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Archiv "NS-Machtergreifung (II): Abwärts auf der schiefen Bahn" (11.04.2008)

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Deutsches ÄrzteblattJg. 105Heft 1511. April 2008 A781

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igenhändig tippt Dr. Adolf Schiemann am 25. März 1933 einen Brief an Adolf Hitler mit der dringenden Bitte, bei den kommenden ärztlichen Kongres- sen – der Chirurgen in Berlin und der Internisten in Wiesbaden – im Auge zu behalten, „dass der Vor- sitz und die Vortragsfolge nicht vorwiegend von Herren jüdischer Confession beherrscht werden“. Ein handschriftlicher Vermerk auf dem Briefrand, offenbar aus dem Reichs- ministerium des Innern (RMdI), be- stätigt, in diesem Sinne vorgesorgt zu haben.

Ein Jahr später sorgen die Inter- nisten selbst beizeiten vor. Prof. Dr.

Alfred Schittenhelm aus Kiel, der Vorsitzende des Internistenkon- gresses 1934, fragt beim RMdI an,

„ob von der Reichsregierung eine geeignete Persönlichkeit zum Füh- rer der Gesellschaft für innere Me- dizin ernannt werden soll oder wie

bisher durch Wahl aus dem Vor- stand der Gesellschaft der Führer bestimmt werden soll“. Das Minis- terium hat gegen eine Wahl nichts einzuwenden, verlangt aber, dass der Vorstand durch das RMdI be- stätigt wird.

Wagner bittet um eine kurze Bescheinigung

Bestätigungen sind längst üblich, Schittenhelm ist sogar etwas spät dran. Selbst den Vorsitzenden des NS-Ärztebundes, Dr. Gerhard Wag- ner, der seit März 1933 ungezählte

„Beauftragte“ und „Kommissare“

bestätigt und sich selbst zum

„Reichsführer“ berufen hat, über- kam nach seinem Eroberungszug das Bedürfnis nach staatlicher Be- stätigung. Und so bat er Ende April 1933 das RMdI um eine „kurze Be- scheinigung“, dass er nunmehr der

„Reichsleiter der deutschen Ärzte- schaft“ sei. Das Ministerium zierte

sich und bestätigte lediglich, dass Wagner „an der Führung der deut- schen Ärzteschaft maßgebend teil- nimmt“. Wagner ärgerte sich und schmetterte zurück: „Ich nehme nicht maßgebend an der Führung der gesamten deutschen Ärzte- schaft teil, sondern ich bin der allei- nige Führer der gesamten deut- schen Ärzteschaft mit absoluten Vollmachten und als solcher auch von den ärztlichen Spitzenverbän- den anerkannt.“

Das Hin und Her über Führung und Organisation der Ärzteschaft sollte eine Reichsärzteordnung klären. Zugleich sollten mit ihr alte ärztliche Forderungen erfüllt wer- den. Damit hatte Wagner die alte Führungsriege gelockt. Die tat sich mit den neuen Herren zunächst zu- sammen.

Am 31. März 1933 nämlich – zehn Tage nach dem „Tag von Pots- dam“ (dazu DÄ, Heft 12/2008) – trifft sich in Leipzig, im Haus des Hart- mannbundes, der Reichsärzteord- nungsausschuss unter Leitung von Geheimrat Dr. Alfons Stauder, dem Vorsitzenden von Ärztevereinsbund Standesorganisation, Staat und Partei wurden verflochten.

Das Erbgesundheitsgesetz bezog die Ärzteschaft ein.

Auf Zwangssterilisation folgte Zwangseuthanasie.

„Euthanasie“

war angeblich geheim, wenn auch die grauen Busse durchs Land fuhren und die Verbren- nungsöfen hübsche Städtchen mit fettem Rauch belästigten.

Auf dem Foto erkennt man den rauchenden Schornstein des Krematoriums der NS-Tötungsanstalt Hadamar, vermut- lich aufgenommen im Jahr 1941.

Foto: Diözesanarchiv Limburg, Nachlass Pfarrer Becker

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und Hartmannbund. Anwesend sind ferner fünf weitere der alten Riege sowie zwei neue Herren, Wagners Kommissare. Dazu vier Mitarbeiter, die noch zwischen den Stühlen sitzen. Einer von ihnen, Dr. Karl Haedenkamp, hat das neue Ticket schon in der Tasche: Wenige Tage später tritt er im Reichsarbeitsminis- terium seinen neuen Dienst an und überwacht in Wagners Auftrag die

„Ausschaltung“ nicht arischer und sozialistischer Ärzte.

