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Abgestempelt zum Außenseiter? Resozialisierung als gesamtgesellschaftliche Aufgabe

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Academic year: 2022

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Abgestempelt zum Außenseiter? – Resozialisierung als gesamtgesellschaftliche Aufgabe

Marion Schadek-Bätz

„Lebenslänglich“ ist die höchste Strafe, die ein deutsches Gericht verhängen kann. Doch wie gelingt der Weg zurück in die Gesellschaft? Der als Fernsehkommissar Kowalski aus der Serie „SOKO Leipzig“

bekannte Schauspieler Steffen Schroeder sucht in seinem Buch „Was alles in einem Menschen sein kann“ Antworten. Anhand von Textauszügen setzen sich die Lernenden mit Möglichkeiten ehrenamt- lichen Engagements auseinander. In Gruppen erarbeiten sie Vorschläge für Verbesserungen im Straf- vollzug. Im Rollenspiel üben sie den Perspektivwechsel und schärfen ihre Urteilskompetenz.

KOMPETENZPROFIL

Klassenstufe: 10/11

Dauer: 7 Unterrichtsstunden + 1 Stunde Lernerfolgskontrolle

Kompetenzen: Die Begriffe „Philosophie“, „Ethik“ und „Moral“ voneinander abgren- zen; philosophische, strafrechtliche und alltägliche Fragen unterschei- den; ethische Grundsätze, auf denen unser Rechtswesen beruht, be- nennen und erläutern; die Tragfähigkeit unterschiedlicher ethischer Ansätze beurteilen; die Bedeutsamkeit und die Orientierungsfunktion philosophischer Fragen begründen

Thematische Bereiche: Strafe, Straftat, Strafmaß, Resozialisierung, Ehrenamt, ehrenamtliche

© Alex Potemkin/Getty Images

V ORANSICHT

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© RAABE 2020

Auf einen Blick

„Mörder ist, wer …“ – Was unterscheidet Mord von anderen Tötungsdelikten?

M 1 „Mörder ist, wer …“ – Textauszüge zur Gesetzgebung von 1700 v. Chr. bis heute / Laut § 211 Strafgesetzbuch (StGB) unterscheidet sich Mord durch „Vor- satz“, aber auch „Heimtücke“ von anderen Tötungsdelikten. Wie aber lassen sich

„niedrige Beweggründe“ nachweisen? Die Lernenden vergleichen die ethischen Grundpositionen, die sich in der Gesetzgebung Hammurabis, Solons und des StGB im Umgang mit dem Tatbestand Mord widerspiegeln.

M 2 „So einen sollte man doch …!“ – Hinter jeder Tat steht ein Mensch / Die Lernenden befassen sich mit Zielsetzungen des modernen Strafvollzugs und ent- wickeln Vorschläge für dessen Reform.

M 3 Gibt es ein Recht auf eine zweite Chance? / Ausgehend von Steffen Schroe- ders Bericht über seine erste Begegnung mit Micha diskutieren die Lernenden, ob und wenn ja warum jeder Mensch eine zweite Chance verdient hat.

„Bin ich meines Bruders Hüter?“ – Wieso Verantwortung übernehmen?

M 4 „Bin ich meines Bruders Hüter?“ – Wieso Verantwortung übernehmen? / Immer wieder hinterfragt Steffen Schroeder seine eigenen Motive. Micha hinge- gen weigert sich, sich seiner Vergangenheit zu stellen. Er sieht sich vor allem als Opfer des Systems. Er fühlt sich von der Gesellschaft abgelehnt, die er in Teilen dafür verantwortlich macht, was aus ihm geworden ist. Wie gehen die beiden mit Verantwortung um?

M 5 Haben wir nicht alle unser Päckchen zu tragen? / Wie hat sich Michas Per- spektive auf sein Leben und seine Tat im Laufe der Beziehung zu Steffen ver- ändert? In Partnerarbeit führen die Lernenden einen sokratischen Dialog über Dinge, für die wir als Teil der Gesellschaft Verantwortung übernehmen.

Vorzubereiten: Sie benötigen die Sprechblase in vergrößerter Kopie auf Folie, einen Overhead- Projektor oder Beamer.

„Wer nicht hören will, muss fühlen!“ – Wozu Strafe?

