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Interpretationskurs Theoretische Philosophie Der Anfang von Aristoteless Metaphysik – Stichworte (7.11.2006)

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Universit¨at Dortmund, Wintersemester 2006/07 Institut f¨ur Philosophie

C. Beisbart

Interpretationskurs Theoretische Philosophie Der Anfang von Aristoteless Metaphysik – Stichworte (7.11.2006)

Textgrundlage: Aristoteles, Metaphysik I.1

1. Ein guter Zugang zu Texten: ¨Uberlegen Sie sich, was Sie mit dem Titel/einer Teil¨uberschrift verbinden: Was erwarten Sie? Was w¨urden Sie zu dem Thema sagen?

2. Beim Lesen von Textteilen: Fragen Sie sich, was der Autor tut (vgl. John Austin,

”How to do things with words“). Er k¨onnte zum Beispiel: eine Aussage aufstellen (etwas behaupten), etwas begr¨unden, ein Beispiel geben, die Position eines Gegners wiedergeben, sich einen Einwand stellen, einen Einwand widerlegen ....

3. Im ersten Absatz der

”Metaphysik“ stellt Aristoteles zun¨achst eine These auf, die er dann zu begr¨unden versucht. Daß er eine These aufstellt, l¨aßt sich etwa daran erkennen, daß er Aussages¨atze im Indikativ formuliert und daß er das, was er sagt, zu begr¨unden sucht (wer eine Aussage trifft, eine Behauptung aufstellt, muß sich stets auf die Bitte einlassen, die Aussage zu begr¨unden). Daß er sp¨ater eine Begr¨undung liefert, sieht man sehr gut an Ausdr¨ucken wie

”das beweist“ und

”denn“.

4. Die These von Aristoteles lautet:

T ”Alle Menschen streben von Natur nach Wissen.“1 Erkl¨arungsbed¨urftig ist dabeiht.

5. Schauen wir uns daher die Begr¨undung von Aristoteles an. Aristoteles sagt zun¨achst, daß der Mensch Freude an den Sinneswahrnehmungen hat.

B ”dies [unsere These, Akkusativ] beweist die Freude an den Sinneswahrneh- mungen; denn diese erfreuen an sich, auch abgesehen von dem Nutzen, und vor allen anderen [Sinneswahrnehmungen erfreuen] die Wahrnehmungen mit- tels der Augen.“

Der n¨achste Satz beginnt erneut mit einem

”Denn“. Es liegt nahe anzunehmen, daß darin weitere Details begr¨undet werden, die wir zun¨achst vernachl¨assigen k¨onnen.

Wir beschr¨anken uns daher zun¨achst auf den zitierten Teilsatz B. Inwiefern be- gr¨undet B die These von Aristoteles?

Zun¨achst f¨allt auf, daß in B weder von Wissen noch von einem naturhaften Streben die Rede ist. Das verwundert, da Aristoteles’ These doch gerade davon handelt.

1 Zitate nach der Rowohlt-Ausgabe (Hrsg. U. Wolf, alles S. 37).

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Es k¨onnte jedoch sein, daß Aristoteles’ Begr¨undung auf zus¨atzlichen Annahmen beruht, die er nicht explizit nennt, zum Beispiel, weil sie v¨ollig selbstverst¨andlich sind. Man sagt dann auch, die Begr¨undung sei elliptisch. Versuchen wir also, Aristoteles’ Begr¨undung zu vervollst¨andigen, indem wir Annahmen hinzuf¨ugen, die bei seiner Begr¨undung eine Rolle spielen, die er aber nicht explizit nennt.

Dabei wollen wir uns am Begriff eines Schlusses orientieren. Ein Schluß ist der Ubergang von einer Menge von Aussagen zu einer neuen Aussage.¨ 2 Hier finden Sie ein Beispiel eines Schlusses:

• Ina ist eine Kuh.

• Jede Kuh gibt Milch.

• Ina gibt Milch.

Dabei haben wir zun¨achst die Menge von Aussagen, von denen ausgegangen wird, aufgeschrieben. Diese Aussagen bezeichnet man als Pr¨amissen. Der Strich markiert den ¨Ubergang. Unter dem Strich steht dann die Aussage, auf die ¨ubergegangen wird, oder die Konklusion, wie man auch sagt.

