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Archiv "Pruritus: Auch bei chronischem Juckreiz existiert ein „Gedächtnis“" (09.01.2006)

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A22 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 103⏐⏐Heft 1–2⏐⏐9. Januar 2006

M E D I Z I N R E P O R T

Pruritus

Auch bei chronischem Juckreiz existiert ein „Gedächtnis“

Internationales Symposium in Heidelberg befasste sich mit Pruritus als Schnittstelle unterschiedlicher Erkrankungen.

J

uckreiz ist das gemeinsame Sym- ptom verschiedener Erkrankungen, er wird uneinheitlich definiert und häufig empirisch behandelt. Die chroni- schen Formen sind häufig therapieresi- stent. Mit neuen Standards zur Definiti- on der Erkrankungen soll die Basis für eine klare Zuordnung und Studienbe- dingungen geschaffen werden, die in Zukunft valide – und hoffentlich bes- sere – Ergebnisse für die gequälten Patienten bringen. Das ist eines der Ziele, die sich die neu gegründete „In- ternational Society for the Study of Itch“ bei ihrem 3. internationalen Kon- gress in Heidelberg gesetzt hat, der nach Japan und Singapur erstmals in Deutschland stattfand. Dermatologen, Neurowissenschaftler, Nephrologen, He- patologen,Anästhesisten und Psycholo- gen aus 28 Ländern nahmen daran teil.

Der Juckreiz ist längst nicht mehr der

„kleine Bruder“ des Schmerzes. Der histamin-vermittelte Juckreiz wird über andere Nervenfasern – polymodale C- Fasern – via Rückenmark ins Gehirn ge- leitet, wie der Physiologe Prof. Dr. med.

Martin Schmelz (Mannheim) bewiesen hat. Prof. Dr. med. Uwe Gieler von der Psychosomatik in Gießen konnte in Zu- sammenarbeit mit dem Psychologischen Institut zeigen, dass nicht nur motorische und sensorische Juckreizareale aktiviert werden, sondern auch emotionale Berei- che im Gehirn (Cingulum, Frontalhirn und Kleinhirn).

Bei primär juckenden Hautreaktio- nen, wie beispielsweise der Prurigo, sind wahrscheinlich noch weitere Nerven- fasern beteiligt. Juckreiz wird wahr- scheinlich größtenteils durch zentrale Mechanismen verursacht. Ähnlich wie beim Schmerz existiert auch beim Juckreiz offensichtlich eine Art „Ge- dächtnis“ – Menschen mit Pruritus neh-

men Juckreiz bereits ab einer viel nied- rigeren Schwelle wahr. So genannte Spiegelneurone im Gehirn wiederum sind dafür verantwortlich, dass Juckreiz

„ansteckend“ ist. Die „geistige Infekti- on“ verläuft über die Imitation – und wie die ansteckende Angst im Kinder- garten – ohne Stimulus.

Noch sind die Mechanismen, die sich in der Haut und im Nervensystem ab- spielen, nicht vollständig verstanden. Es fehlen Medikamente, die langfristig und sicher den geplagten Patienten Linde- rung verschaffen. Aufgrund des Signal- wegs, an dem zentrale Opioid-Rezepto- ren beteiligt sind, wird versucht, die Per- zeption des Juckreizes mit der Gabe von Opioid-Antagonisten zu supprimieren.

In Münster wurde dazu der ␮-Rezeptor- Antagonist Naltrexon bei 143 therapie- resistenten Patienten mit schwerem Juckreiz unterschiedlichster Genese eingesetzt – in 86 Fällen besserte sich der Pruritus erheblich.

Bei lokalem Juckreiz wieder- um ist ein Kältepack (ein Grad Celsius) auf der Haut wirksamer als alle topischen Antipurigino- sa, wie eine Studie aus Gießen bei histamin-induziertem Juck- reiz ergab.

