P O L I T I K AKTUELL
W
er nur für begrenzte Zeit in ein Krankenhaus muß, kann sich über Mißstände spätestens dann beschwe- ren, wenn er wieder zu Hause ist. Vie- le chronisch psychisch kranke, geistig behinderte oder verwirrte alte Men- schen leben dagegen auf Dauer in Krankenhäusern oder Wohnheimen – stationären Einrichtungen von etwa zwanzig bis zu mehreren hundert Be- wohnern.Drei Entwicklungen ausschlaggebend
Ohne eigene Wohnung fehlen viele Bürgerrechte – etwa die Unver- letzlichkeit eines Raumes, in den man sich zurückziehen kann. Fast je- der Bereich des Tagesablaufs wird von fremden Hausregeln beeinflußt.Wegen der teuren Pflegesätze kommt meist auch der Verlust von Vermögen und Einkommen hinzu, der es verbietet, selber über Dinge wie die Möblierung oder den Speise- plan zu bestimmen. Schließlich sind chronisch seelisch kranke oder gei- stig behinderte Menschen auch durch ihre Behinderung in ihrer Fähigkeit eingeschränkt, ihre Inter- essen selbst wahrzunehmen und sich zum Beispiel zu beschweren, wenn sie unfreundlich behandelt werden, das Mittagessen kalt ist oder der Rei- nigungsdienst ausfällt.
Drei Entwicklungen sprechen dafür, jetzt über die Einrichtung von Interessenvertretungen für Patienten
und Bewohner von stationären Ein- richtungen nachzudenken:
¿ Die öffentlichen Mittel für so- ziale Leistungen werden knapper.
Das verschärft die Konkurrenz zwi- schen den auf Hilfe angewiesenen Be- völkerungsgruppen, den psychosozia- len Einrichtungen und Diensten be- ziehungsweise ihren Verbänden sowie innerhalb größerer Einrichtungen auch zwischen den verschiedenen Be- rufsgruppen und Abteilungen. Bei diesen Verteilungskämpfen haben Gruppen mit einer starken Interes- senvertretung einen deutlichen Wett- bewerbsvorteil, verlieren beispiels- weise bei Sparmaßnahmen weniger Personalstellen. Es sollte selbstver- ständlich werden, daß bei solchen Verhandlungen auch Vertreter der ei- gentlichen Zielgruppe von sozialen Leistungen mit am Tisch sitzen.
À Die Anforderungen an unser Sozialsystem nehmen zu mit der Ge- fahr, daß der „Standard sinkt“ und man sich an Mißstände gewöhnt. Bei- spielsweise wird die Anzahl hilfsbe- dürftiger alter Menschen in unserer Gesellschaft deutlich steigen. Immer mehr Flüchtlinge drängen in die Staa- ten der westlichen Welt. Das Elend in ihren Heimatländern läßt Mißstände bei uns wie Luxusprobleme erschei- nen. Schließlich findet das weltweit zunehmende Auseinanderdriften von Arm und Reich auch in unserer Ge- sellschaft statt – fast unmerklich lang- sam, aber mit einem erschreckenden Gewöhnungseffekt, wenn wir den Zu- stand der Großstädte heute mit der Situation vor 20 Jahren vergleichen:
Die Auseinanderentwicklung von Reichen- und Armenvierteln ist All- tag geworden, Dauerarbeitslosigkeit ganzer Bevölkerungsschichten nor- mal, und Obdachlosigkeit – häufig kombiniert mit seelischer Erkran- kung oder Sucht – gehört stellenweise zum Straßenbild.
Wer nicht wählt, dessen Interes- sen haben politisch weniger Gewicht – das gilt für Flüchtlinge genauso wie für viele chronisch kranke oder behin- derte Menschen. Um der Gewöhnung an soziale Mißstände und Entsolidari- sierung der Gesellschaft entgegenzu- wirken, sollten die „Schwachen“ eine starke Stimme erhalten. Für psycho- soziale Einrichtungen bedeutet das, Interessenvertretungen überall da einzurichten, wo eine besondere Ab- hängigkeit und Hilflosigkeit der Kli- enten besteht und die Machtposition der einen Seite noch nicht ausgegli- chen ist durch ein entsprechendes Gegengewicht.
„Runder Tisch“ zur Qualitätssicherung
Á Die Qualität der Hilfen für chronisch Kranke und Behinderte wurde bisher weitgehend allein von den Anbietern dieser Dienstleistun- gen definiert. Neue Verordnungen und Gesetze (PsychPV, SGB V und XI, BS- HG) schreiben eine Qualitätskontrolle von psychosozialen Dienstleistungen vor. Es besteht Anlaß zur Sorge, daß dabei eher „kundenunfreundliche“Lösungen entwickelt werden, die vor allem eine Bürokratisierung und stär- kere Berücksichtigung der Kostenträ- ger-Interessen vorsehen. Wer unter Qualitätskontrolle nicht nur Kosten- kontrolle und mehr Formulare ver- steht, sondern eine möglichst „kun- denfreundliche“ Dienstleistung erzie- len will, sollte eben diesen Kunden – den betroffenen „Nutzern“ und ihren mitbetroffenen Angehörigen – echte Einflußmöglichkeiten einräumen.
Externe wie interne Formen der Qualitätssicherung in der Psychiatrie sollten daher nach dem Modell eines
„Runden Tisches zur Qualitätssiche- rung“ erfolgen, an dem Vertreter von vier Gruppen beteiligt sind: Anbieter, Kostenträger, Nutzer und Angehö- rige. Dr. med. Jo Becker, Xanten A-1949 Deutsches Ärzteblatt 93,Heft 30, 26. Juli 1996 (25)