Für den einfacheren Einstieg in die Burgen- welt werden Anstrengungen von der Tourismusindustrie übernommen, z.B. durch eine herzli- che Begrüßung auf der Burg, damit man sich allmählich an die Situation gewöhnen kann und um Stress- oder Schockerfahrungen zu mildern. Der Ausstieg aus der Burgenwelt, und damit der Wiedereinstieg in den Alltag, wird dem Heimkehrer eher selber überlassen. So werden Ausflügler etwa auf der Nachhausefahrt durch die aktuellen Nachrichten im Autoradio wieder allmählich an den Ernst des Lebens herangeführt. Nahe stehende Menschen erleichtern es dem Heimkehrer eventuell durch Anwesenheit und Körperkontakt. Weitere Rituale sind die Berichterstattung über den Ausflug auf der Burg, die Vorführung der geschossenen Fotos, Dias und Videos. Solche Rituale, sowie die damit verbundene soziale Anerkennung, sind wahrscheinlich der tatsächliche Lohn für die im Tourismus unternommenen Anstrengungen.19 2.2 Fragestellung: Wie wird touristische Wirklichkeit hervorgebracht?

Aus den vorgestellten Theorien ergab sich die zentrale Frage des Projektseminars nach der Art und Weise, wie touristische Wirklichkeit hervorgebracht wird. Diese Leitfrage galt es bei der Sammlung, Aufbereitung und Auswertung der Daten stets im Hinterkopf zu behalten.

Innerhalb des Rahmens dieser Frage schälte sich jedoch während der Arbeit in unserem Teil- projekt zunehmend eine präzisere Fragestellung heraus, die wir in diesem Forschungsbericht anhand empirischer Daten untersuchen wollen.

Im Projektseminar wurde, basierend auf den Theorien von Arnold van Gennep, Christoph Hennig und anderen, angenommen, dass Tourismus, ähnlich wie etwa Religion, das Fest, Kunst oder Wissenschaft, eindeutig auf der Seite des außeralltäglichen Erlebens angesiedelt ist. Es wurde angenommen, dass man auf Reisen dem Alltag entfliehen möchte, dass man

16 Vester (1999:30-31).

17 Vester (1999:31).

18 Vester (1999:32).

19 Vester (1999:32-33).

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neue Identitäten erproben und sich verzaubern lassen möchte. Hieraus haben wir zunächst, noch vor der Feldforschung, die Fragestellung entwickelt: Wie genau geschieht die Grenz- überschreitung zwischen Alltag und Fest? Die Daten, die wir im Feld erhoben haben, zeigten jedoch recht schnell, dass (Burgen-)Tourismus nicht ausschließlich als außeralltägliches Erle- ben empfunden wird, sondern auch als alltägliches Erleben. Im Projektseminar wurde zwar auf das Phänomen des „Home Plus Sunshine“ hingewiesen, womit die Mitnahme des Ge- wohnten auf Reisen gemeint ist. Es scheint jedoch noch mehr im Spiel zu sein. So kann man beobachten, dass Touristen sich bisweilen gegenseitig am Erleben des Außerordentlichen hin- dern, durchaus auch in boshafter Absicht. Ein Beispiel für das interaktive Zerstören touristi- schen Erlebens wäre etwa, wenn ein Tourist den Traum eines anderen Touristen vom damali- gen Leben auf einer Ritterburg platzen ließe, indem er betont, dass diese als solche ja niemals benutzt worden sei. Die von uns erhobenen Daten lieferten die wichtige Erkenntnis, dass der Alltag auch für Touristen auf Reisen eine große Rolle spielt, und dass der Tourismus selbst seinen eigenen Alltag ausbildet, seine Rituale und Routinen besitzt und sogar so etwas wie Langeweile hervorbringen kann. Über einen gesamten Burgenaufenthalt verteilt lassen sich mannigfache Grenzüberschreitungen zwischen dem Alltag und dem Außerordentlichen fest- stellen. Diese Erkenntnis machte es notwendig, unsere ursprüngliche Fragestellung zu ändern.

Wir stellten uns nun die Frage: Wie, wann und weshalb kommt es zu den mannigfaltigen Grenzüberschreitungen vom Alltag zum Fest und zurück zum Alltag? Die erhobenen Daten versprechen, quasi wie unter einem Mikroskop, diesem Phänomen permanenter Grenzüber- schreitungen auf die Spur zu kommen.

Um unsere geschärfte zentrale Frage beantworten zu können, haben wir entsprechend unserer Forschungsmethode Grounded Theory, die im Folgenden noch näher erläutert wird, zwei Kernkategorien ausgemacht, die bei der Interpretation der Daten untersucht werden sollten.

Zum einen ist dies die Kategorie „Erleben“, zum anderen die Kategorie „Interaktion“. Mit Erleben ist hier das neutrale Erleben bzw. Erfahren der Welt, das Heideggersche In-der-Welt- Sein, gemeint, nicht das besondere Event oder der „Kick“. Das heißt, ein Gähnen ist in diesem Sinne ebenso ein Erlebnis wie eine Achterbahnfahrt oder das Miterleben einer Fußball WM.

Wie bereits erwähnt, lassen sich nach Alfred Schütz und Berger & Luckmann zwei grundle- gende Formen des Erlebens auseinanderhalten: Alltag und Außeralltägliches. Beiden Formen haben wir im Verlauf unserer Arbeit Unterkategorien zugeordnet, was ebenfalls noch näher ausgeführt werden wird. Die Kategorie „Alltag“ umfasst z.B. die Unterkategorien Fakt, Ord- nung und Ernst. Das „Außeralltägliche“ umfasst die dazu gegensätzlichen Unterkategorien

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Fiktion, Chaos und Spiel. Anhand dieser Kategorien und Unterkategorien, so unsere Hoff- nung, sollten die Grenzüberschreitungen zwischen Alltag und Fest evident gemacht werden können. So markiert etwa der Übergang von Fakt zu Fiktion eine solche Grenzüberschreitung, etwa wenn ein Burgführer von seinen geschichtlichen Ausführungen zu Klatsch überwechselt.