Der Schluß, den wir im Beispiel betrachten, hat eine besondere Eigenschaft: Er ist formal g¨ultig. Bei formal g¨ultigen Schl¨ussen garantiert die Wahrheit der Pr¨amissen die Wahrheit der Konklusion. Die Konklusion kann also nicht falsch sein, wenn die Pr¨amissen wahr sind. Wenn man die Konklusion bestreitet, aber die Pr¨amissen f¨ur wahr h¨alt, dann begibt man sich in einen Widerspruch.

Um Aristoteles’ ellipitische Begr¨undung zu rekonstruieren, m¨ussen wir jedoch nicht unbedingt nach einem formal g¨ultigen Schluß suchen. Es reicht vielleicht, wenn wir einen Schluß finden, bei dem die Pr¨amissen die Konklusionglaubw¨urdiger oder wahrscheinlicher machen.

Dennoch wollen wir zun¨achst versuchen, Aristoteles’ Argument als einen formal g¨ultigen Schluß zu rekonstruieren, denn wenn uns das gelingt, dann hat Aristoteles’

Argument einen zwingenden Charakter: Wenn man die Pr¨amissen akzeptiert, dann muß man auch die Konklusion azkeptieren.

Eine Pr¨amisse, die Aristoteles explizit nennt, lautet offenbar:

P1 Alle Menschen haben Freude an den Sinneswahrnehmungen an sich.

Wir m¨ussen versuchen, weitere Pr¨amissen zu finden, so daß ein Schluß auf Aristo- teles’ These entsteht.

Um weitere Pr¨amissen zu finden, k¨onnen wir uns des folgenden Verfahrens bedie- nen: Wir versuchen die Distanz zwischen den Begriffen in T und P1 durch plausible Annahmen zu ¨uberbr¨ucken. Offenbar gilt:

P2 Sinneswahrnehmungen bilden eine Form von Wissen.

Im Interpretationskurs hatten wir P2 etwas anders formuliert. Wir hatten gesagt:

2 Im Eintrag

Schluß“ in der Enzyklop¨adie Philosophie und Wissenschaftstheorie, J. Mittelstraß (Hrsg.), Band 3, 1995) wird in der Definition eines Schlußes gefordert, daß im Schluß von den Pr¨amissen zur Konklusion gem¨aß einer Regelubergegangen wird. Im folgenden spielt diese Qualifikation jedoch¨ keine Rolle.

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P2v Sinneswahrnehmungen haben Wissen zur Folge.

F¨ur das folgende ist es jedoch g¨unstiger, von P2 anstatt von P2v auszugehen. Wir werden im folgenden auch P4 etwas anders als im Interpretationskurs formulieren.

Die Probleme, die wir im Interpretationskurs behandelt haben, ergeben sich jedoch ganz analog f¨ur P2 und P4.

Außerdem k¨onnen wir auch ansetzen:

P3 Wenn jemand an etwas an sich Freude empfindet, dann strebt er danach von Natur.

6. Nun betont Aristoteles sehr stark, daß wir Freude an der Sinneswahrnehmung an sich haben. Wir k¨onnen Aristoteles’ Formel

”auch abgesehen von dem Nutzen“, die er direkt hinter das

”an sich“ setzt, als Erl¨auterung von

”an sich“ auffassen.

Eine Freude an X an sich w¨are dann eine Freude, die wir nicht nur insofern haben, als X n¨utzlich ist; vielmehr bereitet uns X an und f¨ur sich Freude.

Eine ¨ahnliche Unterscheidung kennen wir auch in Bezug auf das menschliche Stre- ben. a. Wir k¨onnen nach einem Gegenstand streben um eines anderen willen. Bei- spiel: Peter strebt nach einem guten Examen in Philosophie, weil er Philosophie- Lehrer werden will. b. Wir k¨onnen nach einem Gegenstand um seiner selbst willen streben. Beispiel: Peter m¨ochte um des Spazierengehens willen spazierengehen (vgl.

dazu Aristoteles’ Nikomachische Ethik, I.1).