Zur Indizenz in der Bevölke- rung hat Dr. Florence Dalgart (Oslo) eine populations- bezogene Unter-

suchung vor-

gelegt. Bei mehr als 41 000 Befragten zeigte sich eine Prävalenz von 7,5 Pro- zent bei Männern und 9,2 Prozent bei Frauen. Menschen mit belasten- den Lebensereignissen leiden häufiger (12,2 Prozent) an Juckreiz als Personen mit vielen Freunden. Dass in vielen Fällen bei Patienten mit Juckreiz auch die Psyche eine Rolle spielt, zeigt eine Studie aus Münster: Rund 70 Prozent der Pruritus-Patienten litten zusätzlich an psychosomatischen oder psychiatri- schen Erkrankungen.

Eine therapeutische Herausforde- rung ist der generalisierte chronische Juckreiz – speziell der urämische und der cholestatische Pruritus. Beide sind pathogenetisch unklar, die Therapie empirisch und oft nicht zufriedenstel- lend. Die Patienten haben eine deutlich

Foto:SUPERBILD

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verminderte Lebensqualität in allen Befindlichkeitsskalen, wie eine polni- sche Untersuchung ausweist.

Urämischer Pruritus ist seltener geworden

Nach einer internationalen Studie (Dia- lysis Outcomes and Practice Patterns Study, DOPPS) mit 6 137 Dialyse-Pati- enten leidet fast die Hälfte an urämi- schem Pruritus; ihr Mortalitätsrisiko ist um 15 Prozent höher, was auf den ge- störten Nachtschlaf und die konsekutiv auftretende Tagesmüdigkeit zurückge- führt wird. Die länderspezifischen Un- terschiede sind nicht zu übersehen: Der Anteil von Juckreiz-Patienten macht in einem Zentrum in den USA 75 Prozent, in Warschau 40 Prozent und in Deutsch- land nur noch 25 bis 35 Prozent aus.

Wie Prof. Dr. med. Gil Yosipovitch (Winston Salem) ausführte, ist die Ent- wicklung des urämischen Pruritus unter anderem abhängig von der Qualität der Dialyse und der Dauer der Dialyse- pflichtigkeit. Faktoren, die den Juckreiz verschlechtern, sind trockene Haut (70 Prozent) und Schwitzen (68 Prozent).

Rund ein Viertel der Patienten emp- findet Linderung durch heißes Wasser, was aus dermatologischer Sicht un- günstig ist, da hierdurch die Haut aus- trocknet, trockene Haut wiederum leichter juckt.

Die Therapie erfolgt bis heute empi- risch und nicht kontrolliert, erklärte Prof. Dr. med. Thomas Mettang (Wies- baden). Zuerst wird die Dialyse-Qua- lität überprüft und eine entsprechende Optimierung der Intervalle oder der Dialysedauer vorgenommen.

Die „Lichttherapie“ mit UVB-Strah- len wird am häufigsten und erfolgreich- sten eingesetzt; sie wirkt bei etwa der Hälfte der Patienten gut, und bei 20 Pro- zent bessert sich die Symptomatik et- was. Die weiteren Optionen: Elektro- Akupunktur oder aber Aktivkohle in erheblichen Mengen (bis zu 30 Tablet- ten täglich), wodurch vermutete pruri- togene Substanzen adsorbiert werden sollen.

Bei den weiteren Therapieversuchen sind individuelle Nutzen-Risiko-Abwä- gungen entscheidend: Für Opioid-Ant- agonisten sind die Ergebnisse wider-

sprüchlich, Naltrexon wirkt nach Erfah- rungen von Mettang nur bei wenigen Patienten. Das Antikonvulsivum Gaba- pentin (200 bis 300 mg/die) scheint bei einigen Patienten effektiv zu sein.

Experimentell werden auch Substan- zen eingesetzt, die die Imbalance im Im- munsystem beeinflussen sollen. Unter der Behandlung mit Tacrolimus-Creme bessert sich der Juckreiz bei manchen Patienten, tritt aber nach Absetzen wie- der auf. Ermutigende vorläufige Ergeb- nisse konnten auch durch die Gabe von Pentoxiphyllin, einem schwachen TNF- alpha-Inhibitor, erzielt werden. Die Verbesserungen treten hierbei zwar nur langsam ein (ab der zweiten Behand- lungswoche), halten nach vierwöchiger Behandlung dafür aber über einen Zeitraum von mehr als drei Monaten an. Eine kontrollierte Studie zu dieser Therapieform ist in Wiesbaden geplant.