Die zweite Kernkategorie Interaktion soll darauf hinweisen, dass es verschiedene Formen interaktiven Erlebens gibt. Insbesondere beabsichtigen wir damit, Erleben konsequent als so- ziologische, nicht als psychologische Kategorie zu erfassen.

Diese beiden Kategorien - „Interaktion“ und „Erleben“ - sollen bei der Interpretation der Da- ten im Hinblick auf die zentrale Fragestellung untersucht werden, wobei wir zwischen ver- schiedenen Gruppen sozialer Akteure unterschieden haben, zwischen Erwachsenen und Kin- dern einerseits sowie zwischen Personal und Touristen, d.h. Einheimischen und Fremden, andererseits. Diese Differenzierungen schienen notwendig, da die jeweiligen Gruppen die touristische Wirklichkeit unterschiedlich wahrzunehmen scheinen. Ein Beispiel hierfür wäre, dass Erwachsene während der Führung durch eine Burg auf Klatsch, den ein Burgführer er- zählt, anders reagieren als Kinder. Erwachsene scheinen mehr an Klatsch interessiert zu sein als an Fakten bezüglich der Burg und ihrer Besitzer, zumindest machen sie hier einen Unter- schied, während Kinder diesbezüglich nicht trennen. Die Kategorie „Interaktion“ ist für die zentrale Fragestellung deshalb wichtig, da sich gerade in der sozialen Interaktion die mannig- faltigen Grenzüberschreitungen zwischen Alltag und Fest ausmachen lassen. Durch die Inter- pretation der Interaktionen der Touristen untereinander lässt sich zeigen, dass diese sowohl von Routinen und Elementen des gewohnten Lebens geprägt sind als auch von festlichen und außeralltäglichen Elementen. Bezüglich der Interaktion muss somit untersucht werden, wie sich Grenzüberschreitungen manifestieren und welche Auswirkungen dieses ständige Hin- und-herwechseln zwischen Alltag und Fest auf die Interaktion der Touristen und auf deren Erleben hat. Außerdem kann man sich in diesem Zusammenhang die Frage stellen, ob die etlichen Grenzüberschreitungen zwischen Alltag und Fest während des Reisens eine be- stimmte Aufgabe bzw. einen bestimmten Grund haben. Vielleicht, so könnte man vermuten, sind sie für das Erleben der touristischen Wirklichkeit sogar konstitutiv?

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3 Methodologie

Im Folgenden stellt Daniel Brenner einige Überlegungen zur Methodologie an, die den Hin- tergrund für unsere ethnographischen Untersuchungen bilden.

3.1 Die Krise der ethnographischen Repräsentation

Als Gründervater der Ethnographie kann der 1884 in Polen geborene österreichische Staats- bürger Bronislaw Malinowski genannt werden. Dieser führte das prinzipiell noch heute für die Ethnographie gültige methodologische Paradigma ein, welches „die intensive teilnehmende Beobachtung durch den einsamen Ethnologen in der noch funktionierenden Stammesgesell- schaft“ vorsieht.20 Damit ist gemeint, dass der Ethnograph in die fremde Welt der Erforschten eintaucht, wodurch eine neue Dimension von Erfahrungswissen erschlossen werden kann.

Durch die nun mögliche mikroskopische Beschreibung der Stammesgesellschaften erhoffte man sich, anhand von Modellbildungen zu allgemeingültigen Aussagen zu gelangen. Der Ausdruck „noch funktionierende Stammesgesellschaft“ im Malinowskischen Paradigma sollte darauf aufmerksam machen, dass diese sich zunehmend auflösten. Durch das Verschwinden der Stammesgesellschaften und die Entkolonialisierung nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Malinowskische Paradigma zunehmend hinterfragt. Die Ethnographen mussten nun, im Gegensatz zu früher, beachten, dass die erforschten Stammesgesellschaften in zeitlichen und räumlichen Zusammenhängen standen.21

Aufgrund solcher und anderer Probleme kann seit den 1960er Jahren von einer „Krise der Ethnographie“ gesprochen werden, die auch als eine Krise des Malinowskischen Paradigmas anzusehen ist. Diese Krise drückt sich in der anhaltenden sogenannten „Writing culture- Debatte“ aus, bei der vor allem die Rolle des Feldforschers diskutiert wird.22 Hierbei geht es unter anderem darum, inwieweit ein ethnographischer Bericht nicht ausschließlich aus der Beschreibung des beobachteten Stammes bestehen sollte, sondern auch die persönlichen Emp- findungen des Forschers, dessen eigene Schwächen und die Probleme im Feld - etwa sprach- liche Barrieren oder kulturelle Unterschiede - mit einfließen sollten. Andererseits sollte nicht der Forscher allein, sondern vor allem die Eingeborenen - eventuell durch das Sprachrohr

„Ethnograph“ - sprechen, da man so zu authentischeren Ergebnissen gelangen kann. In unse- rem Teilprojekt fanden wir einen möglichen Weg aus den mannigfachen Fallen, die mit der

20 Vgl. Stocking (1983); Stocking (1978:531).

21 Vgl. Fabian (1983).

22 Vgl. Clifford & Marcus (1986), Berg & Fuchs (1993).

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Krise der ethnographischen Repräsentation verbunden sind, indem wir uns auf die Untersu- chung der sozialen Praxis, d.h. des konkreten Tuns der sozialen Akteure, konzentrierten, unter Berücksichtigung unseres eigenen Tuns im Feld. Damit ist gemeint, dass nicht länger fixe Identitäten und Erinnerungen oder fixe subjektive Phänomene wie z.B. Einstellungen und Gefühle des Forschers, sondern dynamische Geschehensabläufe, mit und auch ohne Beteili- gung des Forschers, „abgebildet“ werden sollen. Es geht um die Repräsentation der sozialen Konstruktion von Wirklichkeit, nicht um die Wirklichkeit an sich. Diesem Lösungsansatz verpflichtet versuchen wir, unseren Forschungsbericht über die sozialen Wirklichkeitskon- struktionen im Burgentourismus zu verfassen. Dies wird uns durch die Tatsache erleichtert, dass wir nicht als einsamer Forscher, sondern als Gruppe agieren. Vor allem die gemeinsame Interpretation der Daten scheint uns vielversprechend zu sein in unserem Unterfangen, fixe Einstellungen bzw. Gefühle des Einzelnen zu kontrollieren.