Die Beobachtung, daß Freude und unser Streben eine ¨ahnliche Struktur aufweisen – daß die Unterscheidung

”an sich“ und

”um etwas anderen willen“ f¨ur beide sinnvoll ist –, plausibilisiert nat¨urlich die These P3.

7. Der ¨Ubergang von P1, P2 und P3 nach T stellt jedoch noch keinen formal g¨ultigen Schluß dar. Aus P1 und P3 folgt lediglich:

Z Wir streben von Natur nach Sinneswahrnehmungen.

Einen formal g¨ultigen Schluß erhalten wir erst, wenn wir eine weiter Pr¨amisse hinzuf¨ugen:

P4 Wenn X Y zur Folge hat, und wenn wir von Natur nach X streben, dann streben wir nach Y von Natur.

Dabei sind X und Y beliebige Objekte menschlichen Strebens. P4 ist daher eine all- gemeine Aussage ¨uber das Wesen menschlichen Strebens. Wir h¨atten nat¨urlich an dieser Stelle nicht beliebige X und Y zulassen k¨onnen, sondern uns auf bestimmte X und Y einschr¨anken k¨onnen, aber Aristoteles’ Begr¨undung ist vielleicht plau- sibler, wenn an dieser Stelle ein allgemeiner Zug des menschlichen Strebens zum Tragen kommt.

Wir erhalten dann folgenden Schluß, der sich in zwei Schritte unterteilen l¨aßt.

P1 Alle Menschen haben Freude an den Sinneswahrnehmungen an sich.

P3 Wenn jemand an etwas an sich Freude empfindet, dann strebt er danach von Natur.

Z Wir streben von Natur aus nach Sinneswahrnehmungen.

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P2 Sinneswahrnehmungen sind eine Form von Wissen.

P4 Wenn X eine Form von Y ist, und wenn wir von Natur nach X streben, dann streben wir von Natur nach Y.

T Wir streben von Natur aus nach Wissen.

Z folgt dabei aus P1 und P3. Insgesamt entsteht ein formal g¨ultiger Schluß.

Unsere Rekonstruktion von B laboriert allerdings an folgendem Problem: Die Pr¨amisse P4 ist im allgemeinen nicht richtig. Das kann man sich etwa an fol- gendem Beispiel klarmachen: Theaterbesuche sind eine Form von Geldausgeben.

Peter strebt von Natur nach Theaterbesuchen. Aber er strebt nicht von Natur nach Geldausgeben. Er strebt ¨uberhaupt nicht nach Geldausgeben, sondern nimmt das Geldausgeben nur in Kauf, wenn er ins Theater geht. F¨ur B wirft das folgende Frage auf: K¨onnte es nicht sein, daß wir von Natur nach Wahrnehmungen streben, aber nicht nach anderen Formen oder Arten von Wissen, sagen wir mathemati- schem Wissen? Was rechtfertigt einen Beweisschritt von den Wahrnehmungen zum Wissen im allgemeinen?

8. Nun stehen wir vor einem Problem: Wir haben zwar eine Rekonstruktion von B gefunden, aber diese Rekonstruktion beruht auf einer falschen Pr¨amisse. Wir haben zwar eine Deutung von B gefunden, aber diese Deutung macht B uninteressant, weil B dann auf einer falschen Pr¨amisse beruht.

9. Zun¨achst fragt sich: Gibt die Deutung das wieder, was Aristoteles im Sinn hat?

Allgemein wendet man in solchen Situationen ein

”Prinzip des Wohlwollens“ –

”Principle of Charity“ an (D. Davidson). Ein solches Prinzip fordert einem Autor gegen¨uber Wohlwollen. Man kann ein solches Prinzip vielleicht wie folgt formulie- ren:

PdW Unterstelle einem anderen Autor nur wahre Pr¨amissen, es sei denn, es gibt – z. B. im Text – Anzeichen daf¨ur, daß der Autor eine bestimmte falsche Pr¨amisse f¨ur wahr h¨alt.

Ebenso nimmt man in der Regel an, daß ein Autor eine Begr¨undung korrekt voll- zieht, daß ihm also beim ¨Ubergang zur Konklusion keine Fehler unterlaufen. In unserem Fall gibt es nun keine Anzeichen, daß Aristoteles P4 f¨ur wahr h¨alt. Daher m¨ussen wir unsere Interpretation verwerfen.

