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Archiv "Alterspsychiatrie heute — eine Standortbestimmung: Stellungnahme I" (20.02.1985)

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

AUSSPRACHE

Stellungnahme I

Die Standortbestimmung von Rai- ner Tölle wäre uneingeschränkt zu akzeptieren, wenn sie nicht nur einen Teil der Besonderheiten der Gerontopsychiatrie und ihre Ver- flechtung mit der Allgemein- psychiatrie darstellen und wenn sie die Fülle offener Fragen der Alternsproblematik und den Bei- trag der Gerontopsychiatrie zu ih- rer Lösung nicht unerwähnt las- sen würde. Einige Passagen aus dem Artikel von Tölle legen den Verdacht nahe, daß er — wie man- che „Erwachsenen"-Mediziner — ja „auch" und „schon immer" Al- terskranke behandelt. Die Frage nach der besonderen Qualität von Diagnostik und Therapie in der Geriatrie scheint nur eine unter- geordnete Rolle zu spielen. Zu fragen ist auch, warum andere

„Subdisziplinen" sich unvermin- derten wissenschaftlichen Inter- esses erfreuen, während der alt werdende und ältere Mensch of- fenbar über keine ausreichende

„Lobby" verfügt, um Anliegen sei- ner Gesundheit und Krankheit zur Darstellung zu bringen.

Inhalte besonderer geronto- psychiatrischer Forschung, Lehre und Praxis, die von der allgemei- nen Psychiatrie allenfalls global geleistet werden und die über Töl- les Standortbestimmung erheb- lich hinausreichen, sind: Entwick- lung und Evaluation von auf die spezifische Alterssituation ausge- richteten Therapieverfahren; Be- urteilung der Wirksamkeit medi- kamentöser Substanzen ein- schließlich ihrer Begleiterschei- nungen und ihrer Auswirkung auf den alternden Organismus; Kon-

zepte moderner psychosozialer Intervention, Therapie und Reha- bilitation, die sich nicht nur auf konventionelle Psychotherapie beschränken; präventive Verfah- ren im Sinne eines interventions- gerontologischen Ansatzes; Aus- arbeitung von auf Art und Schwe- regrad des individuellen Defizits zielenden Trainingsverfahren und Beurteilung ihrer persönlichen und sozialen Konsequenz; im Rahmen gerontopsychiatrischer Versorgung Verbesserung der be- ruflichen Qualifikation von Perso- nen, die mit Älteren zu tun haben (wobei die Problematik des Um- gangs mit der immer größer wer- denden Zahl psychisch schwer gestörter Menschen höchst bri- sant ist); viel intensivere Berück- sichtigung normaler und krank- hafter Alterungsprozesse im Me- dizinstudium; Untersuchungen über kognitive Vorgänge und In- telligenz (fluid und crystallized in- telligence nach Catell und Horn, kürzlich von P. B. Baltes wieder aufgenommen); Untersuchungen zum Übergang normal-psycholo- gischen Alterns in die beginnende Demenz (der eben doch etwas an- deres ist als Tolles „Psychiatrie des mittleren Lebensalters").

Dieser Katalog könnte um eine Vielzahl gerontopsychiatrischer Interessen erweitert werden. Zu- sammen mit dem allgemein ge- rontologischen Anliegen sind sie nachzulesen in den Resolutionen der Deutschen Gesellschaft für Gerontologie, ihres langjährigen Präsidenten Hans Thomae, von Manfred Bergener (zweimal in nervenärztlichen Publikationsor- ganen dieses Jahres) und vielen anderen mehr, die das gerontolo- gische Desiderat in der Bundesre-

publik Deutschland beklagt ha- ben. Unerwähnt bleiben bei Tölle auch die Empfehlungen des Wis- senschaftsrates seit 1968; Aussa- gen der Psychiatrie-Enquöte (1973); politische Initiativen auf Landes- und Bundesebene sowie mehrfach des Europarats.