Die seltsame Leipziger Runde aus alten und neuen Herren sowie sprungbereiten Funktionären verab- schiedete, vermeintlich übereinstim- mend, den Entwurf einer Reichsärz- teordnung. Mit ihr sollte die ärzt- liche Selbstverwaltung gesetzlich fundiert werden. Die alte Riege ging am 31. März noch von demokrati- schen Strukturen der Selbstverwal-

tung aus, so als hätte sie die Zeichen der Zeit nicht erkannt. Der NS-Ärz- tebund sprach zwar auch von Selbst- verwaltung, meinte aber anderes.

Ganz andere Grundsätze

Im Juni 1933 reichte Wagner einen Entwurf der Reichsärzteordnung beim RMdI ein; in seiner Erläute- rung unterschied er zwischen alter und neuer Selbstverwaltung. Bei der Alten hätten die Betroffenen durch Mehrheitsbeschluss ihre Geschicke selbst bestimmen wollen. Wagner dagegen: „Die heutige Selbstverwal- tung geht von anderen Grundsätzen aus. Selbstverwaltung soll bleiben, weil eine Verstaatlichung in dem Sinne, dass alles durch Behörden des Staates erledigt wird, dem berufs- ständischen Gedanken nicht entspre- chen würde. Aber es soll der Staats- wille eindringen in die berufsständi- schen Lebensbereiche und diese in den Staat einbeziehen.“

Zum Vorreiter der neuen Selbst- verwaltung wird Preußen. Am 30.

Dezember 1933 tritt hier ein Gesetz

in Kraft, mit dem die Zuständigkeit der Mitgliederversammlungen auf die Kammervorstände übergeht, die- se wiederum werden vom preußi- schen Innenminister ernannt, das Amt der alten Vorstände „erlischt“.

Dr. Wagner habe „dem Gesetz zuge- stimmt“, versichert der Innenminis- ter und belegt so, dass die Grenzen zwischen Staat, Partei und Ärzte- führung bereits verwischt sind.

Das preußische Muster der „Er- nennung“ findet sich in der Reichs- ärzteordnung vom 13. Dezember 1935 (in Kraft seit dem 1. April 1936) wieder. Erstmals wird eine Reichsärztekammer errichtet. De- ren „Reichsärzteführer“ wird vom

„Führer und Reichskanzler berufen und abberufen“, der Reichsärzte- führer ernennt wiederum die regio- nalen Ärztekammern. Der Begriff meint eine Handvoll Funktionäre, nicht die Gesamtheit der Kammer- mitglieder. Von Wahlen keine Rede.

Der Deutsche Ärztetag (jetzt Reichsärztetag), das Prunkstück der alten Selbstverwaltung, wird beiläu-

fig erwähnt. Er tritt während des Dritten Reiches nie zusammen.

Während das „Führerprinzip“ für die Ärzte neu ist, findet man in der Reichsärzteordnung vielfach ein Gemisch alter und neuer Vorstellun- gen, zumeist drückt sich der neue Geist in wenigen eingeschobenen Worten aus. So heißt es etwa,

>die Ärzteschaft sei berufen,

„zum Wohle von Volk und Reich für die Erhaltung und Hebung der Ge- sundheit, des Erbgutes und der Ras- se des deutschen Volkes zu wirken“.

„Erbgut“ und „Rasse“ erscheinen neu, wenn auch nicht völlig fremd, sind doch eugenische Ideen in der Ärzteschaft allgemein verbreitet.

>wer „unbefugt“ gegen das Be- rufsgeheimnis verstoße, werde be- straft. Doch bleiben Verstöße straf- frei, wenn der Täter ein Geheimnis

„zur Erfüllung einer Rechtspflicht oder sittlichen Pflicht oder sonst ei- nem nach gesundem Volksempfin- den berechtigten Zweck offenbart, und wenn das bedrohte Rechtsgut überwiegt“. Eine Durchlöcherung der Schweigepflicht sahen auch schon ältere Entwürfe vor, neu ist das „gesunde Volksempfinden“.

