Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen TAGUNGSBERICHT
Auf ein — wie er sagte — „Versa- gen des Staates" führt der Erste Bundesvorsitzende des Deutschen Kassenarztverbandes, Dr. med.
Helmuth Walther (Büttelborn bei Groß-Gerau), den etwa 30 Prozent betragenden Mangel an Ärzten im Öffentlichen Gesundheitsdienst zu- rück. Auf der Jahresversammlung seines Verbandes in Gravenbruch bei Neu-Isenburg erklärte der Bun- desvorsitzende, Planung und Si- cherstellung der amtsärztlichen Versorgung seien zwar immer wie- der versprochen, die Zusagen sei- en jedoch nicht eingehalten wor- den.
Walther bezeichnete es in diesem Zusammenhang als „grotesk", daß in diese Lücke die nur zu oft kriti- sierten Allgemeinmediziner ein- springen müßten. So habe die Lan- desärztekammer Hessen der Ärz- teschaft auferlegt, dem Öffentlichen Gesundheitsdienst dadurch zu hel- fen, daß in die Weiterbildungsord- nung der Ärzte für Allgemeinmedi- zin ein dreimonatiger Dienst an Gesundheitsämtern als Pflichtlei- stung eingebaut worden sei.
Als weitere Engpässe in der ärztli- chen Versorgung nannte der Bun- desvorsitzende den Mangel an Ärz- ten bei der Bundeswehr und in der Sozialversicherung, was ebenso dem Staat zuzuschreiben sei; den Zusatzbedarf an Narkoseärzten an den chirurgischen Abteilungen der Krankenhäuser, der zum größten Teil durch den Einsatz von rund 6000 ausländischen Ärzten gedeckt werden müsse; und den Ärzteman- gel in der stationären Psychiatrie an den Landeskrankenhäusern.
Daß es an Allgemeinärzten vor- nehmlich auf dem Lande und in
Stadtrandgebieten mangele, sei al- lenfalls ein Problem der Verteilung, meinte Walther. Nach seinen Anga- ben kommt in der Bundesrepublik Deutschland derzeit auf 480 Ein- wohner ein Arzt. Diese Feststellung enthalte noch keine Aussage über die Verteilung; hierin sollten je- doch die Kritiker des Gesundheits- wesens in seiner jetzigen Form die Hauptaufgabe sehen.
Für die Kostensteigerungen mach- te Dr. Walther ausschließlich die Krankenhäuser verantwortlich.
Während von 1970 bis 1973 die Krankenhauskosten von 28,8 Pro- zent auf 42,7 Prozent der Gesamt- ausgaben in der gesetzlichen Kran- kenversicherung gestiegen seien, gingen die Arzthonorare in dem gleichen Zeitraum von 21,1 Prozent auf 18,3 Prozent zurück. In keinem anderen System werde der Bevöl- kerung ein wirtschaftlicheres und effizienteres System der ambulan- ten ärztlichen Versorgung angebo- ten als in der Bundesrepublik.
Was die Sozialversicherung auf die Dauer ruinieren würde, seien die in der Tat „utopischen" Ausgaben für die stationäre ärztliche Versor- gung. Die „Akutbettenproduktion in Marmorpalästen", so Walther wört- lich, müßte unverzüglich eingestellt werden.
Der Sprecher wies auf die Bemü- hungen der Ärzteschaft um die Be- legung dringlich zu besetzender Kassenarztsitze hin. 1973 waren in der Bundesrepublik 55 600 Ärzte kassenärztlich tätig; in den ver- gangenen sechs Jahren ist ihre Zahl um rund sieben Prozent ge- stiegen, während die Bevölkerung um lediglich 4,9 Prozent zunahm.
Bis Mitte 1974 sei es gelungen, von
540 dringlich zu besetzenden Kas- senarztsitzen immerhin 360 zu be- setzen. Nur in der Einzelpraxis und in der individuellen Betreuung kön- ne die Zukunft der ärztlichen Ver- sorgung liegen. Darauf müßten alle Reformen abgestellt sein.