M 6 „Wer nicht hören will, muss fühlen!“ – Wozu Strafe? / Gehört es zu den Straf- zwecken, Rachegelüste zu befriedigen? Die Lernenden befassen sich mit Aus- zügen aus dem Strafgesetzbuch, das den Justizvollzug regelt und lernen unter- schiedliche Perspektiven auf den Strafvollzug kennen.

Stunde 1

Stunde 2

Stunde 3

V ORANSICHT

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Aufgeben verboten – Nächstenliebe bis zur Erschöpfung?

M 7 Aufgeben verboten – Nächstenliebe bis zur Erschöpfung? / Erwartungen von Strafgefangenen an ihre Kontaktpersonen stellen für diese oft eine Herausforde- rung dar. Sie fühlen sich nicht selten vereinnahmt. Die Lernenden reflektieren das Spannungsfeld zwischen Helfersyndrom und Solidaritätsprinzip. Ein Textauszug legt Steffen Schroeders Motive für sein ehrenamtliches Engagement dar.

M 8 Das irrende Gewissen – „Die Protokollantin“ (ZDF) / „Die Protokollantin“

führt in der gleichnamigen ZDF-Serie Verbrecher, die ungeschoren davonge- kommen sind, ihrer vermeintlich gerechten Strafe zu, bis ihr Zweifel kommen.

Können wir Verbrechen wirklich abschließend beurteilen? Oder ist Bescheiden- heit gefordert?

Erwartungen und Erwartungserwartungen

M 9 „Der denkt jetzt bestimmt, ich denke …“ – Erwartungen und Erwartungs- erwartungen / Damit die Begegnungen zwischen Häftlingen und Ehrenamtlichen gelingt, ist es notwendig, eine gemeinsame Ebene zu finden, Erwartungen und Vorstellungen von Erwartungen des Gegenübers („Erwartungserwartungen“) miteinander in Einklang zu bringen. Ein Textauszug zeigt, wie Micha und Steffen Schroeder im Gespräch die Balance zu finden versuchen.

Ein eigener Staat hinter Gittern – Wie sind Gefängnisse organisiert?

M 10 „Ein eigener Staat hinter Gittern?“ – Mikrokosmos Gefängnis / Im Gefängnis gelten eigene Regeln. Aus Überlastung oder Bequemlichkeit wird es der jeweils tonangebenden Gruppe überlassen, die Verhältnisse zu regeln. Erpressung, Folter oder Vergewaltigungen unter den Häftlingen werden in Kauf genommen. Micha beschreibt die Knasthierarchie am Beispiel der „Diebe im Gesetz“. Die Lernenden reflektieren die Folgen ihres „Regimes hinter Gittern“.

Das Recht zu hoffen

M 11 Das Recht zu hoffen / Ausgehend von einem Textauszug des Philosophen Axel Schlot erstellen die Lernenden arbeitsteilig Texte, Plakate, Flyer und Comics zu Ursprung und Funktion von Hoffnung. Die Stunde kann den Auftakt zu einer Projektwoche bilden, in der mit externen Partnern aus Prävention, Opfer- und Straffälligen-Hilfe zusammengearbeitet wird.

Vorzubereiten: Für den Flyer oder Comic benötigen die Lernenden DIN-A4-Blätter, Plakate oder Stifte.

Lernerfolgskontrolle

M 12 Klausurvorschlag / Mithilfe der Klausur kann der Lernstand der Schülerinnen

Stunde 4

Stunde 5

Stunde 6

Stunde 7

Stunde 8

V ORANSICHT

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© RAABE 2020

„So einen sollte man doch …!“ – Hinter jeder Tat steht ein Mensch

Während der Haft soll der Gefangene befähigt werden, nach seiner Freilassung ein Leben ohne Straf- taten, in sozialer Verantwortung zu führen. Das ist das sogenannte Vollzugsziel. Die Realität in deut- schen Gefängnissen sieht anders aus.

Aufgaben

1. Legen Sie unter Bezugnahme auf den nachfolgenden Text begründet dar, ob Gefängnisse dem oben formulierten Vollzugsziel der Haft gerecht werden.

2. Erarbeiten Sie in Partnerarbeit Vorschläge für eine Reform des Strafvollzugs. Beziehen Sie sich dabei auch auf Ihre vorherigen Überlegungen zu ethischen Grundpositionen.

3. Zusatzaufgabe für schnelle Philosophen: Bewerten Sie, inwieweit sich Platons Höhlengleichnis auf die Situation von Strafgefangenen übertragen lässt.