10. Es fragt sich nun: Welche bessere Interpretation gibt es?

Hier ist eine Idee: Die Aussage, daß alle Menschen von Natur nach Wissen streben, folgt nicht daraus, daß wir Freude an Sinneswahrnehmungen an sich haben, daß Sinneswahrnehmungen Wissen vermitteln und daß wir nach dem von Natur stre- ben, was uns an sich Freude bereitet, also aus P1, P2 und P3. Vielmehr kann man die allgemein anerkannte Tatsache, daß wir Freude an den Sinneswahrnehmungen an sich haben (P1), durch die Annahme erkl¨aren, daß wir von Natur Wissen erstreben. Der Satz

”Alle Menschen streben von Natur nach Wissen“ bezieht f¨ur Aristoteles also seine Glaubw¨urdigkeit nicht daraus, daß er aus anerkannten Tat- sachen folgt, sondern daraus, daß er diese Tatsachen erkl¨art. Wir haben es also beim Schluß von P1, P2 und P3 auf T nicht mit einem formal g¨ultigen Beweis,

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sondern mit einer Plausbilit¨ats¨uberlegung zu tun. T ergibt sich nicht in zwingen- der Weise aus einigen Pr¨amissen, sondern wird insofern glaubw¨urdig, als es eine Erkl¨arungsleistung erbringt.

11. Achtung, wenn hier von Erkl¨arung gesprochen wird, dann ist keine Begriffser- kl¨arung gemeint. W¨ahrend eine Begriffserkl¨arung eine Antwort auf die Frage gibt:

”Was ist X?“ oder

”Was meinst Du, wenn Du das Wort

”X“ verwendest?“, be- antwortet eine Erkl¨arung im hier relevanten Sinn die Frage:

”Warum ist etwas der Fall?“. Beispiel: Man kann erkl¨aren wollen, warum Bananen krumm sind.

12. Nun kann man sich fragen: Wie erkl¨art T (mit anderen Annahmen) die Beob- achtung, die in P1 zum Ausdruck kommt? Um diese Frage zu beantworten, kann man versuchen, die Erkl¨arung als Schluß darzustellen. Dabei m¨ussen wir jedoch vorsichtig sein:

1. Der Schluß, der Aristoteles’ Begr¨undung darstellen soll, und der Schluß, der die Erkl¨arung darstellen sind, m¨ussen unterschieden werden.

2. Es ist umstritten, ob man jede Erkl¨arung als einen Schluß darstellen kann, und ganz bestimmt kann nicht jeder Schluß als Erkl¨arung aufgefaßt werden.

13. Gehen wir also von P1 aus und versuchen wir P1 zu erkl¨aren, indem wir einen Schluß konstruieren, der von T und anderen Annahmen auf P1 f¨uhrt. Hier ist ein Versuch:

T Alle Menschen streben von Natur nach Wissen.

P2 Sinneswahrnehmungen sind eine Form von Wissen.

P5 Wenn Y eine Form von X ist, und wenn wir von Natur nach X streben, dann streben wir von Natur nach Y.

Z1 Alle Menschen streben von Natur nach Sinneswahrnehmungen.

P6 Wenn wir von Natur nach etwas streben, dann haben wir daran an sich Freude.

K=P1 Alle Menschen haben Freude an den Sinneswahrnehmungen an sich.

Dieser Schluß ist formal g¨ultig. T und P2 gehen als Pr¨amissen in den Schluß ein.

Beachten Sie, daß P4 und P5 nicht identisch sind. Das liegt daran, daß X und Y in P4 und P5 nicht genau dieselben Rollen spielen. Grob gesagt behauptet P4, daß jemand, der von Natur nach X strebt, auch nach dem von Natur strebt, was X allgemeiner ist (X ist eine Form von Y – in unserer Anwendung: jemand, der von Natur nach Sinneswahrnehmungen strebt, strebt von Natur auch nach Wissen). P5 behauptet hingegen, daß jemand, der von Natur nach X strebt, auch nach dem von Natur strebt, was spezieller ist (Y ist eine Form von X – in unserer Anwendung:

jemand, der von Natur nach Wissen strebt, strebt von Natur auch nach Sinnes- wahrnehmungen). Daher ist P5 auch plausibler als P4. In unserer Anwendung von P5 gilt etwa: Wer von Natur nach Wissen strebt, der strebt ipso facto auch von Natur nach Sinneswahrnehmungen; denn wenn jemand nicht von Natur nach Sin- neswahrnehmungen strebt, dann strebt er nicht von Natur nach allen Formen des Wissens, und wir k¨onnen nicht allgemein sagen, daß er von Natur nach Wissen strebt.

