Deutsches Ärzteblatt
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Jg. 110|
Heft 40|
4. Oktober 2013 675M E D I Z I N
DISKUSSION
Psychische und neurologische Probleme
Während sämtliche im Beitrag (1) angegebenen Häufigkeiten soma- tischer Komorbiditäten unterhalb von 50 % liegen, erreichen
„Sprachstörung“, „Legasthenie“ und „Lernschwierigkeiten“ jeweils Häufigkeiten im Bereich von 50–80 %. Nach Bruining et al. (2) fin- det man außerdem in 63 % eine ADHS. Das heißt, das Nichtauftre- ten dieser Störungsbilder ist eher die Ausnahme, so dass es sich möglicherweise nicht um Komorbiditäten, sondern um Symptome der Entität „Klinefelter-Syndrom“ (KS) handelt. Gemäß Savic (3) kann das KS als Modell für androgene Effekte auf Entwicklung und Funktion des menschlichen Gehirns fungieren. Der Verhaltensphä- notyp ist charakterisiert durch sprachliche, exekutive und psycho- motorische Dysfunktionen sowie sozioemotionale Beeinträchti- gung. Neuroimaging-Studien von Kindern und Erwachsenen mit KS zeigen charakteristische strukturelle Unterschiede zu normtypi- schen Individuen. Außer einer Zunahme der Volumina grauer Sub- stanz sensomotorischer und parietookzipitaler Areale findet man signifikante Abnahmen im Bereich der Amygdala sowie hippocam- paler, insulärer, temporaler und frontobasaler Regionen. Eine Zu- nahme weißer Substanz findet man im linken Parietallappen, eine Abnahme unter anderem bilateral im Bereich des anterioren Cingu- lums. Zur adäquaten Therapie des KS gehört daher nicht nur Testos- teronsubstitution, sondern auch die Diagnostik und Behandlung durch einen Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psy- chotherapie, zumal bei KS in 32 % der Fälle Angststörungen, in 27 % Autismus-Spektrumstörungen und in 24 % depressive Störun- gen auftreten (2). Van Rijn et al. (4) fanden bei Erwachsenen mit KS in 48 % deutliche Hinweise auf eine Autismus-Spektrumsstörung, so dass bei Erwachsenen mit KS auch die Untersuchung durch einen mit autistischen Störungen vertrauten Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie erforderlich ist.
DOI: 10.3238/arztebl.2013.0675a LITERATUR
1. Nieschlag E: Klinefelter syndrome: the commonest form of hypogonadism, but often overlooked or untreated. Dtsch Arztebl Int 2013; 110(20): 347–53.
2. Bruining H, Swaab H, Kas M, van Engeland H: Psychiatric characteristics in a self-se- lected sample of boys with klinefelter syndrome. Pediatrics 2009; 123: e865–70.
3. Savic I: Advances in research on the neurological and neuropsychiatric phenotype of Klinefelter syndrome. Curr Opin Neurol 2012; 25: 138–43.
4. van Rijn S, Swaab H, Aleman A, Kahn RS: Social behavior and autism traits in a sex chromosomal disorder: klinefelter (47XXY) syndrome. Journal of Autism and Develop- mental Disorders 2008; 38: 1634–41.
Dr. med. Ingo Spitczok von Brisinski
Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters LVR-Klinik Viersen, Ingo.SpitczokvonBrisinski@lvr.de
Interessenkonflikt
Dr. Ingo Spitczok von Brisinski erhielt Honorare für Vorträge zu psychischen Störungen von ADHS Deutschland e.V., Autismus-Therapiezentrum Münster, Kompetenznetzwerk Autismus Oberschwaben und Janssen-Cilag.
Kardiologische Störungen
Der Übersichtsartikel beleuchtet viele klinische Aspekte (1). Ver- misst habe ich aber Aspekte zu kardiologischen Störungen, insbe- sondere auch bei differenzialdiagnostischen Abgrenzungen zu ande- ren zentralnervösen Ausfallsleiden. Ich konnte einen Fall eines Wolff-Parkinson-White-Syndroms (WPW-Syndrom) bei einem jun- gen Klinefelter-Patienten beobachten, bei dem Tachykardie-Atta- cken zu Bewusstseinsstörungen führten. Es ist offenbar eine statis- tisch gehäufte Prävalenz des WPW-Syndroms (eventuell auch ande- rer Herzrhythmusstörungen) beim Klinefelter-Syndrom zu beobach-
ten. DOI: 10.3238/arztebl.2013.0675b
LITERATUR
1. Nieschlag E: Klinefelter syndrome: the commonest form of hypogonadism, but often overlooked or untreated. Dtsch Arztebl Int 2013; 110(20): 347–53.
Dr. med. Reinhard Niemann
Praxis für Neurologie und Psychiatrie, Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie Betriebsmedizin, Radolfzell
Interessenkonflikt
Der Autor erklärt, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Schlusswort
Wie im Artikel dargestellt zeichnet sich das Klinefelter-Syndrom (KS) durch zahlreiche Komorbiditäten aus. Dazu gehören auch Herzkrankheiten, die bisher meist im Zusammenhang mit dem me- tabolischen Syndrom gesehen wurden. Bei dem von Herrn Dr. Nie- mann beschriebenen Zusammentreffen von KS und Wolff-Parkin- son-White-Syndrom (WPW-Syndrom) scheint es sich jedoch um ein sehr seltenes Ereignis zu handeln, denn das WPW-Syndrom wurde weder bei einem der 69 intensiv kardiologisch untersuchten italienischen Patienten mit KS gefunden (1), noch wurde es bei ei- nem der über 500 Patienten unserer Einrichtung beschrieben und insbesondere wurde es bei keinem aus einer speziell kardiologisch untersuchten Untergruppe von 132 Patienten gefunden. Festzuhal- ten bleibt jedoch, dass Erkrankungen des Herzens und der Gefäße zur erhöhten Mortalität der Patienten mit KS beitragen.
Herrn Dr. Spitczok von Brisinski erweitert den im Artikel aus Platzgründen kurz gehaltenen Abschnitt über psychische und neuro- logische Probleme bei Jungen mit KS vor der Pubertät. Auch die von ihm angegebene Literatur ergänzt die bereits in der Übersicht aufgeführten Zitate sehr gut. Der Leserbrief unterstreicht einmal mehr, dass auch bei Kindern und Jugendlichen mit psychischen und psychiatrischen Auffälligkeiten an ein KS gedacht werden muss und unterstützt damit die Intention der Übersichtsarbeit.
DOI: 10.3238/arztebl.2013.0675c LITERATUR
1. Pasquali D, Arcopinto M, Renzullo A, et al.: Cardiovascular abnormalities in Klinefelter Syndrome. Int J Cardiol 2012 [Epub ahead of print].
2. Nieschlag E: Klinefelter syndrome: the commonest form of hypogonadism, but often overlooked or untreated. Dtsch Arztebl Int 2013; 110(20): 347–53.
Prof. Dr. med. Dr. h. c. Eberhard Nieschlag FRCP
Centrum für Reproduktionsmedizin und Andrologie, Universitätsklinikum Münster Eberhard.Nieschlag@ukmuenster.de
Interessenkonflikt
Der Autor erklärt, dass kein Interessenkonflikt besteht.
zu dem Beitrag
Klinefelter-Syndrom: Häufigste Form des Hypogonadismus, aber oft übersehen oder unbehandelt
von Prof. Dr. med. Dr. h.c. Eberhard Nieschlag in Heft 20/2013