Autor Steffen Schroeder liest in Buchhandlungen und Justizvoll- zugsanstalten, auf Veranstaltun- gen von Opferverbänden, an Schulen und Universitäten. „Mit Jura-Studenten diskutiere ich häufig über den Mordparagra- fen, der unter Juristen sehr um- stritten ist“, berichtet er. „Die Grenzen zwischen Totschlag und Mord sind oft fließend, haben aber in der Verurteilung weitrei- chende Konsequenzen, da bei ei- nem Mord eine lebenslängliche Haftstrafe zwingend vorgeschrie- ben ist und eine vorzeitige Ent- lassung nach 15 Jahren eher die Ausnahme bildet. Durchschnitt- lich sitzen die Häftlinge circa 20 Jahre ein, manche bedeutend länger.“

Übrigens: Rund 80 Prozent der Häftlinge in Deutschland sitzen nach Recherchen des Autors

nicht wegen Gewaltdelikten ein. Ein Großteil von ihnen stelle keine unmittelbare Gefahr für unsere Gesellschaft dar und geben an, die „richtig schlimmen Dinge“ erst im Knast gelernt zu haben.

Textauszüge aus: Schroeder, Steffen: „Was alles in einem Menschen sein kann.“ Begegnung mit einem Mörder. Rowohlt Verlag, Berlin 2017.

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© Foto: Weißer Ring 1

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„Mörder ist, wer …“ – Textauszüge zur Gesetzgebung von 1700 v. Chr. bis heute

Laut Strafgesetzbuch unterscheidet sich Mord durch „Vorsatz“, aber auch „Heimtücke“ und „niedrige Beweggründe“ von anderen Tötungsdelikten. Doch wie lassen sich diese Merkmale nachweisen? Und warum nehmen wir in diesem Falle den Täter in den Blick und nicht die Tat?

Aufgaben

1. Bilden Sie drei Expertengruppen A, B und C. Lesen Sie den Ihrer Gruppe zugeordneten Text. Arbei- ten Sie die ihnen zugrundeliegenden ethischen Grundpositionen heraus, die für den Umgang mit dem Tatbestand „Mord“ gelten.

2. Finden Sie sich in Gruppen zusammen, bestehend aus je einem Mitglied der Gruppen A, B und C.

Vergleichen Sie Ihre Ergebnisse. Entwerfen Sie dann in der Gruppe einen eigenen Mordparagrafen.

Stellen Sie diesen anschließend im Plenum vor.

3. 2016 forderte der damalige Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD), das Strafrecht zu reformieren und den Mordparagrafen zu modifizieren. Er forderte unter anderem, dass Mord, wie andere Tö- tungsdelikte auch, nicht mehr mit einer lebenslangen Haft bestraft werde. Führen Sie eine Pro- und Kontra-Debatte in der Klasse durch.

Text Gruppe A

Ich, Hammurabi, […] der König, der sich die vier Welten hörig machte, der Günstling Ištars, das bin ich. Als Marduk mich beauftragte, die Menschen gerecht zu leiten und dem Lande Ordnung zuzuweisen, habe ich Recht und Gerechtigkeit in den Mund des Landes gelegt und für das Wohlsein der Menschen sorgte ich gut, damals (setzte ich fest):

§ 1 Wenn ein Bürger einen Bürger des Mordes bezichtigt, ihn aber nicht überführt, so wird der, der ihn bezichtigt hat, getötet.

§ 2 Wenn ein Bürger einem Bürger Zauberei vorgeworfen hat, ihn aber nicht überführt, so geht der, dem Zauberei vorgeworfen wird, zur Flussgottheit, taucht in den Fluss hinein, und wenn der Fluss ihn erlangt [d. h., wenn er untergeht], so erhält, der ihn bezichtigt hat, sein Haus. Wenn der Fluss diesen Bürger für frei von Schuld erachtet und er heil da- vonkommt, so wird der, der ihm Zauberei vorgeworfen hat, getötet, der, der in den Fluss hinabgetaucht ist, erhält das Haus dessen, der ihn bezichtigt hat.

Text: Eilers, Wilhelm (Hrsg.): Codex Hammurabi. Die Gesetzesstele Hammurabis. Marix Verlag, Wiesbaden 2009.