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Beachten Sie auch, daß P6 nicht dasselbe ist wie P3. P3 besagt, daß wir nach allem von Natur streben, was uns an sich Freude bereitet. P6 besagt umgekehrt, daß wir an allem an sich Freude haben, wonach wir von Natur aus streben.

Wir haben damit die Erkl¨arung von P1 durch einen Schluß dargestellt, der von T und plausiblen Annahmen ausgeht. Insofern T (zusammen mit anderen Annah- men) P1 erkl¨art, beweist es Erkl¨arungskraft. Der Schluß auf P1 begr¨undet/beweist dabei nicht direkt T, aber die Idee ist, daß T durch seine Erkl¨arungskraft an Glaubw¨urdigkeit gewinnt. Dadurch entsteht ein Argument f¨ur T. Dieses Argu- ment k¨onnen wir wie folgt darstellen.

P1 Alle Menschen haben Freude an den Sinneswahrnehmungen an sich.

P7 T erkl¨art (zusammen mit anderen plausiblen Annahmen), warum P1 der Fall ist.

T Alle Menschen streben von Natur nach Wissen.

14. Nun gibt es aber auch andere M¨oglichkeiten, P1 zu erkl¨aren. Wir k¨onnten zum Beispiel f¨ur unsere Freude an den Sinneswahrnehmungen an sich aufzukommen versuchen, indem wir sagen, daß Sinneswahrnehmungen uns Unterhaltung ver- schaffen und daß wir von Natur aus nach Unterhaltung streben. Diese Erkl¨arung k¨onnen wir wie folgt rekonstruieren:

Tv Alle Menschen streben von Natur nach Unterhaltung.

P2v Sinneswahrnehmungen sind eine Form von Unterhaltung.

P5 Wenn Y eine Form von X ist, und wenn wir von Natur nach X streben, dann streben wir von Natur nach Y.

Z1 Alle Menschen streben von Natur nach Sinneswahrnehmungen.

P6 Wenn wir von Natur nach etwas streben, dann haben wir daran an sich Freude.

K=P1 Alle Menschen haben Freude an den Sinneswahrnehmungen an sich.

Daraus w¨urde folgendes Argument f¨ur Tv entstehen:

P1 Alle Menschen haben Freude an den Sinneswahrnehmungen an sich.

P8 Tv erkl¨art (zusammen mit anderen plausiblen Annahmen), warum P1 der Fall ist.

Tv Alle Menschen streben von Natur nach Unterhaltung.

15. Damit erhalten wir nun aber ein Problem. Denn nun haben wir zwei Erkl¨arungen desselben Ph¨anomens. Wenn wir einer Hypothese insofern Glaubw¨urdigkeit zu- schreiben, als sie Erkl¨arungskraft besitzt, dann k¨onnen wir zwei Argumente f¨ur unterschiedliche Hypothesen konstruieren.

Nun ist intuitiv aber klar, daß vielleicht nicht beide Erkl¨arungen zutreffen. Es k¨onnte sein, daß hinter unserer Freude an den Sinneswahrnehmungen an sich letzt- lich nur das nat¨urliche Streben nach Wissen steht.

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Aus diesem Grunde ist es auch nicht immer angezeigt, von der Erkl¨arungskraft einer Hypothese auf ihre Glaubw¨urdigkeit zu schließen. Vielmehr kommt es darauf an, daß die Hypothese eine gute, eine richtige Erkl¨arung liefert. Nur wenn das der Fall ist, gewinnt sie an Glaubw¨urdigkeit. Wir d¨urfen also nur auf eine Hypothese schließen, die eine gute oder die beste Erkl¨arung liefert. Nur folgender Schluß ist also berechtigt:

P1 Alle Menschen haben Freude an den Sinneswahrnehmungen an sich.