3.2 Qualitative Sozialforschung

Bei der Verfolgung unseres Zieles, zu untersuchen, wie touristische Wirklichkeit hervorge- bracht wird, zeigte sich schnell, dass man hier mit quantitativen Erhebungsmethoden wie z.B.

einem standardisierten Fragebogen nicht sehr weit kommt. Die adäquatere Methode schien uns die Ethnographie im Sinne einer teilnehmenden Beobachtung im Feld zu sein. Generell versucht kulturwissenschaftliche Sozialforschung nicht, wie etwa die Naturwissenschaften, objektiv gegebene strukturelle Daten zu erfassen. Vielmehr geht es ihr um die kulturellen - also intersubjektiven, nicht individuellen - Bedeutungen, die für kompetente Zeitgenossen allgemein lesbar sind. Dabei lässt sich unter Rückgriff auf Alfred Schütz zwischen zwei Ebe- nen unterscheiden, wie es auch von Prof. Giesen im Projektseminar hervorgehoben wurde.

Zum einen die Konstruktionen erster Ordnung. Durch die Sicherung der erhobenen Daten und deren sorgfältige Aufzeichnung in natürlicher Sprache werden die gewonnenen Daten für den Forscher zu wichtigen Dokumenten, welche Hinweise liefern für jene Bedeutung, die die Akteure der Situation, in der sie sich befinden, selbst geben (vgl. Thomas-Theorem). Es bleibt jedoch für den Forscher nicht bei den gewonnenen Bedeutungsmustern der Akteure, sondern es wird in einem zweiten Schritt nach Strukturtypen bzw. kulturellen Mustern - Konstruktio- nen zweiter Ordnung - gesucht, über welche die Handelnden selbst nicht immer Bescheid wissen müssen.23 Da die kulturelle Bedeutung nur mit einer distanzierten Betrachtungsweise wahrnehmbar ist, braucht der qualitative Sozialforscher stets eine gewisse Distanz zu den Be-

23 Dies veranschaulichte Prof. Giesen anhand des Beispiels der Grammatik. Grammatikalische Regeln ermögli- chen Sprechakte, ohne dass diese den Akteuren beim Sprechen im Bewusstsein sein müssen.

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obachtungssubjekten bzw. -objekten. Die Herstellung dieser geforderten Distanz ist nicht im- mer einfach, wie wir im Forschungsprozess feststellen mussten. Hierbei haben uns der Aus- tausch unter den einzelnen Datenerhebungs- und Datenauswertungsteams sowie der stete Vergleich der Daten geholfen.

Gemäß dieser Prämissen wurde in unserem Teilprojekt auf die folgenden fünf allgemeinen Prinzipien der qualitativen Sozialforschung besonderen Wert gelegt: (1) Offenheit, d.h. For- schung wird als Exploration begriffen, die nach Möglichkeit zu überraschenden Ergebnissen führt. (2) Kommunikation, d.h. im Mittelpunkt steht die Aushandlung von „Wirklichkeit“ in der sozialen Interaktion zwischen den Akteuren sowie zwischen Forscher und Akteuren. (3) Prozessualität, d.h. untersucht werden soll die praktische Anwendung von Deutungs- und Handlungsmustern - das konkrete „doing“. (4) Kontextualität, d.h. soziales Handeln (Text) wird im Hinblick auf den jeweiligen Kontext rekonstruiert, in dem es stattfindet. (5) Explika- tion, d.h. der Forschungsprozess wird genau beschrieben, um die einzelnen Schritte offen zu legen und somit für andere Wissenschaftler nachvollziehbar zu machen.24 Da wir zum Ziel hatten, touristische Wirklichkeit und deren Entstehung in der sozialen Praxis zu erfassen, lag es nahe, möglichst wirklichkeitsnahe „rohe“ Daten zu erheben. Dies realisierten wir vor allem mit Hilfe von Bild- und Tonaufzeichnungsgeräten, welche heute primär die relevanten Daten in der qualitativen Sozialforschung liefern. Jörg R. Bergmann nennt in seinem bahnbrechen- den Aufsatz Flüchtigkeit und methodische Fixierung sozialer Wirklichkeit. Aufzeichnungen als Daten der interpretativen Soziologie (1985) den Einsatz audiovisueller Reproduktionsme- dien „registrierende Konservierung“, im Gegensatz zur sprachlichen Vergegenwärtigung ver- gangener Geschehnisse, der „rekonstruierenden Konservierung“. Registrierende Reprodukti- onsmedien haben nach Bergmann nicht mit den Nachteilen des rekonstruierenden Typus zu kämpfen: (1) Die Tatsache, dass die rekonstruktiv erhobenen Daten selbst das Ergebnis se- kundärer Sinnbildungsprozesse sind, (2) dass in ihnen das soziale Original unter Umständen verschoben wird sowie (3) die Eigenheit, dass es für ein einziges abgelaufenes Geschehen mehrere rekonstruierende Versionen gibt, die vom spezifischen Kontext abhängig sind. Qua- litative Sozialforschung zeichnet sich durch eine geringe „Technizität“ aus. Da, wie bereits erwähnt, möglichst wirklichkeitsnahe Daten erhoben werden sollten, war es wichtig, die zu beobachtenden Akteure in ihrer Interaktion, weniger uns als Forschende selbst zum Reden zu bringen. So hielten wir uns bei der Datenerhebung weitestgehend bedeckt und zeichneten „ro- he“ Interaktionen unter den Burgentouristen (und mit dem Personal) auf, wodurch wir zu äu-

24 Vgl. Lamnek (1995:21-30).

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ßerst authentischem Datenmaterial gelangten. Nach sorgfältiger Transkription der gesammel- ten visuellen bzw. akustischen Daten wurden zunächst bestimmte, interessant erscheinende Sequenzen - von uns so bezeichnete „soziale Dramen“ - ausgewählt. Diese wurden dann im weiteren Auswertungsprozess auf Strukturtypen hin abgesucht, wodurch wir letztendlich zu einigen interessanten Theoriebausteinen gelangen konnten. Dies entspricht den Prinzipien der Grounded Theory, auf die wir jetzt näher eingehen wollen.

