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Archiv "Der letzte Nachmittag" (24.11.1977)

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Spektrum der Woche Aufsätze - Notizen FEUILLETON

Der letzte Nachmittag

Agnes Filk-Nagelschmitz

Juli 1957. Es war heiß draußen, aber nicht sonnig, es hatte schon lange nicht mehr geregnet.

„Richte dich mal auf morgen", sag- te er.

Dann fielen seine Augen wieder zu, das Gesicht war gelbgrün, die Stirn perlmuttschimmernd.

Beinahe lag er schon zwei Jahre so, mein Mann und der Vater von T. Er konnte nicht leben und nicht sterben. Er wußte als Arzt schon lange, lange, daß keine menschli- che Hilfe ihn retten konnte.

„Du weißt, das Testament liegt in der Brieftasche."

Die Stimme kam von weit her. Ich konnte an nichts mehr denken, schaute nur hin und wieder starr zum Fenster und hielt eine vom Fieber heiße Hand.

„Gib' meine Fachbücher an Stu- denten, sie freuen sich darüber. T.

kann sie nicht mehr gebrauchen, bis dahin gibt's eine andere Medi- zin, bis dahin weiß man auch, wo- mit man mir heute hätte helfen können."

Seine Augen wurden mit einem Mal sehr groß. Es sah so aus, als ob er gerade wach geworden sei.

„Du mußt auch mit T. weiter verrei- sen, er wird bald drei Jahre, du kannst ihn dann schon mitnehmen.

Ich hätte öfters mir dir reisen sol- len, es war zu schön — einmalig schön. — Du mußt dich, wenn alles vorbei ist, unbedingt erholen, aber auch lange genug.

Die Nachtschwester kam, er lehnte jedes Medikament und jede Infu- sion heute ab. Seine Augen lagen wie in zwei großen Höhlen. Er lä- chelte etwas angestrengt und meinte:

„Ich freue mich, wenn du in den nächsten Tagen meinen Schreib- tisch aufräumst. Ich glaube, daß ich das alles sehen werde. Es liegt entsetzlich viel Wirrwarr darin und darauf. Ich weiß schon, welche Blumen du bald darauf stehen ha- ben wirst."

„Und das Bildchen", dachte ich, wo er T. als kleines Wickelpaket, gerade drei Tage alt, ängstlich, weil er fürchtete, er könnte ihm weh tun, in seinen Armen hält.

Er lächeite immer noch— ich auch—.

Seit Stunden wußte ich nicht mehr, was ich sagen sollte. Ich hielt mich schon lange mit der rechten Hand unterhalb des Stuh- les fest, weil ich das Gefühl hatte, hinunterfallen zu können.

„Bleibst du heute nacht wieder hier?", fragte er mich. „Natürlich bleibe ich, hier schlafe ich ruhiger als daheim, hier hört man keine Autos, das finde ich wunderschön."

Die Antwort beruhigte ihn sehr.

Sein Kopf fiel etwas zur Seite. Die Nase sah plötzlich sehr spitz, das Gesicht aber unendlich ruhig aus.

Er drückte meine Hand immer fe- ster, die Augen fielen müde zu.

Er schlief ganz ruhig und tief, be- wegte sich nur wenig. Ich blieb auf meinem Stuhl sitzen, ich wollte die Hand nicht loslassen.

Es wurde dunkel, die Nachtschwe- ster schimpfte mit mir, weil ich mich nicht hinlegen und nicht es- sen wollte. Ich bat sie, ruhig zu sein, damit er nichts hörte. Sie gab mir ein Glas Milch. Ich blieb so sit- zen, bis es hell wurde. Merkwürdig, ich weiß heute nicht mehr, an was ich in jener Nacht gedacht habe, ich glaube, an nichts.

Es war inzwischen Donnerstag mit- tag, 13 Uhr. Er schlief fest und ruhig — noch immer — für immer —.

Seine Hand mußte ich nun loslas- sen.

Eine Viertelstunde danach

Im Arztzimmer erledigte ich einige Formalitäten, das ging rasch. An- schließend öffnete ich die Tür zum Zimmer nochmal, wo ich eben ge- sessen hatte. Das Zimmer war schon leer, das Fenster geöffnet, die Matratzen standen hoch. Unter dem Bett lag noch eine Fotografie von T.

Ich machte die Tür wieder leise zu und ging die Treppe hinunter, die zur Leichenhalle der Klinik führte.

Im Kellerflur schoben zwei Pfleger ihn im Zick-Zack, halblaut singend:

„Rira-Rutsch, das ist die letzte Kutsch", gerade um die Ecke. Sie bemerkten mich noch, es war ih- nen unangenehm, und sie ent- schuldigten sich. Ich verübelte ih- nen nichts, für sie war dieser Gang etwas Alltägliches — das Spiel mit dem Tod.