P7 T erkl¨art (zusammen mit anderen plausiblen Annahmen) gut/am besten, warum P1 der Fall ist.

T Alle Menschen streben von Natur nach Wissen.

Wenn auf eine Hypothese geschlossen wird, die die beste Erkl¨arung liefert, dann spricht man in der Literatur von einem Schluß auf die beste Erkl¨arung (

”in- ference to the best explanation“). Solche Schl¨usse gelten, wenn sie auf wahren Pr¨amissen beruhen, als legitim. In der Praxis gibt man sich dabei meist zufrieden, daß eine bestimmte Hypothese eine gute Erkl¨arung liefert und pr¨uft nicht, ob es nicht noch eine bessere Erkl¨arung gibt.

16. Es fragt sich daher: Ist die Erkl¨arung von P1 durch T hinreichend gut, so daß wir auf T schließen k¨onnen? Allgemeiner fragt sich: Wann ist eine Erkl¨arung gut?

Eine vern¨unftige Antwort auf diese Frage lautet: Eine Erkl¨arung eines Ph¨anomens ist dann gut, wenn sie auch f¨ur die Details des Ph¨anomens oder weitere, verwandte Beobachtungen aufkommt. T liefert also auch dann eine gute Erkl¨arung des in P1 genannten Ph¨anomens, wenn T f¨ur verwandte Beobachtungen aufkommen kann.

Die ¨Uberlegungen, die Aristoteles im n¨achsten Satz ausf¨uhrt, k¨onnen wir nun in der Tat in diesem Sinne interpretieren. Wir zitieren zun¨achst den ganzen Text:

”Denn nicht nur zu praktischen Zwecken, sondern auch wenn wir keine Handlung beabsichtigen, ziehen wir das Sehen so gut wie allem andern vor, und dies deshalb, weil dieser Sinn uns am meisten Erkenntnis gibt und viele Unterschiede offenbart.“

”Erkenntnis“ meint dabei wohl dasselbe wie

”Wissen“.

Wir k¨onnen diese Passage wie folgt verstehen: Aristoteles nennt zun¨achst eine Detail- oder verwandte Beobachtung zu den Sinneswahrnehmungen. Dieser Be- obachtung zufolge ziehen wir im Zweifel den Gesichtssinn (die Augen) vielem, insbesondere wohl anderen Sinnen (anderen Sinnesorganen wie dem Ohr) vor.

Zus¨atzlich beobachtet er, daß der Gesichtssinn uns mehr Wissen bringt als andere Sinne. Diese Beobachtung und die Hypothese T (daß der Mensch von Natur nach Wissen strebt) k¨onnen nun erkl¨aren, warum wir den Gesichtssinn anderen Sinnen vorziehen – wir ziehen ihn vor, weil wir von Natur nach Wissen streben und weil er uns vergleichsweise am meisten Wissen liefert.

Die Hypothese T spielt also nicht nur in der Erkl¨arung, warum wir uns an den Sin- neswahrnehmungen an sich freuen, eine gewichtige Rolle. Sie spielt auch eine Rolle f¨ur die Erkl¨arung, warum wir den Gesichtssinn anderen Sinnen vorziehen. Daher

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kann man sagen, daß sie insgesamt eine gute, eine hinreichend gute Erkl¨arung lie- fert. Insbesondere ist sie wohl der Erkl¨arung durch Tv vorzuziehen. Das ist Grund genug, die Hypothese T f¨ur wahr zu halten.

17. Blicken wir nochmal auf den letzten Satz bei Aristoteles, den wir zitiert hatten (”Denn nicht nur zu [...]“). Oberfl¨achlich betrachtet k¨onnte man folgendes ein- wenden: Aristoteles begr¨undet darin die Auffassung, daß wir das Sehen vielem (anderen Sinnen) vorziehen, indem er darauf verweist, daß das Sehen am meisten Wissen bringt. Aber diese Begr¨undung macht nur dann Sinn, wenn wir bereits unterstellen, daß wir von Natur nach Wissen streben. Aber genau das sollte ja eigentlich bewiesen werden! Aristoteles scheint daher in seinem Argument f¨ur T T selbst als Pr¨amisse zu bem¨uhen.

Dieser Einwand beruht aber auf einem Mißverst¨andnis. Denn Aristoteles’ Ziel ist es nicht, T aus bestimmten Pr¨amissen herzuleiten. Vielmehr will er zeigen, daß T erfolgreich ist, wenn bestimmte Erkl¨arungsl¨ucken zu f¨ullen sind. Die Tatsa- che, daß das Vorziehen von Sinneswahrnehmungen unter Zuhilfenahme von T aus dem Charakter des Sehens folgt, das sehr viel Wissen vermittelt, zeigt, daß T Erkl¨arungskraft hat und daher glaubw¨urdig ist.

18. Wir k¨onnen nun zu der Frage zur¨uckkehren, was das

”von Natur“ in T meint. Dazu k¨onnen wir nun auf P6 zur¨uckgreifen. P6 spielt in derjenigen Erkl¨arung von P1, die wir als gut eingestuft haben, und damit auch in Aristoteles’ Begr¨undung eine Rolle. Sie wird daher von Aristoteles als wahr unterstellt. Wir k¨onnen P6 daher als Erl¨auterung des

”von Natur“ ansehen. Streben von Natur ist demnach immer mit einer Freude an dem Gegenstand des Strebens an sich verbunden. Wir streben daher insofern als Natur, als wir daran Freude an sich haben. Wenn unsere obigen Uberlegungen zur Struktur¨¨ ahnlichkeit von Freude und Streben richtig sind, dann folgt aus der Naturhaftigkeit des Wissensstrebens, daß es um des Wissens selbst willen und nicht um anderer Ziele willen besteht. Vielleicht ist das der Sinn von Aristoteles’ These: Wir streben nach Wissen um des Wissens willen.

19. Zusammenfassung: Aristoteles’

”Metaphysik“ beginnt mit der These, daß alle Menschen von Natur nach Wissen streben (T). Wir haben versucht, Aristote- les’ Begr¨undung f¨ur diese These zu verstehen. Zun¨achst haben wir daf¨ur versucht, das, was Aristoteles explizit sagt, als ellipitische Begr¨undung aufzufassen und als einen formal g¨ultigen Schluß zu rekonstruieren. Allerdings mußten wir dazu eine Pr¨amisse einf¨uhren, die nicht richtig ist (P4). Indem wir das Prinzip des Wohl- wollens anwandten, schlossen wir, daß unsere erste Interpretation von Aristoteles nicht richtig war. Wir haben dann eine alternative Lesart von Aristoteles’ Be- gr¨undung entwickelt. Demnach versucht Aristoteles die Glaubw¨urdigkeit seiner These zu erh¨ohen, indem zeigt, daß sie eine gute Erkl¨arung von allgemein bekann- ten Ph¨anomenen (der Freude an den Sinneswahrnehmungen an sich) liefert. Die Erkl¨arung, die Aristoteles dabei im Sinn hat, kann man hier seinerseits als Schluß darstellen. Dieser Schluß enth¨alt allerdings T nicht als Konklusion, sondern als Pr¨amisse. Um zu zeigen, daß T wirklich eine gute Erkl¨arung f¨ur die Freude an den Sinneswahrnehmungen an sich liefert, erkl¨art Aristoteles mithilfe von T ein weiteres Detail unserer Einstellungen zu Sinneswahrnehmungen.

En passant haben wir auch die Begriff eines Schlusses, eines formal g¨ultigen Schlus- ses und von Pr¨amissen und Konklusion eingef¨uhrt. Ein Schluß ist ein ¨Ubergang von

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Aussagen zu einer neuen Aussage. Man kann ein Argument, das einem Schluß folgt, auf zweierlei Arten kritisieren, indem man entweder die Wahrheit der Pr¨amissen oder den ¨Ubergang zur Konklusion selbst anzweifelt. Bei einem formal g¨ultigen Schluß verbietet sich allerdings die zweite Art von Kritik, denn hier erzwingt die Wahrheit der Pr¨amissen die Wahrheit der Konklusion.

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