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Archiv "Medizingeschichte: Zu den Wurzeln „entarteter“ Kunst" (05.10.2007)

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A2714 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 104⏐⏐Heft 40⏐⏐5. Oktober 2007

T H E M E N D E R Z E I T

B

is zur Mitte des 19. Jahrhun- derts bestimmt der Streit zwi- schen „Psychikern“ und „Somati- kern“ die Psychiatriegeschichte. Für beide sind Leib und Seele eng mit- einander verbunden, doch nehmen sie unterschiedliche Gewichtungen vor. So sieht etwa der Psychiker Jo- hann Christian Heinroth im Leib das Instrument der Seele; für die Soma- tiker Friedrich Nasse und Maximili- an Jacobi folgt dagegen die Seele den Funktionen des Organismus.

Dabei haben beide Parteien kei- nen Zweifel an einem nicht körper- lichen, unsterblichen Seelenanteil, der letztlich unerkennbar bleibe.

Die Lehren Franz Joseph Galls und Samuel Thomas Soemmerrings, die den Sitz des „Seelenorgans“ auf der Oberfläche der Großhirnhemi- sphären oder im Innern des Gehirns vermuten, lehnen daher auch die Somatiker ab. Zwar betont Wilhelm Griesinger die Bedeutung des Ge- hirns und räumt der körperlichen Entstehung psychischer Erkrankun- gen einen festen Platz in der psy- chiatrischen Krankheitslehre ein, doch ist um die Mitte des 19. Jahr- hunderts keineswegs allgemein an- erkannt, dass bei körperlich erklär- baren psychischen Krankheiten

„nur das Gehirn der Sitz (. . .) krank- hafter geistiger Tätigkeiten sein kann“, wie Griesinger 1845 schreibt. Mit seinem Werk findet der Streit zwischen Psychikern und Somatikern im alten Sinn ein Ende.

„Hirnpsychiater“, wie Carl West- phal, Theodor Meynert und Carl Wernicke, versuchen nun, der Psy- chiatrie eine positivistisch-natur- wissenschaftliche Richtung zu ge- ben; doch dem größten Teil der Psy- chosen kommt die rein biologisch orientierte Forschung nicht näher.

In dieser Zeit der immer differen- zierteren Beschreibung krankhafter Veränderungen des Gehirns und der raren Erklärungen betritt eine eigen- artige Theorie die Bühne der Psy- chiatriegeschichte – die Lehre von der Degeneration oder Entartung. Sie scheint eine ätiologische Erklärung für bis dahin Unverstandenes zu bieten.

In abwertendem Sinn wird der Begriff bereits im 17. Jahrhundert verwendet – wenig widerstandsfähi- ge Kinder und Kriminelle bezeich- net man als „entartet“. Genetische Erklärungen sind bereits vertrautes Gedankengut, als die Degenerati- onshypothese im wissenschaftlichen Diskurs auftaucht: Ab dem Ende des 18. Jahrhunderts vermutet man, dass bestimmte krankhafte Veränderun- gen erblich sind. In „L’Hérédité na- turelle“ (1847–1850) nimmt der französische Arzt Prosper Lucas die Erblichkeit psychischer und psycho-

pathologischer Merkmale an. Doch er kann nicht erklären, warum auch gesund erscheinende Familien kran- ke Mitglieder aufweisen.

Diese Lücke sucht der französi- sche Psychiater Bénédict-Augustin Morel (1809–1873) zu schließen, als er 1857 seine „Abhandlung über die physischen, intellektuellen und mo- ralischen Entartungen des Men- schengeschlechts“ vorlegt. Der 1809 in Wien geborene Morel wird zunächst Lehrer und dann Arzt. Zeit- lebens ist er ein gläubiger Katholik.

So versteht er Degeneration eher im theologischen als im biologischen Sinn. Am Beginn seiner Überlegun- gen steht der „type primitif“, ein ur- sprünglicher Mensch, der dem bib- lischen Adam vor dem Sündenfall entspricht. Weil dieser vom gottge- wollten Menschenbild abweicht, sieht er sich künftig widrigen äußeren Ein- wirkungen ausgesetzt. Ein Teil seiner Nachkommen bleibt nun kraft An- passung gesund, erfüllt das göttliche Gebot und setzt die Einheit der Gat- tung Mensch fort. Bei anderen füh- ren Belastungen, hervorgerufen durch die Eltern, das soziale Milieu und ei- nen falschen Lebenswandel (wie etwa Alkoholismus), zu fortschreitender Degeneration. Die Progression ent- wickelt sich in vier Stadien: von cha- rakterlichen Anomalien, wie nervö- ser Reizbarkeit, über Schlaganfall und andere körperliche Krankheiten bis zu schweren geistigen Störungen – so das „Gesetz von Morel“.