Schließlich wird verschwiegen, wo und was gerontopsychiatrisch schon existiert und funktioniert:

die Fülle der Institutionen und wissenschaftlichen Gesellschaf- ten im europäischen Ausland und den U.S.A. bis hin zur Geriatric Psychiatry Section der WPA; wis- senschaftliche Kongresse im In- und Ausland (die sich seit Jahren in regelmäßiger Abfolge Schwer- punktthemen widmen) und schließlich die in der Bundesrepu- blik 1971 gegründete und später auf das europäische Ausland übergreifende Europäische Ar- beitsgemeinschaft für Geronto- psychiatrie, die immerhin bislang zwölf wissenschaftliche Sympo- sien beachtlichen Niveaus ausge- richtet hat.

Die „Standortbestimmung" von Tölle erscheint dem geronto- psychiatrisch Facherfahrenen nicht nur wenig hilfreich. Sie birgt vielmehr die Gefahr in sich, schon vorhandene Aktivitäten in ihrem weiteren Ablauf zu hemmen und Ansätze einer „differentiellen"

Betrachtungsweise (Ursula Lehr) des krankhaften Alterns wieder in das Klischee eines psychopatho- logischen Fatalismus zurückzu- werfen. Es wäre nicht das erste- mal in der Geschichte der Univer- sitäten, daß sich ihre Vertreter un- fähig zeigen, Innovationen in Gang zu bringen. Von seiten der Gerontopsychiatrie besteht weder der Wunsch nach Ausgliederung aus der Psychiatrie noch nach Ri- valität bei der Vergabe von Äm- tern. In einem mehrdimensional angelegten, allgemeingerontolo- gisch orientierten Konzept bedarf jedoch die Gerontopsychiatrie je- nes Maßes an Aufmerksamkeit und Förderung, das es ihr erlaubt, sich intensiver als bisher mit der ständig wachsenden Anzahl psy-

Alterspsychiatrie heute — eine Standortbestimmung

Zu dem Beitrag von Professor Dr. med. Rainer Tölle in Heft 35/1984, Seiten 2479 bis 2481

508 (78) Heft 8 vom 20. Februar 1985 82. Jahrgang Ausgabe A

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Alterspsychiatrie

chisch kranker älterer Menschen zu befassen. Von ihnen leiden derzeit immerhin zwischen 792 000 und 1,1 Millionen an einer dementiellen Erkrankung.

Professor Dr. med.

Klaus Oesterreich, Leiter der Sektion Gerontopsychiatrie Psychiatrische Klinik am Klinikum der Universität Voßstraße 4, 6900 Heidelberg 1

Stellungnahme II

Nach sorgfältigem Studium des von Herrn Kollegen Tölle verfaß- ten Artikels kann der Eindruck entstehen, die Probleme der psy- chischen Krankheiten im senes- zenten Erwachsenenalter seien zumindest weitgehend gelöst.

Diese Auffassung ist zwar weit verbreitet, sie ist jedoch als unzu- treffend zu bezeichnen. Folgende Punkte sind hierzu anzuführen:

1. Aus sehr gut belegten epide- miologischen Studien aus den USA und England geht eindeutig hervor, daß die (nach Tölle) senile Demenz (internationales Schrift- tum: Demenz vom Alzheimer-Typ) zwar nicht die einzige, so doch aber die häufigste psychische Er- krankung des seneszenten Er- wachsenenalters ist. Zur „Hirnar- teriosklerose" wird im internatio- nalen Schrifttum vermerkt, daß es sich hierbei wohl um die am häu- figsten gestellte medizinische Fehldiagnose handelt.

2. Es ist sicher zutreffend, daß sich die Versorgung alter Men- schen in den letzten Jahren ver- bessert hat. Daß sie weiter verbes- serungsbedürftig ist, steht außer Frage. Anderenfalls besteht die Gefahr, daß sich Versorgungs- maßnahmen in einer gegenwärtig (noch) viel zu häufig praktizierten