Beim cholestatischen Juckreiz fehlen ebenfalls valide Studien, wie Prof. Dr.

med. Nora Bergasa (New York) darleg- te. Auf der Suche danach, warum etwa zwei Drittel der Patienten mit primärer biliärer Zirrhose Juckreiz entwickeln und die übrigen nicht, könnten geneti- sche Ursachen eine Rolle spielen – bei Juckreiz-Patienten liegen erste Ergeb- nisse zu Polymorphismen in bestimm- ten Genen vor.

Nach ihren Untersuchungen ist der Juckreiz bei jedem zehnten Patienten mit cholestatischer Prurigo therapie- resistent. Cholestyramin als Mittel der ersten Wahl stuften nur acht Prozent ih- rer – selektierten – Patienten als wirk- sam ein, was die Expertin auf die Tachy- phylaxie zurückführte. Überraschend viele Patienten bezeichneten Antihist- aminika als effektiv (16 Prozent), Urso- desoxycholsäure wandten sieben Pro- zent und „Creme“ zehn Prozent an.

Trotzdem beklagten drei Viertel der Patienten einen gestörten Nachtschlaf.

Interventionen werden auch ver- sucht mit Plasma-Filtrationsprozessen (ohne Kenntnis der pruritogenen Fak- toren schwierig ), mit Lichttherapie und Anästhetika. Ebenso wie für den Ein- satz von Neuromodulatoren, zum Bei- spiel Serotonin- oder Cannabinoid- Antagonisten oder Gabapentin, ist die Wirkung nicht erwiesen.

Nachdem bei Cholestase jedoch ein erhöhter endogener Opioidtonus fest-

gestellt wurde, sieht die Expertin in der Therapie mit Opioid-Antagonisten ei- ne möglicherweise kausale Vorgehens- weise. Anders als beim urämischen Pruritus ist hier jedoch eine Entzugs- symptomatik zu beachten, weshalb orale Präparate für den Einstieg zu hoch do- siert sind. Sie beginnt deshalb mit einer extrem niedrig dosierten Naloxon-Infu- sion (0,002 µg/kg/min), steigert langsam und setzt später um auf orales Nal- trexon. Dieses Regime hilft bei einem Teil der Patienten, bei anderen nicht.

Experimentell sind Ansätze, die auf der Hypothese aufbauen, wonach ein Ungleichgewicht zwischen Kappa- und µ-Opioid-Rezeptor besteht. Der Kap- pa-Rezeptor kann durch Butorphanol- Nasenspray aktiviert werden. In einem Fallbericht wurden damit bisher zwei Jahre lang gute Erfolge erzielt.Auch bei terminaler Niereninsuffizienz ist auf- grund dieser Überlegungen in Einzel- fällen TRK 820 eingesetzt worden.

Juckreiz ist nicht zu messen

Dass der Juckreiz eine Schnittstelle ver- schiedenster Fachgesellschaften dar- stellt und ein rationales Vorgehen not- wendig ist, steht außer Frage. Mit dem Kongress in Heidelberg, der von der Dermatologin Dr. med. Elke Weisshaar organisiert wurde, ist ein Grundstein gelegt für die weitere Kooperation zu- gunsten der verbesserten Diagnostik – und damit in Zukunft auch Therapie – der betroffenen Patienten. Vielleicht gewinnt dabei auch ein Messinstrument einen Platz, mit dem der „Kratzreflex“

aufgezeichnet wird.

Der Juckreiz selbst ist nicht zu objekti- vieren, aber die Reaktion darauf, das Kratzen. Um diese „Aktivitäten“ festzu- halten, wurde in den Niederlanden ein Prototyp entwickelt und bei Patienten mit generalisiertem Juckreiz getestet: Ein Piezofilm, auf den Nagel des Mittelfin- gers der dominanten Hand aufgeklebt, erfasst die Vibrationen des kratzenden Nagels und leitet diese an ein Aufzeich- nungssystem weiter. Sie kann über eine Software erfasst und ausgewertet wer- den. Ein erstes Ergebnis: Die Kratz- perioden zeigen nächtliche „Wellen“, vergleichbar denen der REM-Schlaf- Perioden. Dr. rer. nat. Renate Leinmüller

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