3.3 Grounded Theory

Zu Beginn soll bemerkt werden, dass uns die Grounded Theory zwar den groben Leitfaden für unser Teilprojekt vorgab, wir uns aber nicht strikt an deren methodologische Vorgaben halten konnten. Dies war schon deshalb nicht möglich, da wir aufgrund des in Prof. Giesens Projekt- seminar erworbenen Vorwissens nicht ohne bestimmte theoretische Denkrichtungen im Hin- terkopf ins Feld gingen, wie es die Grounded Theory eigentlich vorsieht. Dennoch versuchten wir, uns dem Untersuchungsgegenstand möglichst neutral und unvoreingenommen zu nähern.

Im Folgenden sollen nun die wichtigsten Prinzipien der Kunstlehre Grounded Theory vorge- stellt und anhand einiger praktischer Beispiele aus unserem Forschungsprozess veranschau- licht werden.

Nach Glaser & Strauss (1967) beinhaltet die Grounded Theory ein methodisches Regelwerk zur datenbasierten Theorieentwicklung über soziales Handeln. Das Wort „datenbasiert“ ver- deutlicht den Versuch, die Kluft zwischen Theorie und Empirie zu schließen. Zielsetzung der Grounded Theory ist demnach die systematische Entwicklung einer Theorie, die auf verschie- denen empirischen Daten beruht. Als zentrale Aspekte der Grounded Theory können folgende vier Punkte genannt werden. (1) Sensibilisierende Konzepte und Prozesscharakter. Ein be- stimmtes Vorwissen geht beim Feldeinstieg mit ein, nicht aber klare Theorien oder Hypothe- sen. Dass dies bei unserem Forschungsprozess nicht möglich war, wurde bereits gesagt. Au- ßerdem spricht man von einem interaktiven, kommunikativen Forschungsprozess, da es zu einem permanenten Zusammenspiel zwischen Datenerhebung und -interpretation kommen soll. (2) Vielfalt der Erhebungsmethoden. Dem Untersuchungsgegenstand soll sich aus mög- lichst unterschiedlichen Blickwinkeln genähert werden. Durch die verschiedenen Daten soll schließlich ein möglichst wirklichkeitsnahes Gesamtdateninventar entstehen. In unserem Falle kamen vor allem Ton- und Bildaufzeichnungen zum Einsatz. (3) „Theoretical Sampling“. Die Grounded Theory zielt nicht auf eine maximale Repräsentativität ihrer Daten ab, wie es in der quantitativen Sozialforschung der Fall ist. Vielmehr geht es ihr um eine maximale Variation

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der Daten. (4) Theoretisches Kodieren. Hierbei handelt es sich um eine systematische und kreative Methode der Textinterpretation zur Konzeptualisierung und Vernetzung der Daten durch Sinnverstehen. Generell lassen sich dabei drei Phasen unterscheiden. (a) Offenes Ko- dieren. Aus den erhobenen Daten wird zunächst eine bestimmte Sequenz ausgewählt, welche für den Forscher relevant für die jeweilige Fragestellung zu sein scheint. Diese Sequenz wird dann zunehmend verallgemeinert und kodiert, so dass am Ende dieses ersten Auswertungs- schrittes aus mehreren Sequenzen verschiedene Kategorien entstehen. (b) Axiales Kodieren.

Durch den Vergleich der erarbeiteten Kategorien gelangt der Forscher zu Hypothesen, welche Beziehungen zwischen Kategorien und ihren Dimensionen darstellen. (c) Selektives Kodie- ren. Dies kommt dann zur Anwendung, wenn „theoretische Sättigung“ erreicht ist, wie es so schön heißt, d.h. wenn der Forscher aus weiteren Vergleichen der Kategorien keinen zusätzli- chen Erkenntnisgewinn erzielen kann. Bei der selektiven Kodierung werden die jeweiligen Kategorien nochmals gewichtet, wodurch sich schließlich eine oder mehrere Kernkategorien herauskristallisieren. Über diese Kernkategorien und deren Vernetzung mit den einzelnen Unterkategorien bildet sich dann im Idealfall die datenbasierte Theorie, die „grounded theo- ry“.

In unserem Fall kristallisierten sich, wie oben erwähnt, die beiden Kernkategorien „Erlebnis“

und „Interaktion“ heraus. Aus Mangel an Zeit sind wir in unserem Teilprojekt nicht bis zu einer datenbasierten Theorie vorgedrungen. Dennoch sind wir der Ansicht, dass wir zumin- dest einige Bausteine für eine solche Theorie entwickeln konnten, wie im Verlauf des vorlie- genden Forschungsberichts noch gezeigt werden soll.

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4 Datenerhebung und -aufbereitung

In diesem Kapitel stellt zunächst Dajana Richter die von uns verwendeten Methoden sowie das erhobene Datenmaterial vor. Danach beschreibt Sebastian Krämer den Verlauf der beiden Feldforschungen auf Burg Hohenzollern und auf der Meersburg, und Sebastian Mütz gibt einen Einblick in Techniken und Programme der Datenaufbereitung.