>die Bestallung (Approbation) sei solchen Bewerbern zu versagen, denen die „nationale oder sittliche Zuverlässigkeit“ fehlt oder die

„nicht deutschblütig“ sind. Das ist neu und eindeutig nazistisch. Doch läuft der Alltag längst auf dieser Schiene. Man erinnere sich daran, wie rigoros die örtlichen Ärzte- vereine 1933 ihre jüdischen oder politisch missliebigen Kollegen aus den Praxen vertrieben haben.

Endlich kein Gewerbe mehr

Mit der Reichsärzteordnung wird dem Arzt bescheinigt, zum Dienst an der Gesundheit des einzelnen Menschen und des gesamten Volkes berufen zu sein. Nach einer solchen Anerkennung ärztlichen Wirkens hatten ganze Ärztegenerationen ge- strebt. Nachdem die Ärzte im 19.

Jahrhundert der Kurierfreiheit aus- gesetzt und der Gewerbeordnung unterworfen wurden, sah man sich mit dem Makel des Gewerbetrei- benden gezeichnet. Ärzteverbände und Deutsche Ärztetage kämpften seitdem dafür, den Arzt aus der Ge-

Ich muss gestehen, dass auch ich nicht alle die Fragen beantworten konnte, müsste nach dieser Theorie der Fragebogen also auch sterilisiert werden.

Reichsärzteführer Gerhard Wagner zum Verfahren der Zwangssterilisation bei den Erbgesundheitsgerichten auf der Grundlage von „Intelligenzfragebögen“

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werbeordnung herauszunehmen, und bekämpften Kurierfreiheit und Kurpfuschertum. 1935 heißt es end- lich: „Der ärztliche Beruf ist kein Gewerbe.“ Die Kurierfreiheit wird mit der Reichsärzteordnung freilich nicht beseitigt, gibt es doch in der Partei zu viele prominente Befür- worter nicht ärztlicher Heiler. Erst 1939 kommt es zu einem faulen Kompromiss. Mit dem Heilprakti- ker wird ein nicht ärztlicher Heilbe- handler eingeführt. Nach dem Wil- len der Nazis sollte er aussterben (er lebt indes heute noch).

Die „Einheit“ scheint erreicht

Die lang ersehnte „Einheit der Ärzte- schaft“ stellen die Nationalsozialis- ten mit der Reichsärzteordnung her.

Auf ihre Weise. Und nur für begrenz- te Zeit. So werden alle Ärzte (bis auf die der Wehrmacht) in der Reichsärz- tekammer, Kassenärzte zusätzlich in der Kassenärztlichen Vereinigung Deutschlands (KVD) organisiert.

Diese ist eine Abteilung der Reichs- ärztekammer und, wie auch die Reichsärztekammer, eine Körper- schaft des öffentlichen Rechts, ein Kuriosum. Im Übrigen wird das bisherige Vereinswesen mit der Reichsärzteordnung eingeebnet. Der Deutsche Ärztevereinsbund und der Hartmannbund werden aufgelöst.

Sonstige Ärztevereinigungen – ob sie nun berufspolitische, wirtschaftliche oder wissenschaftliche Ziele verfol- gen – müssen von der Reichsärzte- kammer genehmigt werden.

Damit war die Gleichschaltung der Ärzteschaft, die im März 1933 mithilfe des NS-Ärztebundes hand- streichartig, aber dank des vorausei- lenden Gehorsams der alten Ärzte- führer reibungslos über die Bühne ging, am 1. April 1936 auch auf dem Weg der Gesetzgebung vollzogen.

Der NS-Ärztebund hatte seine Schuldigkeit getan, er führte fortan ein Schattendasein. Sein Vorsitzen- der amtierte nun als gesetzlich be- stallter Reichsärzteführer; dessen Getreuen waren in der neu formier- ten Ärzteschaft gut untergebracht.