Jacques Joseph-Valentin Magnan (1835–1916) befasst sich zunächst mit Degeneration bei Alkoholabhän- gigen. Er nimmt Morels Lehre auf, verwirft jedoch dessen religiöse Vor- stellungen und orientiert sich an der Evolutionstheorie Charles Darwins, der Degeneration als Regression auffasst: Weil ein krank machen- der Einfluss den „dégéneré“ in sei- nem aufsteigenden Entwicklungsweg hemmt, geht er rückwärts, bis er schließlich – im Lauf von Generatio- nen – ausstirbt. Magnans Lehre be- stimmt für Jahrzehnte die französi- sche Psychiatrie und findet auch Eingang in die deutsche Psychiatrie.

Hier ist es Paul Julius Möbius, der wesentlich zu ihrer Verbreitung beiträgt. Er übersetzt Magnan, will aber degenerativ nicht mit erblich MEDIZINGESCHICHTE

Zu den Wurzeln „entarteter“

Kunst

Vor 150 Jahren führte der Psychiater Bénédict-Augustin Morel das Degenerationsmodell in die Psychiatrie ein.

B.-A. Morel:

Sozialmilieu und falscher Lebens- wandel führen zu fortschreitender Degeneration.

Foto:wikipedia

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A2716 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 104⏐⏐Heft 40⏐⏐5. Oktober 2007

T H E M E N D E R Z E I T

gleichsetzen und führt den Begriff

„endogen“ im Sinn von erblich ein.

Von der Degeneration kaum zu trennen ist der Begriff der Minder- wertigkeit. Bei der „Biologisierung des Menschen“ ist sie ein grundle- gender Gedanke: Bereits vor Dar- win geht es darum, etwa bei der Gall’schen Schädellehre, aus mor- phologischen Parametern von Orga- nen, Individuen und Rassen auf eine mögliche Minderwertigkeit zu schließen. Keine Minderwertigkeit ohne Norm – das lateinische „dege- nerare“ bedeutet abweichen, und zwar abweichen von einer Norm.

Dabei bleibt Degeneration ein un- klarer Begriff. So ermöglicht er Morel, verschiedene Krankheiten in einer Generation über eine besonde- re Art der Vererbung auf ganz ande- re in der vorhergehenden Generati- on zurückzuführen: „Alle erblichen Krankheiten sind Schwestern.“

Relativ willkürlich beschreibt man in der Folge seelische und kör- perliche Auffälligkeiten und be- zeichnet sie als Entartungszeichen oder Stigmata. Zweifellos ist es leichter, äußere Stigmata, wie Ha- senscharte und fliehendes Kinn, so- wie vermeintlich von einer Norm abweichende charakterliche Merk- male zu finden als klinischen Krankheitseinheiten eindeutige pa- thologisch-anatomische Befunde zuzuordnen. Schließlich sind 110 Degenerationszeichen beschrieben.

Der Psychiater Eugen Bleuler sieht 1919 sechs unterschiedliche, teil- weise gegensätzliche Definitionen von Degeneration.

Zwar ist Darwins Evolutions- theorie jünger als die Degenerati- onslehre und entsteht zunächst un- abhängig von ihr. Doch bereits Magnan berücksichtigt Darwins Hauptwerk „Die Entstehung der Ar- ten“ (1859) und bringt seine Theori- en mit der Lehre von der Degenera- tion in Einklang. Gemeinsam sind sie stark und dominieren in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sämtliche Wissenschaften. Ohne Darwins Hilfestellung hätte die De- generationslehre womöglich Ende des 19. Jahrhunderts deutlich an Be- deutung verloren. Denn eine befrie- digende Erklärung für die meisten Geisteskrankheiten kann sie nicht

liefern, von wirksamer Behandlung ganz zu schweigen. Zudem stößt das Konzept zunehmend auf Kritik.