4.1 Die Registrierung sozialer Dramen (Foto, Film, Gespräche, Interviews)

Folgendes Zitat aus einem Methodenbuch von Uwe Flick ist geeignet, in die Thematik dieses Kapitels einzuführen.

„Der Ethnograph nimmt offen oder verdeckt […] am täglichen Leben der Menschen teil, be- obachtet dabei, was passiert, hört zu, was gesagt wird, stellt Fragen; eigentlich sammelt er alles, was auch immer an Daten verfügbar ist, um das Thema, mit dem er beschäftigt ist, nä- her zu beleuchten (Hammersley & Atkinson 1983:2).“25

Es ging unserer Forschergruppe in diesem Sinne darum, im Feld möglichst viele verschiedene Daten zu sammeln. Wenn sich einige Daten als unbrauchbar herausstellen würden, etwa weil eine Tonaufnahme unergiebig ist oder zu stark rauscht, so würde man auf andere Daten aus- weichen können. Daten aus verschiedenen Quellen zu besitzen hat zudem den Vorteil, dass sie sich gut ergänzen. Wenn man zum Beispiel ein Gespräch während der Burgführung auf- genommen hat, aber nicht mehr genau weiß, wie die Umgebung dort aussah, so nimmt man einfach die Filmaufnahmen zur Hilfe.

Ausgehend von der zu untersuchenden Fragestellung sind zunächst die Situationen zu benen- nen, in denen Daten gesammelt werden können. Je günstiger die strategische Position der Be- obachterrolle ist, desto leichter ist es, richtige und wichtige Informationen im Feld zu erhal- ten. Die Datengewinnung besteht dabei aus der Datenerhebung und der Datenerfassung. Die Datenerhebung erfolgt in einem ausgewählten sozialen Feld. Dabei geht es um die Anwen- dung eines oder mehrerer Erhebungsinstrumente auf die zu untersuchenden Phänomene. Die- se gewonnenen Daten müssen in irgendeiner Weise aufgezeichnet werden. Deshalb kommt es anschließend, zum Teil auch gleichzeitig, zur Datenerfassung. Wenn diese fehlt, besteht die Gefahr, dass der Forscher subjektiv-selektiv wahrnimmt und somit nicht alle Informationen im Gedächtnis behält. Die Realität würde verzerrt wiedergeben werden. Auch der Beobach- tungszeitraum ist vorab festzulegen, denn eine Beobachtung kann immer nur Ausschnitte aus dem totalen sozialen Geschehen erfassen.

25 Flick (1998:166).

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Im Folgenden sollen einige Varianten der Beobachtung auseinander gehalten werden. Die Methode der Beobachtung gehört zu den Grundlagen in der qualitativen Sozialforschung.

Zwei der wichtigsten Unterscheidungsmerkmale bei den Beobachtungsformen sollen hier kurz skizziert werden. Erstens handelt es sich dabei um die Unterscheidung zwischen offener und verdeckter Beobachtung. Bei der offenen Beobachtung tritt der Forscher ausdrücklich als solcher auf, das heißt das soziale Feld kennt mindestens den Zweck der Anwesenheit des For- schers. Falls die zu beobachtenden Personen mit einer Aufzeichnung einverstanden sind, ist der Einsatz einer Kamera oder ähnlichem kein Problem. Allerdings ist nicht auszuschließen, dass das Bewusstsein, nicht nur beobachtet, sondern auch gefilmt zu werden, die Beobach- tungssituation beziehungsweise das gezeigte Verhalten der Akteure drastisch verändert. In der vorliegenden Studie wurde die offene Beobachtung im Falle der Interviews gewählt. Anders ist es bei der verdeckten Beobachtung. Hier „gibt der Beobachter seine Identität als Forscher nicht zu erkennen. […] Ihr Sinn liegt in dem Bestreben, die Gefahr einer Störung des sozialen Feldes […] zu vermeiden.“26 In diesem Fall kann sich die Aufzeichnung der Handlungsabläu- fe mit Hilfe einer Kamera problematisch gestalten, weil es zu auffällig sein könnte. Dieses Problem konnte in unserer Studie jedoch gelöst werden, da Foto- beziehungsweise Videoauf- nahmen unter Touristen, die ja dasselbe tun, nicht besonders auffallen. So wurden von Teil- nehmerInnen unseres Teilprojektes sowohl verdeckte Audio- als auch verdeckte Videoauf- zeichnungen gemacht, um auf diese Weise ein möglichst unverfälschtes touristisches Verhal- ten zu registrieren.27 Eine zweite Unterscheidung ist diejenige zwischen teilnehmender und nicht-teilnehmender Beobachtung. Qualitative Forschung im Sinne Berger & Luckmanns ver- sucht, wie oben dargelegt, die Sinnstrukturen der Feldsubjekte situativ zu erschließen. Bei der teilnehmenden Beobachtung nimmt der Sozialforscher am Alltagsleben der ihn interessieren- den Personen und Gruppen teil und versucht, durch genaue Beobachtung deren Interaktions- muster und Wertvorstellungen zu erforschen und für die wissenschaftliche Auswertung zu dokumentieren. Gegenstand der Beobachtung ist vornehmlich das soziale Handeln von Indi- viduen und Gruppen. Dies geschah auf den Burgen, indem wir als Forscher selbst zu Touris- ten wurden und dort filmten, fotografierten und an Führungen in typischer Manier teilnahmen.

Zu beachten ist jedoch, ein „going native“ zu vermeiden, d.h. dass eine gewisse Distanz zum Feld bestehen muss, damit auch scheinbar Banales und Alltägliches wahrgenommen und auf- gezeichnet wird.28 Bei der nicht-teilnehmenden Beobachtung sieht der Forscher von außen her

26 Lamnek (2005:561).

27 Über die moralischen Bedenken eines solchen - doch immerhin umstrittenen - Vorgehens wurde in der Grup- pe diskutiert. Es gab jedoch niemanden, der solche Bedenken nicht aus dem Weg räumen konnte.