Gegen die Gleichschaltung scheint sich kaum Widerstand ge- regt zu haben. Eine rühmliche Aus- nahme macht der Aerztliche Verein Hamburg. Als Wagners Hamburger

Beauftragter verlangt, Nichtarier auszuschließen, weigert sich der Vorstand und tritt geschlossen zurück. An einen Ärzteaufstand wie in den Niederlanden war in Deutschland freilich nicht zu den- ken. Im Nachbarland stand 1941 die Gleichschaltung nach deutschem Vorbild an. Daraufhin traten 4 261 Ärzte, das entsprach 73 Prozent der Ärzteschaft, geschlossen aus der Koninklijk Nederlandsche Maat- schappij tot Bevordering der Genees- kunst aus. Sie wollten damit zum Ausdruck bringen, teilten sie dem deutschen Reichskommissar Arthur Seyß-Inquart mit, dass der Arztbe- ruf vor politischer Einmischung be- wahrt werden müsse.

Doch die Niederlande – das ist eine andere Geschichte. In Deutsch- land war das Einvernehmen mit den Nazis verbreitet. Schon früh, 1936, gehörten 30,8 Prozent der Ärzte der NSDAP, 21,3 Prozent der SA und 4,1 Prozent der SS an. In der Folge- zeit stieg die Parteizugehörigkeit auf 44,8 Prozent. Die Ärzteschaft war wie kein anderer akademischer Be- rufsstand mit dem System verbun- den. Und davon überzeugt: 1937 hielt das Hauptamt für Volksgesundheit der NSDAP 66,7 Prozent der nieder- gelassenen Ärzte für „weltanschau- lich und fachlich besonders geeignet“

(Angaben nach Rüther, 1997).

In die Rassenhygiene verstrickt

Parallel zur Gleichschaltung wird 1933 Eugenik in die Tat umgesetzt.

Das Gesetz zur Verhütung erbkran- ken Nachwuchses (in Kraft seit dem 1. Januar 1934) verordnet die Steri- lisation bei acht Krankheiten, nicht alle erblich, sowie bei schwerem Al- koholismus. Ärzte waren vielfach involviert: als Antragsteller, als Gut- achter, als Erbgesundheitsrichter, als Operateure der 400 000 Opfer.

Ärzte, die als Zeugen oder Sachver- ständige vor den Erbgesundheitsge- richten auftraten, waren ohne Rück- sicht auf das Berufsgeheimnis zur Aussage verpflichtet.

Den Erbgesundheitsgerichten, die bei den Amtsgerichten einge- richtet wurden, gehörten neben ei- nem Amtsrichter ein Amtsarzt so- wie ein weiterer Arzt als Beisitzer an. „Ich habe von vornherein ange-

ordnet“, heißt es zu diesem zweiten Arzt in einem Brief von Reichsin- nenminister Frick an Wagner vom 13. November 1936, „dass der nicht beamtete Beisitzer nur nach Anhörung der zuständigen Stellen des NS-Ärztebundes als der ärztli- chen Spitzenverbände (sic!) berufen werden dürfe.“ Wagner hatte sich beschwert, dass die Gerichte zu schematisch anhand eines Intelli- genzfragebogens urteilten (Wagner:

„Ich muss gestehen, dass auch ich nicht alle die Fragen beantworten konnte, müsste nach dieser Theorie der Fragebogen also auch sterili- siert werden.“). Die Beschwerde fiel somit auf den Ärztebund zurück. Fricks Brief bestätigt auch, dass die Standesorganisation offizi- ell in das Verfahren eingebunden war.

Eugenik entspricht dem Zeitgeist

Ohnehin war der Ärzteschaft das Thema vertraut. Für den 1933 ge- planten, aber nicht mehr zustande gekommenen Deutschen Ärztetag hatte der Ärztevereinsbund, der Ver- anstalter der Ärztetage, Eugenik als Schwerpunkt vorgesehen und gar ein Preisausschreiben ausgelobt,

„durch dessen Bearbeitung ein größerer Kreis der Ärzteschaft für die erbbiologische Materialbeschaf- fung durch in der Praxis stehende Kollegen interessiert werden soll“, erläuterte der Geschäftsausschuss des Bundes. Bis Ende des Jahres 1932 waren immerhin 44 Arbeiten eingegangen. In Vorbereitung des Ärztetages beschäftigte sich der Geschäftsausschuss 1932 zweimal ausgiebig mit dem Thema. Wirt- schaftliche wie bevölkerungspoliti- sche Aspekte standen zur Debatte.

Haedenkamp prägte den Bund stark in dieser Frage. Er meinte, der Für- sorgegedanke dürfe insofern nicht überspannt werden, als man für die Erhaltung belasteter Familien Mit- tel aufwende, die für die Unterstüt- zung gesunder Familien fehlten.