Text Gruppe B

Man warf endlich […] die Augen auf einen unbescholtenen und allgemein gefürchteten Bürger, dem die Verbesserung der Gesetze, die bis jetzt nur in mangelhaften Traditionen bestanden, übertragen ward. Drako hieß dieser gefürchtete Bürger – ein Mann ohne Menschengefühl, der der menschlichen Natur nichts Gutes zutraute, alle Handlungen bloß in dem instern Spiegel seiner eignen trüben Seele sah und ganz ohne Schonung war für die Schwächen der Menschheit; ein schlechter Philosoph und ein noch schlechterer Kenner der Menschen, mit kaltem Herzen, beschränktem Kopf und unbiegsam in seinen Vorurteilen. Solch ein Mann war vortreflich, Gesetze zu vollziehen; aber sie zu geben, konnte man keine schlimmere Wahl treffen. […] Alle Verbrechen strafte

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Kohls oder eines Schafs wie den Hochverrat und die Mordbrennerei. Als man ihn daher fragte, warum er die kleinen Vergehen ebenso streng bestrafe als die schwersten Verbrechen, so war seine Antwort: „Die kleinsten Verbrechen sind des Todes würdig;

für die größeren weiß ich keine andre Strafe als den Tod – darum muss ich beide gleich be- handeln.“

Text: Schiller, Friedrich: Die Gesetzgebung des Lykurgus und Solon. In: Schillers sämtliche Werke. Band 4. Cotta Verlag, Stuttgart 1879.

Text Gruppe C

Wovon hängt ab, ob es sich bei einem Tötungsdelikt um Mord handelt? Laut Strafgesetzbuch ist Mörder, wer „aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs, aus Habgier oder sonst aus niedrigen Beweggründen, heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährli- chen Mitteln oder um eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken, einen Men- schen tötet.“ (§ 211, 2) Der heute gültige Mordparagraf stammt aus dem Jahr 1941. Er geht zurück auf den berüchtigten NS-Strafrichter Roland Freisler. Der Paragraf ist in Juristenkrei- sen heftig umstritten. Denn ausschlaggebend für die Einstufung der Tat ist die Gesinnung des Täters. Unklare Begriffe wie „Heimtücke“ oder „niedrige Beweggründe“ gelten als potenziel- les Einfallstor für Willkür. Im Gegensatz zum Totschlag (§ 212 StGB) ist bei Mord zwingend eine lebenslange Freiheitsstrafe vorgesehen. Diese gilt jedoch nicht als absolute Strafe im Sinne eines tatsächlichen Freiheitsentzuges bis zum Lebensende. Seit Inkrafttreten des Straf- vollzugsgesetzes von 1977 können sich auch Verurteilte auf die Grundrechte berufen. Aus Gründen der Menschenwürde haben sie die grundsätzliche und gesetzlich festgeschriebene Chance, die Freiheit wiederzuerlangen.

Text: Autorentext.

Methodenkasten: Wie gelingt ein Gruppenpuzzle?

1. Bilden Sie drei Gruppen: A, B und C.

2. Lesen Sie den Ihrer Gruppe zugeordneten Text. Tauschen Sie sich in der Gruppe untereinander aus. Klären Sie im Zuge dessen Verständnisfragen. Sie sind nun Experte für diesen Text.

3. Bilden Sie nun erneut Gruppen, die sich zusammensetzen aus jeweils einem Mitglied aus Gruppe A, Gruppe B und Gruppe C.

4. Stellen Sie sich nun reihum in der Gruppe Ihren Text und dessen Auffassung in Bezug auf Mord und das dazugehörige Strafmaß dafür vor. Klären Sie Verständnisfragen. Grenzen Sie die einzelnen Auffassungen voneinander ab.

5. Formulieren Sie auf der Basis des gemeinsam Erarbeiteten einen eigenen Mordparagrafen.

Definieren Sie den Sachverhalt „Mord“. Grenzen Sie ihn von Totschlag ab und definieren Sie ein Ihnen sinnvoll erscheinendes Strafmaß für Mord und Totschlag.

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Gibt es ein Recht auf eine zweite Chance?

„Es gibt keine zweite Chance für einen ersten Eindruck“, lautet ein Sprichwort. Doch wie viel geben wir in Begegnungen über uns preis? Wie ehrlich wollen wir anderen gegenüber sein? Was können wir anderen zumuten? Und was behalten wir im Gespräch besser für uns?

