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Archiv "Weibliche Genitalverstümmelung: Keine Kultur, sondern Folter" (23.03.2001)

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omfort Ottah, eine Hebamme aus Nigeria, schreibt in einem Leser- brief zur weiblichen Genitalver- stümmelung: „Ich vergebe meinen afri- kanischen Vorfahren, die vor hundert Jahren im Namen der Kultur ihre Frau- en und Mädchen verstümmelt haben.

Aber im 21. Jahrhundert: Nein! Wir wissen es besser.“ Nicht zuletzt durch das Buch „Wüstenblume“ des somali- schen Models Waris Dirie ist die Pro- blematik auch in Deutschland ins öf- fentliche Bewusstsein gerückt.

Die Kölner Bürgermeisterin Angela Spitzig (Grüne) hatte sich bereit erklärt, die Schirmherrschaft über eine Reihe von Veranstaltungen zur weiblichen Ge- nitalverstümmelung in Köln zu über- nehmen. „Dieses Thema geht nicht nur die Frauen und Männer in Afrika und Asien etwas an, sondern uns alle. Die Missachtung der Menschenrechte der Frauen ist in keinem Kulturkreis ge- rechtfertigt“, sagte Spitzig. Neben einer Ausstellung nigerianischer Künstler hat die Menschenrechtsorganisation Terre des Femmes eine Podiumsdiskussion zum Thema veranstaltet. Sie sollte Be- troffenen, Menschen, die mit Migranten arbeiten, Frauen- und Kinderärzten, Hebammen, aber auch Erzieherinnen und Lehrern die Möglichkeit bieten, sich zu informieren. Bürgermeisterin Spitzig betonte, es sei gut, dass das The- ma wieder auf der Tagesordnung stehe,

„um dieser zerstörerischen Tradition Einhalt zu gebieten“. Zu diesem Zweck habe auch das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit sechs Millionen DM für Aufklärungsprojekte in Afrika bereit gestellt.

Die Tradition führt immer noch dazu, dass hauptsächlich in Afrika, aber auch in Teilen Arabiens, Südostasiens und La- teinamerikas Frauen und Mädchen an ihren Genitalien verstümmelt werden.

Die meisten Mädchen wer- den im Alter zwischen vier und acht Jahren dem „men- schenverachtenden Brauch“

unterzogen, berichtete Silvia Frank von Terre des Femmes.

Ohne Betäubung werden ih- nen mit Glasscherben, Mes- sern oder Rasierklingen je nach Tradition teilweise oder vollständig die Kli- toris (Klitoridektomie), die kleinen Schamlippen (Exzision) oder zusätzlich die großen Labien und ein Teil des Venushügels ent- fernt. Bei dieser letzten Form wird die verbleibende Haut anschließend zusam- mengenäht oder mit Dornen aneinander geheftet (Infibulation).

Es bildet sich Narbengewebe, das nur eine winzige Öffnung für Urin und Menstruationsblut lässt. Die Infi- bulation wird vor allem in Somalia, Äthiopien, Eritrea und im Sudan praktiziert. Die Sterberate liegt Terre des Femmes zufolge bei 30 bis 40 Prozent. Die Überlebenden leiden ein Leben lang an den Folgen: chronische Schmerzen und Infektionen, Beschwer- den bei Menstruation und Wasserlassen, Unfruchtbarkeit und Inkontinenz, ver- härtete Narben, Narbenwucherungen, Zysten und erschwerte Geburten.

Auch in Deutschland leben Schät- zungen zufolge 20 000 Frauen, die Op-

fer genitaler Verstümmelung sind. Be- droht sind aber auch deren Töchter, die in Deutschland oder während eines Aufenthalts im Herkunftsland dem Ri- tual unterzogen werden. Dazu Heidrun Nitschke-Özbay, Gynäkologin am Ge- sundheitsamt der Stadt Köln: „Jeder Gynäkologe mit afrikanischer Klientel muss damit rechnen, mit dieser Proble- matik konfrontiert zu werden.“ Leider gebe es kaum Beratungsangebote für betroffene Frauen oder deren Ärzte.

Erste Ansätze zu einer Vernetzung verschiedener Initiativen sind je- doch erkennbar. Seit 1999 ver- sucht der Arbeitskreis „Wir brechen ein Tabu“ in Dort- mund, Beratungsangebote sicherzustellen. Dem Kreis gehören inzwischen auch vier Ärzte an. Gute Kon- takte gebe es auch zu Juri- stinnen, sagte eine der In- itiatorinnen, Ulla Barreto.

Denn bislang gibt es im Asyl- und Ausländerrecht keine Regelung zum Um- gang mit Frauen, die von Genitalverstümmelung bedroht sind. Rechtsan- wältin Kerstin Müller zu-

folge kann eine drohende genitale Ver- stümmelung zwar als Abschiebehinder- nis gelten. Sie sei im Einzelfall aber schwer nachzuweisen.

„Ich habe eine Tochter und Nichten, die ich vor dieser Praxis schützen will“, erklärte der aus dem Senegal stammen- de Abdou Karim Sané, Vorsitzender des Ausländerbeirats der Stadt Hanno- ver, sein Engagement. „Das Thema darf nicht nur in kleinen Kreisen diskutiert werden.“ Die Öffentlichkeit, vor allem aber die Migrantinnen müssten aufge- klärt werden, auch um deren Töchtern eine ähnliches Schicksal zu ersparen.

„Das ist keine Kultur, das ist Folter“, schrieb Comfort Ottah in ihrem Leser-

brief. Heike Korzilius

P O L I T I K

A

A734 Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 98½½½½Heft 12½½½½23. März 2001

Die Skulptur „Infibulation Stone“ des nigerianischen Künstlers Alloysius Osagie ist im Rah- men der Wanderausstellung

„Weibliche Genitalverstüm- melung – Künstlerinnen und Künstler aus Nigeria klagen an“ zu sehen.

Terre des Femmes informiert in einem Faltblatt über die Rechtslage in Deutschland, wo ein solcher Eingriff straf- bar ist, aber auch über die gesundheitlichen Folgen der

„weiblichen Beschneidung“ und über Beratungsan- gebote. Daneben unterstützt die Organisation Auf- klärungsprojekte in Afrika. Kontakt: Terre des Femmes, Städtegruppe Köln, Sabine Krüger, Telefon: 02 21/

88 35 89, E-Mail: nc-kruegesa@netcologne.de, Spen- denkonto: TDF-Städtegruppe Köln, Kölner Bank, Kto.- Nr.: 536 053 000, BLZ: 371 600 87

Weibliche Genitalverstümmelung

Keine Kultur, sondern Folter

Weltweit leben 150 Millionen Frauen und Mädchen, deren

Genitalien im Namen von Kultur und Tradition verstümmelt

wurden. In Deutschland schätzt man ihre Zahl auf 20 000.

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