Haedenkamp sah auch Anzeichen, dass sich die Bevölkerung „quanti- tativ und qualitativ verschlechtert“.

Bedenken gegen die Sterilisation kamen im Geschäftsausschuss zwar hoch – sie bedeute einen

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schweren Eingriff in die Persönlich- keit; abzulehnen sei Sterilisierung aus sozialen Gründen (so De Bary vom Preußischen Ärztekammer- ausschuss) – aber schließlich verab- schiedete der Ärztevereinsbund im September 1932 eine von Haeden- kamp vorbereitete Entschließung, in der die Sterilisation „unter gesicher- ten sachlichen und rechtlichen Vor- aussetzungen“ befürwortet wird.

Gefordert wird die Einwilligung des Kranken und „eine autoritative, sachverständige staatliche Instanz“, die in jedem einzelnen Fall über die Zulässigkeit des Eingriffs zu befinden habe. Selbstverständlich dürfe die Sterilisation nur vom Arzt vorgenommen werden. Vergleicht man die Forderungen des Ärztever- einsbundes mit dem Erbgesund- heitsgesetz, stimmt vieles überein.

Die Ärzte setzten jedoch auf Frei- willigkeit, die Nazis auf Zwang.

Nur wenige der alten Herren werden aber die mörderischen Folgen der praktizierten Eugenik, mit der auch die Ärzteschaft auf die schiefe Bahn geriet, vorausgesehen haben.

Der Übergang von der Zwangs- sterilisation zur Zwangseuthanasie hatte seine eigene Logik. Die eine sollte dem „lebensunwerten Leben“

von „Ballastexistenzen“, wie die Nazis sich ausdrückten, vorbeugen, die andere sollte diese, wenn sie denn schon am Leben waren, besei- tigen. „Euthanasie“ stand beschöni- gend für Mord. Ärzte waren führend dabei, den Mord an 200 000 (wenn nicht mehr) Kranken zu organisie- ren – und manch einer hat auch selbst Hand angelegt.

Conti zankt sich mit allen

Wagner starb bereits 1939, nach An- gabe eines Mitarbeiters an Leuk- ämie. Seinem Nachfolger Dr. Leo- nardo Conti entglitt zunehmend die Führung der Ärzteschaft. Nach der Reichsärzteordnung unterstanden ihm zwar alle Ärzte im Deutschen Reich. Doch von Beginn an war die Wehrmacht ausgenommen. Conti hatte sich sodann mit der SS über die Zugehörigkeit von SS-Ärzten, mit dem Reichsarbeitsminister oder der Organisation Todt über Zustän- digkeiten für die Deutsche Arbeits- front beziehungsweise wehrwirt-

schaftliche Betriebe und Lager aus- einanderzusetzen. Reichsmarschall und Reichsjägermeister Göring re- klamierte 1942 als Präsident eines Reichsforschungsrates die Ober- hohheit über die medizinische For- schung für sich. Und schließlich setzte Hitler dem Reichsärzteführer 1943 seinen Leibarzt Karl Brandt als Koordinator für das Gesund- heits- und Sanitätswesen vor die Nase. Dem Reichsärzteführer blieb am Ende die Zuständigkeit für die zivile Versorgung der Bevölkerung, und auch die musste er mit seinem Stellvertreter Dr. Heinrich Grote tei- len. Der leitete die KVD. Diese gehörte formal zur Reichsärztekam- mer, agierte jedoch eigenständig.

Das wurde ihr durch die eigene Rechtspersönlichkeit und den Sitz in Berlin leicht gemacht, während die Reichsärztekammer bis zum bit- teren Ende in München verblieb.

Krankenmord mit Ärztehilfe

Conti war nicht nur Reichsärztefüh- rer, sondern auch Staatssekretär im RMdI, zuständig für das Gesund- heitswesen und in dieser Funktion mit den Euthanasiemorden ver- quickt. Der Referatsleiter für die Heil- und Pflegeanstalten, Dr. Her- bert Linden, gleichfalls Arzt, or- ganisierte zusammen mit der T4- Verwaltung (benannt nach der Ber- liner Tiergartenstraße 4) ab 1939 den Krankenmord durch Vergasung, Nahrungsentzug und Medikamente.