Die Hauptversammlung des Deut- schen Kassenarztverbandes billigte eine Resolution zum Krankenversi-
cherungs-Weiterentwicklungsge- setz, in der die Erhaltung der frei- beruflichen Tätigkeit und des Si- cherstellungsauftrages durch frei- praktizierende Ärzte gefordert wird. Die ärztliche Niederlassungs-
freiheit dürfe nicht eingeengt wer- den, heißt es in der an Bund und Länder gerichteten Entschließung, das für ein funktionstüchtiges Zu- sammenwirken von Krankenkassen und Ärzten notwendige Gleichge- wicht der Kräfte dürfe nicht gestört und zugunsten der Krankenkassen verlagert werden.
Mehrfach wurde betont, die deut- schen Kassenärzte seien bereit, an der Erhaltung der sozialen Krankenversicherung mitzuwirken.
Die Probleme im Gesundheitswe- sen könnten jedoch keinesfalls auf dem Boden von Ideologien gelöst werden. GM
Aus der Fragestunde des Bundestages Niedergelassene Ärzte als Betriebsärzte
Nach dem neuen Arbeitssicher- heitsgesetz, das die Arbeitgeber grundsätzlich verpflichtet, Be- triebsärzte für ihre Betriebe und Verwaltungen zu bestellen, können auch niedergelassene Ärzte als Be- triebsärzte tätig werden. Die zur Erlangung der erforderlichen Fach- kunde unter Umständen notwendi- gen Einführungskurse werden von den einzelnen Landesärztekam- mern und den Akademien für Ar- beitsmedizin in Berlin und Mün- chen angeboten. Auf diese Mög-
Das Gleichgewicht der Kräfte erhalten
Hauptversammlung des Deutschen Kassenarztverbandes
DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 16 vom 17. April 1975 1153
Spektrum der Woche Aufsätze -Notizen
AUS DER FRAGESTUNDE DES BUNDESTAGES
lichkeit wies der Parlamentarische Staatssekretär des Bundesarbeits- ministeriums, Hermann Buschfort, auf Anfrage des SPD-Abgeordneten Willi Peiter ausdrücklich hin.
Raucher-
entwöhnungskuren auf Kassenkosten
Eine Krankenkasse kann im Einzel- fall gegebenenfalls auch eine Rau- cherentwöhnungskur gewähren. Das hängt mit der Möglichkeit zusam- men, eine Behandlung in Kur- oder Spezialeinrichtungen zu bezahlen.
Diese Antwort erteilte die Bundes- regierung auf Anfrage eines Bun- destagsabgeordneten, der wissen wollte, ob die Bundesregierung auf die Krankenversicherungen einwir- ken wolle, bei bestimmten Erkran- kungen ärztlich für notwendig ge- haltene Raucherentwöhnungskuren als Heilmethode anzuerkennen. Die Bundesregierung will sich offen- sichtlich aus dieser Frage heraus- halten; sie erklärte: „Die Kranken- kasse hat in selbstverantwortlicher Anwendung der geltenden Bestim- mung zu prüfen und zu entschei- den, ob im Einzelfall gegebenen- falls auch eine Raucherentwöh- nungskur zu gewähren ist. Die Bundesregierung ist nicht ermäch- tigt, auf eine Rechtsanwendung in bestimmter Hinsicht hinzuwir- ken."
In einer früheren Auskunft des Bundesgesundheitsministeriums wurde betont, sie habe nicht die Absicht, entsprechend mehrfach erhobenen Forderungen den Ziga- retten- und Alkoholkonsum mit ei- nem sogenannten „Raucherpfen- nig" oder „Trinkerpfennig" zu be- lasten und zu beeinflussen.
Nach Ansicht der Bundesregierung könnte das einen ersten Schritt zu einer Art „Zwangsgesundheit" dar- stellen, bei der als gesundheitli- ches Fehlverhalten ausgelegte Ri- siken durch ein Bußgeld bestraft werden. HC
Arzneimittel
und Fahrtüchtigkeit
Der Bürger soll verstärkt auf den grundsätzlich gefährlichen Zusam- menhang zwischen der Einnahme von Arzneimitteln und der Fahr- tüchtigkeit hingewiesen werden.