Aufgaben

1. Erstellen Sie ein Proil des Strafgefangenen Micha, so wie er sich Ihnen in den nachfolgenden Text- auszügen aus Steffen Schroeders Buch „Was alles in einem Menschen sein kann“ präsentiert.

2. Stellen Sie Ihre Ergebnisse im Plenum vor.

3. Diskutieren Sie, ob Micha Ihrer Meinung nach eine „zweite Chance“ bekommen sollte. Worin könn- te diese bestehen?

Steffen lernt Micha kennen

• Ich bin etwas aufgeregt. Schließlich lerne ich heute den Häftling kennen, den ich zukünftig als eh- renamtlicher Vollzugsbeamter betreuen soll, falls wir „miteinander klarkommen“. Bisher weiß ich nicht viel über ihn. Er ist in meinem Alter, rechtsextremer Hintergrund, Drogenkarriere, inzwischen auf Methadon, niedriger IQ, hieß es. Und er ist zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt worden, wegen eines Mordes. Lebenslänglich, das heißt in seinem Fall: Er sitzt schon seit vierzehn Jahren und wird wohl auch noch ein paar Jahre sitzen. (S. 8)

• Dort, beim Pförtner, sitzt ein Mann, der sich nun erhebt, offensichtlich hat er schon auf uns gewar- tet. Unsicher lächelnd steht er vor mir. Wir werden einander vorgestellt, geben uns die Hand. Frau Müller [die Sozialarbeiterin] fragt hölich, ob sie sich noch zu uns setzen soll, was wir beide spontan ablehnen. „Nicht nötig“, sagen wir beinahe gleichzeitig. (S. 9)

• Micha sitzt mir nun gegenüber, wir sehen uns schüchtern an. Sein Äußeres hat etwas Furcht- einlößendes. Stämmige Figur, die Arme großlächig tätowiert, ebenso der Nacken. In seinem T-Shirt-Ausschnitt sind weitere Tattoos zu sehen, auf den Handknöcheln stehen die Worte „Skin“

und „Hass“, in Großbuchstaben. Selbst auf der Kopfhaut schimmert ein großes, lammenartiges Tattoo unter den kurzen dünnen Haaren. Doch am meisten fallen mir seine Augen auf: die Pupillen nur stecknadelgroß, starrer Blick. (S. 10)

Text: Schroeder, Steffen: „Was alles in einem Menschen sein kann“. Begegnung mit einem Mörder. Rowohlt Verlag, Berlin 2017.

Unser Profil von Micha

Unser Profil von Micha

Alter

Gedanklicher Hintergrund

Entwicklung Verurteilt wegen

Äußeres/Wirkung auf Steffen

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Das irrende Gewissen – „Die Protokollantin“ (ZDF)

Aufgaben

1. Grenzen Sie die Begriffe „Gerechtigkeit“, „Gewissen“, „Moral“ und „Ethik“ voneinander ab.

2. Kommentieren Sie Freyas Aussage in Hinblick auf ausgleichende Gerechtigkeit: „Aber es kommt niemand. […] Und das ändert alles.“

Freya Becker kämpft für Gerechtigkeit In der ZDF-Reihe „Die Protokollan- tin“ erstellt Freya Becker, gespielt von Iris Berben, seit vielen Jahren bei der Berliner Mordkommission Vernehmungsprotokolle. Die Stim- men unzähliger Täter und Opfer verfolgen sie bis in den Schlaf. Um den Schlaf bringt sie auch der Ge- danke an ihre Tochter, die vor zwölf Jahren verschwand und ver- mutlich einem Gewaltverbrechen

zum Opfer fiel. Der mutmaßliche Auftraggeber sitzt wegen einer anderen Straftat im Gefängnis und schweigt. Freyas stummes Ringen um Klarheit bleibt ihrer Umgebung zunächst ebenso ver- borgen wie ihr Entschluss, Verdächtige, von deren Schuld sie überzeugt ist, im Falle eines Frei- spruchs ihrer gerechten Strafe zuzuführen, sie, wenn es gar nicht anders geht, zu töten. Sie folgt dabei einzig ihrem Gewissen: „Ich glaube nicht an Gerechtigkeit. Gerechtigkeit hat was mit Glück zu tun, aber nicht mit Recht. Und die, die kein Glück haben, müssen sich eben fügen. Oder sie warten – auf die ausgleichende Gerechtigkeit, die eines Tages kommen wird. Aber es kommt niemand. Das sollte man wissen. Und das ändert alles.“

Als in einem Fall neue Beweise auftauchen, fragt Freya sich erstmals, ob sie den Richtigen be- straft hat. Auch im Zusammenhang mit dem Verschwinden ihrer Tochter erscheint ihr plötzlich einiges in einem anderen Licht.