Conti selbst war im Januar 1940 im Zuchthaus Brandenburg dabei, als zwei Tötungsmethoden, Morphi- um-Scopolamin gegen Kohlenmo- noxid, an Patienten getestet wurden;

man entschied sich für das Gas.

Conti nahm vermutlich als Beamter des Innenministeriums teil. Er war aber immer auch der Reichsärzte- führer, und es ist eine schwer erträg- liche Vorstellung, dass der oberste Arzt im Land Patienten die tödliche Injektion versetzte oder den Tod durch Gas begutachtete.

Die Reichsärztekammer scheint Conti, ausweislich der Verhöre beim Nürnberger Ärzteprozess 1945, aus der „Euthanasie“ herausgehalten zu haben. In einer Unterredung mit Hitler 1939 will er derart feinsinni- ge Einwände vorgebracht haben,

dass Hitler ihm den Auftrag, ein Konzept für die „Euthanasie“ zu er- arbeiten, wieder entzog. Es ist frei- lich nicht anzunehmen, dass Conti Hitlers Absichten konterkariert hat, wahrscheinlicher scheint es, dass die Reichskanzlei Conti austrickste.

Den Euthanasiemord („Gnaden- tod“) organisierten jedenfalls im Auftrag Hitlers dessen Kanzleichef („Reichsleiter“) Philipp Bouhler und Karl Brandt, der Leibarzt, mit- tels T4, unter Mithilfe des RMdI.

„Dienstlich“ nichts gewusst

Die Münchener Funktionäre der Reichsärztekammer haben – auch das kam 1945 in Nürnberg zutage – von den Euthanasieverbrechen im- merhin gewusst, wenn auch nicht

„dienstlich“ und nicht im Detail. Es sei verboten gewesen, die Frage zu diskutieren, bezeugte in Nürnberg Justiziar Kossmehl. Solcherart Nicht- wissen brachte die Münchener denn auch nicht in die Verlegenheit, Diszi- plinarmaßnahmen gegen die vielen Ärzte in den psychiatrischen Kran- kenanstalten, in den sogenannten Kinderfachabteilungen, in den La- gern, an den Gasventilen, die ihre Pa- tienten im Stich ließen oder direkt am Mordgeschäft teilhatten oder dar- aus Nutzen zogen, kurzum Verfahren gegen auch nur einen Arzt einzulei- ten, der gegen die ärztlichen Ethik und die Berufsordnung verstoßen hatte. Beschwerden aus der Bevölke- rung habe man, so erklärte der Justi- ziar, der Einfachheit halber an die nahe gelegene Parteileitung der NSDAP weitergereicht. Von dort sei nie eine Antwort gekommen.

Gab es Gegenwehr? Einzelne Ärzte haben mutig und listig einzel- ne Patienten vor Sterilisation oder

„Euthanasie“ gerettet. Einzelne Ärz- te haben sich geweigert, beim Mord- geschäft mitzumachen. Die große Mehrheit hat ihre Arbeit getan und die Augen zugemacht. „Euthanasie“

war ja geheim, wenn auch die grauen Busse durchs Land fuhren, die Ver- brennungsöfen hübsche Städtchen mit fettem Rauch belästigten und Tausende von Ärzten, Schwestern, Pflegern, Fahrern und Verwaltungs- angestellten dafür sorgten, dass die Mordmaschinerie lief. I Norbert Jachertz ANMERKUNGEN

Die beiden Artikel (der erste erschien in DÄ, Heft 12/2008) stützen sich im Wesentlichen auf Aktenkopien im Archiv des Deutschen Ärzteblattes.

Der Kölner Historiker Dr. phil. Bernd Rüther hat in den DÄ-Heften 8 und 9/1997 einen gründlichen Artikel über die Reichsärzteordnung veröffentlicht sowie in der von Robert Jütte herausgegebenen

„Geschichte der deutschen Ärzteschaft“ (Köln, 1997) den nach wie vor lesenswerten Teil über die NS-Zeit verfasst.

Zur „Euthanasie“: Die jüngste Neuerscheinung („Das Vergessen der Vernichtung ist Teil der Vernichtung selbst“, Göttingen 2008) wurde in DÄ, Heft 11/2008 besprochen.

Der Hinweis auf die Niederlande ist Dr. med. Rolf E. Ullner zu verdanken.

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