Wie der Parlamentarische Staats- sekretär des Bundesgesundheits- ministeriums, Fred Zander, auf eine Frage des SPD-Abgeordneten Dr.
Hermann Schmitt-Vockenhausen mitteilte, will das Ministerium zu- sammen mit der Bundesärztekam- mer prüfen, ob sich ein Plakataus- hang in ärztlichen Wartezimmern, in Praxen oder Krankenhäusern empfiehlt. Entscheidend könnte aber nur die Belehrung des einzel- nen Patienten durch seinen Arzt sein. Zander machte darauf auf- merksam, daß der Gesetzentwurf zur Neuordnung des Arzneimittel- rechts vorsehe, bei der Zulassung eines Arzneimittels im Wege der Auflage einen Warnhinweis an- zuordnen, wenn das Mittel die Re- aktionsfähigkeit im Straßenverkehr beeinträchtige. Dieser Warnhinweis müsse je nach Lage des Falles auf dem Behältnis, auf der äußeren Umhüllung oder in der Gebrauchs- information stehen.
Zwei Millionen Haus- und Freizeitunfälle
Jährlich ereignen sich in der Bun- desrepublik Deutschland rund zwei Millionen Haus- und Freizeitunfälle mit 10 000 Todesopfern. Dies geht aus der Antwort des Parlamentari- schen Staatssekretärs des Bun- desarbeitsministeriums, Hermann Buschfort, auf eine kleine Anfrage des FDP-Bundestagsabgeordneten Hansheinrich Schmidt (Kempten) hervor. Die Zahlenangaben basie- ren auf einer Hochrechnung auf- grund von Erhebungen, die sechs Statistische Landesämter durchge- führt haben und die etwa 70 Pro- zent der Bevölkerung erfassen.
Um einen besseren Überblick über die Unfallsituation in Haus und
Freizeit zu erhalten, hat die Bun- desanstalt für Arbeitsschutz und Unfallforschung, Dortmund, einen Forschungsauftrag an die Ruhr- Universität Bochum vergeben.
Zur Zeit werden nach Angaben der Bundesregierung weitere Möglich- keiten geprüft, „wie mit vertretba- rem wirtschaftlichem Aufwand eine repräsentative Erhebung der Haus- haltsunfälle durchgeführt werden kann." Namentlich erwähnte Buschfort die in München ansässi- ge Aktion „Das sichere Haus", die aus Bundesmitteln gefördert wird und sich seit Jahren speziell mit der Verhütung von Unfällen in Haus und Freizeit befaßt. Darüber hinaus wird die Herstellung eines Fernsehfilms über Sicherheit im Haushalt aus Bundesmitteln finan- ziert, der demnächst im Gemein- schaftsprogramm der ARD gesen- det werden soll. HC
Schutz
vor Bleiverseuchung
Das Problem einer Bleiverseu- chung könne nur durch die Herab- setzung des Bleigehalts in Otto- kraftstoffen gelöst werden. Wie der Parlamentarische Staatssekretär des Bundesverkehrsministeriums, Ernst Haar, auf Anfragen des SPD- Abgeordneten Dr. Uwe Holtz mit- teilte, ist aus diesem Grund das Benzinbleigesetz geschaffen wor- den, in dem bis 1. Januar 1976 eine schrittweise Herabsetzung des Bleigehaltes in Ottokraftstoffen auf 0,15 WI vorgeschrieben ist. Haar wies darauf hin, daß nach Untersu- chungen der Bayerischen Landes- anstalt für Bodenkultur und Pflan- zenbau straßennahe Hecken die angrenzenden Kulturen gegen Bleiimmissionen nicht wirkungsvoll abschirmen könnten. Die Bundes- regierung beabsichtige daher auch nicht, kleine Hecken neben Bun- desfernstraßen anpflanzen zu las- sen. Straßenbepflanzungen würden nach bautechnischen, verkehrs- technischen und landschaftsgestal- terischen Gesichtspunkten geplant und angelegt.
1154 Heft 16 vom 17. April 1975 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT