Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 104⏐⏐Heft 34–35⏐⏐27. August 2007 A2325
M E D I Z I N R E P O R T
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ie demografische Entwick- lung bringt es mit sich, dass die Zahl der Epilepsie-Neuerkran- kungen jenseits des 65. Lebensjahrs höher ist als bei Kindern und Jugendlichen. Von dieser Verände- rung merken die Neurologen jedoch noch wenig. Besonders in den Spe- zialeinrichtungen sind alte Patien- ten eindeutig unterrepräsentiert. Im Epilepsiezentrum Bonn habe 2003 der Anteil dieser Klientel gerade einmal bei sechs Prozent gelegen, nannte Prof. Dr. med. Christian El- ger Zahlen aus dem eigenen Haus.Er schätzt daher, dass etwa ein Drit- tel dieser Patienten gar nicht und von den übrigen vielleicht gerade einmal die Hälfte akzeptabel behan- delt würden.
Eine mögliche Erklärung für diese Diskrepanz ist für ihn, dass viele Hausärzte sich kompetent genug fühlen, diese vermeintlich unkom- plizierte Patientengruppe allein zu betreuen. Besonders wenn die Be- troffenen bereits in einer Einrichtung leben und daher in ihrer Autonomie und Mobilität eingeschränkt sind, wird häufig der „Aufwand“ gescheut, sich Unterstützung von einem neuro- logischen Experten zu holen. Dar- über hinaus befürchtet Elger, dass in vielen Fällen die Diagnose „Epilep- sie“ gar nicht erst gestellt werde.
Abweichende Dauer der postiktalen Phase
Fundierte Zahlen zur Behandlungssi- tuation von erst im Alter an Epilepsie erkrankten Menschen gibt es nicht.
Eine Initiative der Universität Bonn zur Bestandsaufnahme und Qua- litätsanalyse in Altenheimen ist fehl- geschlagen. In keinem Haus habe man ihnen die Tür geöffnet, berichte-
te Elger. Typische Argumente der Heimleitung: „Anfälle haben unsere Bewohner nicht“ oder „Dafür ist der Hausarzt zuständig“. Die zuständi- gen Hausärzte hätten gleichermaßen gemauert – Standardaussage: „Ich behandele Epilepsie und Parkinson ebenso gut wie Hypertonie und Dia- betes, das ist mein Job.“
Die Diagnostik wird durch einen ungewohnten Ablauf der epilepti- schen Exazerbationen im höheren Lebensalter erschwert. Vielfach handelt es sich um fokale Anfälle von kurzer Dauer und unspekta- kulärer Ausprägung. Daher werden sie häufig vom Betroffenen selber oder von – falls überhaupt in dem Moment anwesend – anderen Perso- nen nicht als solche wahrgenom- men. Auffällig wird der Patient erst in der postiktalen Phase.
Phänomene wie Parese oder Aphasie, die bei jungen Epilepsie- kranken rasch abklingen, halten im Alter um den Faktor zehn bis 20 län- ger an. Da kann es leicht zu einer Verwechselung mit einem Schlag- anfall oder anderem zerebralvas- kulären Ereignis, wie transienten ischämischen Attacken (TIA) oder prolongiertem reversiblen ischämi- schen Defizit (PRIND), kommen.
Gleichermaßen in die Irre führen können dauerhafte Verwirrtheitszu- stände, die ebenfalls Teil eines be- reits abgelaufenen epileptischen Anfalls, aber auch Symptom eines akuten – in dieser Altersgruppe nicht ganz seltenen – nicht konvulsiven Status epilepticus sein können.
Häufig als „psychogen“ missin- terpretiert würden die kontinierli- chen Myklonien einer Epilepsia partialis continua, macht Elger auf eine weitere Differenzialdiagnose
aufmerksam. Nicht als epileptogen erkannt werde auch ein „De-novo- Absence-Status“, der mit einem va- riablen und ebenfalls nicht „epilep- sietypischen“ klinischen Bild ein- hergehe. Hauptursache sei ein plötz- licher Benzodiazepin-Entzug.
Epilepsien auch auf Basis degenerativer Erkrankungen
Eine erstmalig im fortgeschrittenen Alter auftretende Epilepsie hat na- hezu ausnahmslos eine symptomati- sche Genese. Häufigste Ursachen sind Schlaganfälle, gefolgt von atherosklerotisch bedingten Kom- plikationen, Traumata, Tumoren und anderen Ereignissen, die um- schriebene Läsionen im Gehirn als potenzielle Ausgangspunkte für fo- kale Anfälle verursachen. Daneben gibt es aber auch eine – wahrschein- lich wachsende – Gruppe alter Pati- enten mit primär generalisierten An- fällen auf der Basis einer degenera- tiven Erkrankung. Es wird vermutet, dass jeder dritte Alzheimer-Kranke zusätzlich eine Epilepsie entwickelt.Das pharmakologische Manage- ment von Epilepsien im höheren Le- bensalter stellt besondere Anforde- rungen, da es sich in der Regel um multimorbide Patienten handelt, bei denen nicht nur das Anfallssyndrom und die neurologische Grunder- krankung einer Medikation bedür- fen, sondern auch die fast regelhaft vorhandenen Störungen in anderen Organsystemen. Aus klinischen Un- tersuchungen ist bekannt, dass ein älterer Epilepsiepatient zwischen fünf und sieben Arzneimittel zusätz- lich zu seinen Antiepileptika ein- nimmt, was ein hohes Risiko für In- teraktionen darstellt. I Gabriele Blaeser-Kiel