28 Vgl. Hirschauer & Amann (1997).

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auf das ihn interessierende Verhalten. Das bedeutet, dass man die Rolle des Touristen aufgibt, als Forscher aber noch im Feld bleibt, wie etwa im Falle der Interviews nach der Burgfüh- rung.

Die Registrierung der „sozialen Dramen“ auf Burg Hohenzollern und auf der Meersburg fand auf unterschiedliche Art und Weise statt. Als nächstes sollen daher diejenigen Verfahren der Datenerhebung kurz beschrieben werden, die in unserer Studie konkret zum Einsatz kamen.

Während unserer Aufenthalte im Feld wurden, neben Beobachtungsprotokollen, v.a. Tonauf- nahmen, Fotos und Filmaufzeichnungen gemacht sowie Interviews geführt. Der große Vorteil all dieser Methoden ist, dass sie das Gedächtnis der Forscher unterstützen und mehr leisten können als nur ein schriftliches Protokoll, denn es werden immer auch Dinge erfasst, die dem Forscher im Feld ansonsten eventuell entgangen sind. Erstens haben wir Tonaufnahmen ge- macht. Mittels eines Mikrofons und eines Aufnahmegerätes (MiniDisc, digitales Diktiergerät, MP3-Player usw.) können die Geräusche einer Situation mehr oder minder gut festgehalten werden. Bei den Aufnahmen handelt es sich um die Burgführung oder um alltägliche Konver- sationen von Touristen, und seien sie auf den ersten Blick auch noch so banal. Dabei können auch qualitativ schlechtere Aufnahmen entstehen, zum Beispiel durch Überlappungen von Aussagen oder bei besonders leisen oder undeutlichen Gesprächen. Dies musste im Vorfeld mit eingeplant werden, da unsere Aufnahmen, wie gesagt, verdeckt stattfanden. Mit diesem Vorgehen kommt man dichter und unauffälliger an die Menschen heran als zum Beispiel mit einer Videokamera. Durch die Verwendung von Aufnahmegeräten ist die Trennung von Da- tenerhebung und Interpretation noch mehr gegeben, da bei der Erhebung die Daten nicht durch die Sprache eines Beobachters gefiltert werden. Erst durch die nachträgliche Transkrip- tion wird der Weg zur Interpretation frei. Zweitens haben wir Fotoaufnahmen gemacht. Diese konzentrierten sich auf die Selbstdarstellung von (sich selbst fotografierenden) Touristen in einem ganz bestimmten Moment.29 „In Photos als Daten beziehungsweise Dokumentationen von Zusammenhängen fließen theoretische Vorannahmen ein, die bestimmen, was und wann photographiert, welcher Ausschnitt davon gewählt wird. Kameras sind unbestechlich in der Wahrnehmung und Dokumentation: Sie vergessen nicht, ermüden nicht und machen keine Fehler. Jedoch transformieren auch Photos die Welt, die sie darstellen, in eine spezifische Form.“30 Obwohl Bilder nicht lügen, sind sie stark von den Interpretationen derer geprägt, die sie aufnehmen und, mehr noch, die sie anschauen. Der Forscher sollte überdies darauf achten,

29 Die Anregung hierzu haben wir von Prof. Giesen erhalten.

30 Flick (1998:169).

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nicht unendlich viele Fotos zu machen und dabei den Überblick zu verlieren. Drittens haben einige TeilnehmerInnen unserer Exkursionen Filmaufnahmen gemacht. Mit Videos ist man in der Lage, Beobachtungen beliebig oft zu reproduzieren, unter den verschiedensten Gesichts- punkten das Material zu sichten und zu analysieren, um dann eventuell ein Beobachtungs- schema zu entwickeln. Auch hier kann man schnell zu viel Material beisammen haben, und man steht vor der Aufgabe, eine Menge nachbearbeiten beziehungsweise schneiden zu müs- sen. Ohne Zweifel ist es für die Datenauswertung hilfreich, wenn neben dem Ton auch das Bild verfügbar ist, um nonverbale Kommunikationsinhalte wie Gestik, Mimik, Motorik oder die Richtung der Kommunikation in die Interpretation einbeziehen zu können. Durch techni- sche Manipulationen können Details im nonverbalen Bereich heraus präpariert werden, zum Beispiel durch Zeitlupe, Zeitraffer, Zoom und Einzelbild. Allerdings erhöht sich bei Video- aufzeichnungen die Gefahr der Veränderung der Alltagssituationen, oder es kann auch zu ei- ner überzogenen Selbstdarstellung der Beobachteten kommen. Das Bewusstsein, in Bild und Ton festgehalten zu werden, stellt für die meisten Menschen eine außergewöhnliche, unnatür- liche Situation dar. Videoaufnahmen sind nur dann ideal, wenn sie die Feldsituation nicht zu stark beeinflussen oder störend wirken. Viertens schließlich wurden einige Interviews durch- geführt. Im Gegensatz zu den verdeckten Aufnahmen ist es hier wichtig, dass sich der Inter- viewer interessiert-zurückhaltend verhält und damit eine sanktionsfreie Situation schafft. In der Untersuchung wurde ein standardisiertes Leitfadeninterview verwendet, das heißt die In- terviewer lasen ihre problemzentrierten Kurzfragen vom Fragebogen ab. Gleiche Fragen ga- rantieren bei der anschließenden Interpretation die Vergleichbarkeit. Der Interviewpartner erfährt dabei einen Expertenstatus, sonst hätte man ihn schließlich nicht ausgewählt. Die In- terviewten wurden zuerst über Sinn, Zweck und Gegenstand der Befragung aufgeklärt. Ihr Einverständnis zur Aufzeichnung wurde eingeholt, und es wurde ihnen Anonymität zugesi- chert.