Autorentext.

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© Foto: ZDF 1

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„Der denkt jetzt bestimmt, ich denke …“ – Erwartungen und Erwartungserwartungen

Aufgaben

1. Arbeiten Sie Michas und Steffens Erwartungen aus dem Textauszug heraus.

2. Erläutern Sie, welche Erwartungserwartungen hier nicht erfüllt werden, sodass die Kommunikation gestört ist.

3. Diskutieren Sie, inwiefern induktive Schlüsse das Leben (nur scheinbar) vereinfachen.

Hume und die Endgültigkeit von Aussagen

Der Philosoph David Hume (1711–1776) ging der Frage nach, warum Menschen von dem, was sie in der Vergangenheit beobachtet haben, auf das schließen, was sie in der Zukunft glauben zu beobach- ten. Auch wenn die Aussage „Alle beobachteten Smaragde sind grün“ bisher nicht widerlegt ist, lässt sich daraus nicht mit Sicherheit schließen, dass „alle Smaragde grün sind“ und es keine Ausnahmen gibt. Dennoch bieten solche sogenannten induktiven Schlüsse, bis das Gegenteil bewiesen ist, eine ge- wisse Verlässlichkeit bei der Einordnung alltäglicher Beobachtungen. Sie sorgen dafür, dass wir nicht ständig alles neu denken und infrage stellen müssen. Sie ermöglichen uns, eine gewisse Routine zu entwickeln.

Luhmann und die Komplexität sozialer Systeme

Erwartungen helfen uns, die Komplexität sozialer Systeme zu reduzieren. Der Soziologe Niklas Luh- mann untersuchte die Bedeutung von Erwartungserwartungen für das Gelingen von Kommunikation.

Er untersucht also Erwartungen, die sich auf die Erwartungen eines Gegenübers beziehen. Ein Beispiel:

Ein Mann kocht für seine Familie und erwartet, dass diese pünktlich zum Mittagessen erscheint. Das gelingt aber nur, wenn seine Familie erwartet, dass er von ihr erwartet, dass sie um 12 Uhr am Tisch sitzt.

Kommunikation zwischen Strafgefangenen und Helfern

In der Kommunikation ist es wichtig, sich auf seinen Gesprächspartner einzustellen und eine gemein- same Ebene zu finden. Begegnungen zwischen Strafgefangenen und ehrenamtlichen Vollzugshelfern finden jedoch nicht auf Augenhöhe statt. Deshalb lassen sie nur bedingt induktive Schlüsse zu. Damit Vertrauen entstehen kann, ist es notwendig, sich seine eigene Erwartungshaltung gegenüber dem an- deren bewusst zu machen und die Signale des Gegenübers richtig zu deuten. Es ist wie beim Wippen.

Man ist nicht dauerhaft auf einer Höhe, doch kann man durch Feingefühl und intensiven Austausch mit dem Gegenüber zumindest für eine Zeit lang die Balance herstellen. In seinem Buch schildert Stef- fen Schroeder, wie er und der Strafgefangene Micha immer wieder, trotz schwieriger Voraussetzungen, versuchen, eine Balance herzustellen:

„‚Im Gutachten ist es so beschrieben, als ob ihr einfach nur Bock gehabt hättet, wen zu verprügeln.‘

[Micha] sieht mich an, hört mir zu, während ich die nächste Abweichung nenne: die Tatsache, dass sie wohl von Anfang an geplant hatten, das Opfer auch gleich auszurauben, was er mir ebenfalls anders erzählt hatte. ‚Ja, okay, so war es auch gemeint. Bei uns heißt ‚einen vermöbeln‘ auch, ihn ‚abzuziehen‘.‘ ‚Hast du nie so erklärt.‘ ‚Da hab ich ’n bisschen geflunkert‘, gesteht er. […] Ich erkläre ihm, dass es mir lieber wäre, wenn er mir die Dinge ungeschönt mitteilt, wie sie waren.“

Text: Schroeder, Steffen: „Was alles in einem Menschen sein kann“. Begegnung mit einem Mörder. Rowohlt Verlag, Berlin 2017. S. 57.

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