„Unterbringungspsychiatrie" er- schöpfen. Verbesserung der Ver- sorgung muß aber auch beinhal- ten die Bereitstellung eines breit- gefächerten Arsenals differential- diagnostischer Möglichkeiten, wie

dies bereits in anderen Ländern gerade in der Alterspsychiatrie geschieht. Hier sind in erster Linie moderne Untersuchungstechni- ken, wie zum Beispiel die Positro- nen-Emissionstomographie zur Messung von Hirndurchblutung und Hirnstoffwechsel, die NMR- Tomographie oder die Bestim- mung von Neurotransmittern im Liquor cerebrospinalis zu nennen, die es ermöglichen, somatische Veränderungen im Gehirn zu er- fassen. Es ist bedrückend, fest- stellen zu müssen, daß in der Bun- desrepublik weder die „hard- ware" noch die „software" zur Verfügung stehen, um den Be- dürfnissen psychisch kranker al- ter Menschen gerecht zu werden.

3. Untersuchungsergebnisse auf morphologischen, morphobiolo- gischen, pathophysiologischen und pathobiochemischen Gebie- ten, ergänzt durch die Resultate psychometrischer Untersuchun- gen, ermöglichen heute, eine Rei- he ätiopathogenetischer Definitio- nen bei psychischen Erkrankun- gen im höheren Lebensalter zu formulieren. Bei der Suche nach den Ursachen psychischer Er- krankungen im seneszenten Er- wachsenenalter herrscht durch- aus nicht der Fatalismus, wie er für die Ursachensuche psychi- scher Erkrankungen im adulten Erwachsenenalter angenommen werden dürfte. Insofern besteht ein deutlicher Unterschied zur Psychiatrie des mittleren Lebens- alters.

4. Bei der Behandlung zerebraler Alterserkrankungen sind die Er- kenntnisse somatischer Hirnfor- schung und die im Alter veränder- te Pharmakokinetik zu berück- sichtigen, um verhängnisvolle Fol- gen von vornherein auszuschlie- ßen. Als ein Beispiel sei hier der Einsatz den Hirnstoffwechsel be- einflussender Psychopharmaka angeführt.

Abschließend bleibt zu sagen, daß Herrn Kollege Tölle Dank dafür gebührt, aus der Sicht des Psych- iaters überhaupt einmal eine

Standortbestimmung der Alters- psychiatrie formuliert zu haben.

Der Titel hätte allerdings erweitert werden sollen in „Alterspsychia- trie heute in der Bundesrepublik—

Standortbestimmung und Nega- tivbilanz".

Professor Dr. med.

Siegfried Hoyer

Arbeitsgruppe Hirnstoffwechsel im Institut für Pathochemie und Allgemeine Neurochemie der Universität Heidelberg Im Neuenheimer Feld 220/221 6900 Heidelberg

Schlußwort

Ein kurzer Artikel im DEUTSCHEN ÄRZTEBLATT kann nicht alles bringen, was die verschiedenen Leser erwarten, insbesondere nicht bei einem weit gespannten Thema wie Alterspsychiatrie. Was K. Oesterreich und S. Hoyer er- gänzend beitragen, sei dankbar begrüßt, insbesondere die Anmer- kungen zur Demenzforschung und zur Versorgungssituation.

Wenn kritisch angemerkt wird, daß die „Europäische Arbeitsge- meinschaft für Gerontopsychia- trie" unerwähnt blieb, ist hier nachzutragen, daß diese Gesell- schaft in Zusammenarbeit mit ei- nigen speziellen klinisch-geron- topsychiatrischen Einrichtungen in der Bundesrepublik wesentlich zur Förderung dieses medizini- schen Gebietes beigetragen hat.

Nachgeholt sei an dieser Stelle auch der Hinweis darauf, daß die früheste Monographie in deut- scher Sprache von F. W. Bronisch stammt (Die psychischen Störun- gen des älteren Menschen, 1962).

Meine Anmerkung, die Alters- psychiatrie habe etwas nachge- holt, bezog sich auf die in den fol- genden Sätzen kurz skizzierte ge- rontopsychiatrische Nosologie.

Auch wenn S. Hoyer noch einmal auf Verbreitung und Bedeutung organischer Hirnkrankheiten im Alter hinweist (wer wollte das be- streiten?), muß, klinisch gesehen, Ausgabe A 82. Jahrgang Heft 8 vom 20. Februar 1985 (81) 509

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