Insgesamt lag uns am Ende ein Datenkorpus von 195 sozialen Dramen in Form von Gesprä- chen, Interviews, Filmen und Fotos vor - 135 von Burg Hohenzollern, 60 von der Meersburg (siehe Anhang 3). Damit kommen im Schnitt auf jeden Projektteilnehmer etwa zehn erhobene Daten. Diese verteilen sich wie folgt: Von der Burg Hohenzollern wurden aus dem (verdeckt aufgenommenen) Gesprächsmaterial 93 Gespräche ausgewählt, die im Schnitt etwa ein bis zwei Minuten dauern; es wurden elf Interviews in der Länge von etwa fünf Minuten geführt;

von allen gemachten Fotos wurden die 15 aussagekräftigsten zur Interpretation ausgewählt;

und von den gesammelten Videoaufzeichnungen wurden 16 Filmausschnitte in der Länge von

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durchschnittlich fünf Minuten als vielversprechend für unsere Dateninterpretation erachtet.

Von den auf der Meersburg aufgenommenen sozialen Dramen wurden 17 (verdeckte) Ge- spräche ausgewählt, es wurde ein Interview geführt, und es wurden ebenfalls 15 Fotos sowie 27 Filmsequenzen in die engere Auswahl aufgenommen. Daneben wurden auf beiden Burgen Beobachtungsprotokolle angefertigt (Erinnerungs-protokolle, videogestützte Beobachtungs- protokolle und Fotobeschreibungen). Folgende Übersicht listet die sozialen Dramen im Über- blick auf (in Klammern die Anzahl der angefertigten Transkriptionen).

Burg Hohenzollern Meersburg

Gespräche 093 (068) 017 (009)

Interviews 011 (011) 001 (000)

Filmsequenzen 016 027

Fotos 015 015

Insgesamt 135 060

Gesamtsumme 195

Für die Interpretation wurden aus den erhobenen 195 sozialen Dramen 25 Stück ausgewählt, die sauber und einheitlich transkribiert allen TeilnehmerInnen des Forschungsprojektes zur Verfügung standen (siehe Anhang 4). Hierbei durfte jeder sein „bestes“, „schönstes“ bzw.

„aussagekräftigstes“ Beispiel beisteuern (in einigen Fällen waren dies zwei Stück, daher er- gibt sich eine größere Zahl als 20). Auf diese Weise entwickelte sich so etwas wie eine ge- meinsame Diskussionskultur in unseren Sitzungen.

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4.2 Feldforschung auf Burg Hohenzollern und auf der Meersburg

Bevor die Beobachtungen und Aufnahmen im Feld getätigt wurden, machte sich die Gruppe Gedanken über das Dokumentieren der Wirklichkeit, insbesondere auch zum Thema Objekti- vität. Schon einige Teilnehmer an der „Writing culture-Debatte“ kritisierten die Autorität des Ethnographen, weil dieser in seinen Texten stets nur eine mögliche Lesart der beobachteten Kultur präsentiert.31 Für die Ergebnisse unserer Feldforschung war es daher wichtig, dass wir uns bewusst waren und kritisch einschätzen konnten, dass wir das Feld aus einem in unserer Sozialisation verankerten Blick sehen würden und wir es grundsätzlich nicht objektiv be- schreiben können. Wirklichkeitsverfälschende Faktoren lassen sich exemplarisch an den von uns gemachten Filmaufnahmen zeigen, etwa was die Wahl des Ausschnitts angeht. Das Ob- jektiv einer Kamera erfasst immer mehr als das menschliche Auge wahrnehmen kann. Bei der Auswertung der Bilder wird man sich also auf Szenerien im Bild konzentrieren, die man für relevant hält. Es stellt sich somit die Frage, ob eine solche Auswahl die Wirklichkeit objektiv wiedergeben kann. Ähnliches gilt für Kameraperspektive und Einstellungsgröße. Die Stand- ortwahl der Kamera fällt immer nur auf eine der unendlich möglichen Perspektiven, aus der das Feld betrachtet werden kann. Dieser Aspekt wird zudem von der Einstellungsgröße beein- flusst. Erfasst man das Feld in der Totale und dokumentiert zum Beispiel „Rudelverhalten“, so wird es schwer, Gestik und Mimik der Akteure zu analysieren.32 Obwohl diese Faktoren kameraspezifisch sind, kann man sie leicht auf das menschliche Auge übertragen. Selbst mit der klassischen Stift-und-Zettel-Kombination wird man stets eine Entscheidung treffen und nur das registrieren, was man für seine Arbeit als relevant empfindet. Die tatsächliche Wirk- lichkeit kann also niemand registrieren.

Kommen wir zur Planung und Durchführung unserer Feldforschungen. Der Zeitrahmen für diese Arbeit war mit nur einem Semester sehr begrenzt, weshalb die Vorbereitung für die Feldforschung einen gewissen Stellenwert einnahm. Wir mussten sicherstellen, dass jegliche Aufnahmen gleich beim ersten Versuch erfolgreich durchgeführt werden würden, da das enge Zeitfenster keine weiteren Termine zuließ, an denen die Gruppe erneut ins Feld hätte gehen können. Dies erforderte, dass wir uns bereits im Vorhinein möglichst ausführlich mit dem Feld und auch mit der Technik auseinandersetzten. Grundsätzlich stellten wir uns die Frage, was es alles zu registrieren gilt. Wie oben beschrieben, war es uns bewusst, dass die Wirk-

31 Vgl. etwa Clifford (1993).

32 Überlegungen dieser Art könnten mit der zunehmenden Verbreitung von Kameras in der Ethnographie in Analogie zur „Writing culture-Debatte“ zu einer „Visualizing culture-Debatte“ (S. Krämer) führen.