Unter dem weißen Laken konnte man seinen Körper ja nur noch ah- nen.

Und wenn er es gespürt und gehört hätte, dann würde auch er nur ge- lächelt haben, so gut kannte ich ihn. Er lachte so gerne über alles, was menschlich war.

Zwei Stunden später

Ich raste durch die Stadt. Ein Rad- fahrer machte mich darauf auf- merksam, daß ich bei „Rot" die Straße überquert hatte. Der Schreck machte mich endlich wach.

Den Sarg hatte ich inzwischen aus- gesucht — zwei Meter lang —. Je- der ist mit billigem Satin ausge- schlagen, den man aber teuer be- zahlen muß. Ich hasse diesen Stoff, aber seine Mutter fand ihn fürstlich und würdevoll.

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 47 vom 24. November 1977 2823

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen Der letzte Nachmittag

Alle Särge beinahe die gleiche Ausstattung — fürstliche Einheits- ware.

Dann suchte ich die Anzeigen aus, auch das ging rasch, über den Text hatte er mit mir in der Klinik ge- sprochen: Geboren und gestorben, das war beinahe alles. lm „Hunder- ter" billiger, meinte der besorgte

Bestattungsherr.

Die Maschine Mensch (so kam ich mir vor) lief und lief. Es gab keine Zeit über das Geschehene nachzu- denken, und das war gut so.

Das schwarze Kostüm fehlte noch.

Es ist ja immer noch üblich, zu zei- gen, daß ein Mensch gestorben ist.

Die Leute reden sonst nicht gut über einen.

„Die ganze Stange ist ihre Größe", meinte die Verkäuferin. „Suchen sie sich was Passendes aus, in ei- nem schwarzen Kostüm ist man immer und gut angezogen." Ich stand vor dem Spiegel, mein Ge- sicht entsetzte mich, bleich, müde

und fast leblos.

„Oh", sagte die Verkäuferin, „sie sehen ‚sexy' in dem schwarzen Ko- stüm aus, es paßt, wie für sie ge- macht." Ich wußte nichts zu sagen, sah also „sexy" aus, wenige Stun- den danach — „sexy".

Die Beerdigung

Menschen, Menschen, viele Men- schen — mit und ohne Teilnahme

— weinend, hüstelnd, lächelnd.

Hinter dem Sarg eine Frau, voll- kommen starr. Später hörte ich nur eine vorwurfsvolle Stimme:

„Schau' sie dir an, die weint noch nicht mal." Ich warf eine rote Rose auf den Sarg. Zu Hause waren wie- der viele Menschen, es wurde gut gegessen und getrunken, viel ge- sprochen, aber nicht gelacht.

Anschrift der Verfasserin:

Agnes Filk-Nagelschmitz Frauenstraße 27

4180 Goch

2824 Heft 47 vom 24. November 1977

Die Geburt

September 1954.

Dreißig Jahre, eine Spätgebärende, wie man sagt. Ich darf nicht in den Spiegel schauen; der Körper rund, Beine und Füße geschwol- len, das Gesicht bleich, die Augen groß.

Hoffentlich sieht das Baby schöner aus.

Es ist Nacht. Der Kreißsaal ist hell. Überall Glasschränke, Kästen, viel Metall, Instrumente und Unpersönlichkeit.

Hier soll das neue Geschöpf seinen ersten Schrei tun, hier soll es aus der Wärme in die Kälte kommen. Hier soll der Anfang eines hoffentlich langen Lebens beginnen — aus der Geborgenheit eines Leibes in die Nüchternheit eines Raumes mit viel Metall und vielen Instrumenten. — Das ist das Dasein.

Ich stöhne, schreie, wälze mich vor Schmerzen. Man muß viel zah- len für ein neues Leben.

Im Nebenraum hören die Schwestern mein Jammern. aber das geht sie nichts an, Sie wissen, daß man mit Schmerzen alleine fertig werden muß.

Wie in einem Zoo; auf dem Rollbett die animalische Verlassenheit.

Das ist es, was mich schreien läßt: "Nie wieder".

Der Rest ist nur noch ein Reißen, ein Auseinanderklaffen des Lei- bes.

Und dann noch mal ein tiefes Luftholen, ganz tief, bis der Schrei da ist.

Das Wunder ist einzigartig: das Köpfchen, die schwarzen Löck- chen. die Händchen, Füßchen, Nägelchen ...

Es muß einen Gott geben!

Das Baby liegt bei mir, jeder Schmerz ist vorbei. Eine wunderbare Zweisamkeit, eine unendliche Ruhe, eine nicht zu beschreibende Glückseligkeit.

Leise, leise, damit das Kindchen schlafen kann; es war eine lange

Reise. Agnes Filk-Nagelschmitz

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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