Doch längst hat sich der Begriff aus dem wissenschaftlichen Kon- text gelöst. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts interessiert sich nämlich nicht nur die Medizin für Psychopathologie, sondern auch die Literatur. Zunehmend etabliert sich die Psychiatrie unter Literaten als Modewissenschaft. Der Begriff De- generation verbindet sich mit dem Begriff „décadence“. Dabei ist De- generation hier durchaus positiv be- setzt und soll den Betroffenen be- sondere intellektuelle Fähigkeiten und Sensibilität verleihen. In den Texten des „fin de siècle“ erscheint sie als Voraussetzung für künstleri- sche Schaffenskraft und verfeiner- ten Geschmack. In Thomas Manns

„Buddenbrooks“ kann man den Niedergang einer Familie durch De- generation verfolgen. Felix Dör- mann feiert in seiner Gedichtsamm- lung „Neurotika“ (1891) dieses Un- tergangsgefühl geradezu hymnisch:

„Ich liebe, was niemand erlesen / Was keinem zu lieben gelang / Mein eignes urinnerstes Wesen / Und alles, was seltsam und krank.“

Normal und „entartet“

Ganz und gar nicht einverstanden mit der Kunstfassade des „fin de siècle“ ist dagegen der jüdische Arzt Max Nordau. 1892 veröffentlicht er sein Buch „Entartung“. Innerhalb weniger Jahre wird es wiederholt neu aufgelegt und in mehrere Spra- chen übersetzt. Überzeugt von der Richtigkeit der Thesen Darwins, folgt Nordau der selbst gestellten Aufgabe, den „normalen Bürgern“

die Krankheitsbilder der Künstler und ihre „krank machende Kunst“

zu erläutern. Dabei nimmt er der Darwin’schen Theorie den Faktor Zufall und ersetzt ihn durch den Willen: Anpassung erscheint somit als Willenshandlung und nicht als Ergebnis zufällig erworbener Ei- genschaften. Den „Entarteten“ feh- len Nordau zufolge Gemeinschafts- sinn sowie die Fähigkeit, regel- mäßig zu arbeiten und sich der Ge- sellschaft anzupassen. Oberste sitt- liche Instanz ist für ihn die Vernunft.

Alles, was der Autor nicht mit ihr in

Einklang bringen kann, wird patho- logisiert und ausgegrenzt. Nordau ist jedoch von der Gesundung der Gesellschaft überzeugt – die Kran- ken würden aussterben.

Nordau sieht auch den Pessimis- mus als Symptom eines „Gehirn- Mangels“, das heißt als Zeichen von

„Entartung“. Dabei ist die Degene- rationslehre im Kern selbst fatalis- tisch und pessimistisch. Die Mög- lichkeit von Prävention und Thera- pie des Einzelnen ist lediglich im Kampf gegen Alkoholismus er- kennbar – Alkohol wird als gefährli- ches „Keimgift“ und Alkoholkon- sum als eine Ursache der Degenera- tion angesehen.

Auch wenn der Verdacht nahe liegt, haben die Nationalsozialisten den Begriff „Entartung“ wohl nicht von Nordau übernommen. Zur Zeit des Dritten Reichs ist er sehr ver- breitet und in mehreren Texten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu finden. Eine der Grundlagen der nationalsozialistischen Verbrechen kann die Lehre von der Degenerati- on nur werden, indem sie sich un- heilvoll mit anderen Anschauun- gen und Strömungen verbindet: Der Sozialdarwinismus überträgt die Er- kenntnisse Darwins von der Biolo- gie auf gesellschaftliche Verhältnis- se. Eugenik und Erbforschung set- zen sich zum Ziel, die Fortpflanzung geeigneter Individuen zu fördern, sogenannte Ungeeignete jedoch dar- an zu hindern, Nachkommen zu zeu- gen. Der Mediziner Alfred Ploetz führt den Begriff „Rassenhygiene“

ein und dehnt damit eugenisches Denken auf Völker und Rassen aus.

Fortan wird im „Daseinskampf des Volkes“ rücksichtslos gegen „ge- meinschaftsschädliches Verhalten“

vorgegangen, der Kranke wird gar zum „Volksschädling“.

Zu keiner Zeit ihres Bestehens verfügte die Degenerationshypo- these über ein wissenschaftliches Fundament. Von Morels heute naiv- religiös anmutenden Vorstellungen entwickelte sie sich zu einer der geistigen Grundlagen, die die na- tionalsozialistischen Verbrechen – Zwangssterilisation, die Ermordung Kranker und den organisierten Völ- kermord – möglich machten. I Christof Goddemeier

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