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lichkeit unter keinen Umständen objektiv dargestellt werden konnte. Dennoch wollten wir uns bemühen, möglichst objektive Ausrisse dieser Wirklichkeit einzufangen. Dies beinhaltete ex- plizit, auch vor dem möglicherweise Banalen, das wir vorfinden würden, nicht Halt zu ma- chen, sondern im Gegenteil gerade hierauf unser Augenmerk zu richten. Die Gruppe hat sich für zwei Felder entschieden, in denen die Beobachtung touristischer Praxis selbst im Winter möglich sein sollte. Am 26. November 2006 besuchte der Großteil der Gruppe die Burg Ho- henzollern, der andere Teil fuhr am 3. Dezember 2006 auf die Meersburg. Die TeilnehmerIn- nen an diesen Exkursionen sowie deren genauer Ablauf, festgehalten in zwei Feldtagebü- chern, kann den Anhängen 1 und 2 entnommen werden.

Unser Ziel war es, möglichst unvoreingenommen alle möglichen Daten zu sammeln. Der Da- tenkorpus zeigt, dass in dieser Hinsicht beide Feldausflüge sehr erfolgreich waren. Ein solcher Erfolg hängt von verschiedenen Faktoren ab, die nur zum Teil in der Macht des bzw. der Eth- nographen liegen. Was die planbaren Faktoren angeht, so war im Falle unserer Untersuchung wichtig, die Feldforschung auf die Öffnungszeiten und Führungstermine der Burgen abzu- stimmen. Natürlich spielt auch die Fahrtzeit zu den jeweiligen Objekten eine Rolle, um den Tagesablauf zu planen. Da die Gruppen auf beiden Burgen mit einem komplexen Feld kon- frontiert waren, galt es im Vorhinein festzulegen, wer von uns welche Daten registrieren soll- te. Daher wurden Teams gebildet, die für eigene Bereiche - Interviews, Tonaufnahmen, Bild- und Videoaufnahmen - verantwortlich waren. Durch diese Kompetenzzuweisung war ein um- fangreicher Datenkorpus praktisch schon gesichert. Wichtig war es außerdem, den Teilneh- merInnen eine Einführung in die mitunter komplizierte Technik der Aufnahmegeräte zu ge- ben. Der Gruppe war bewusst, dass sie sich auf Fotografier- bzw. Filmverbote einstellen musste. Die forschungsethische Frage, ob man Menschen beobachten, filmen, belauschen oder fotografieren darf, ohne dass diese davon Kenntnis haben, beantworteten wir mit „ja“.

Der Hauptgrund war, dass die erhobenen Daten für unsere Forschungszwecke anonymisiert werden würden (was freilich im Falle von Bildmaterial gewisse Probleme mit sich bringt).

Weiterhin entschieden wir uns, mögliche Fotografier- und Filmverbote zu ignorieren.33 Neben den planbaren Faktoren gibt es eine Reihe von Zufallsfaktoren, die aus jeder Feldforschung auch eine Art von Glücksspiel machen. Ein solcher Faktor, der gerade im Falle einer Untersu- chung von Tourismus nicht zu unterschätzen ist, ist das Wetter. Die kalte Jahreszeit gab An- lass zu Bedenken, dass sich nicht genügend Personen im Feld befinden könnten. Wir hatten

33 Anmerkung von Gerold Gerber: Wer genau in diese Entscheidungsfindung zu welchem Zeitpunkt eingebun- den war, lässt sich nicht mehr eindeutig rekonstruieren. Gehen wir daher von einem Konsens aus.

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jedoch großes Glück, da wir an beiden Terminen schönstes Ausflugswetter hatten. Beide Bur- gen waren gut besucht, wobei uns überraschte, wie international das Publikum insbesondere auf der Burg Hohenzollern war - von Chinesen und Indern über Italiener und Kolumbianer bis hin zu Amerikanern waren die unterschiedlichsten Nationalitäten vertreten -, da wir vorwie- gend mit Besuchern aus der näheren schwäbischen Umgebung gerechnet hatten. Der Gruppe war im Vorhinein auch nicht klar, inwieweit es gelingen würde, sich als Feldforscher unter die Masse der Touristen zu mischen. Da wir uns dazu entschieden hatten, vorwiegend inkog- nito zu arbeiten, stellten wir uns auch die Frage, wie es wohl aufgenommen werden würde, wenn unsere Tarnung auffliegen würde. Erstaunlicherweise sind wir aber die ganze Zeit über unentdeckt geblieben (zumindest was die Erwachsenen angeht, Kinder sind in diesem Punkt bedeutend aufmerksamer). Dies liegt wohl, wie gesagt, zu großen Teilen am Charakter des touristischen Feldes, da man hier mit einem Fotoapparat, einer Videokamera oder beim Auf- nehmen von Gesprächen im Gedränge weit weniger auffällt als in anderen Feldern, etwa in einer Behörde, einem Unternehmen oder einem Möbelhaus. So führte zum Beispiel die Meersburg-Gruppe ihre Einführung in die Technik völlig ungestört im winzigen Kassenhäu- schen direkt neben dem Mann an der Kasse durch, ohne dass dieser auch nur den geringsten Verdacht schöpfte.

Beim Sichten der erhobenen Daten stellte die Gruppe fest, dass es im Feld Phänomene gibt, die zu Beginn unserer Forschung noch keine Berücksichtigung gefunden hatten. So wurde uns im Verlauf der Arbeiten bewusst, dass die Rolle von Kindern im Tourismus ein wichtiger Aspekt ist, der nicht unterschlagen werden sollte. Anfangs eher als Störfaktor wahrgenom- men, nahmen wir Kinder im Verlauf der Untersuchung zunehmend als konstitutiven Teil des Burgentourismus ernst. Viele Familien nahmen an den Führungen teil, die, besonders im Falle der Burg Hohenzollern, eher auf Erwachsene ausgerichtet sind. Dementsprechend wurden die Burgführerinnen zum Teil durch naive Kinderfragen gänzlich aus dem Konzept gebracht.

Eine solche Änderung bzw. Erweiterung der Forschungsfrage ist bei der Grounded Theory jedoch kein Problem, sondern ganz im Gegenteil in der Methode inbegriffen.

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