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Anfang 1929 erschien ein in sozialdemokratischen Kreisen vielbeachtetes Buch des

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(1)

11. Sozialistischer Aufbau im Reich des „Roten Duce"?

SPD und Sowjetunion

am

Ende der Weimarer Republik

Nach dem Rücktritt der

Regierung

HermannMüller nahm die unmittelbareAuseinan-

dersetzung

zwischen SPD und

Sowjetunion

ab. Dennoch waren die

Entwicklung

der

Sowjetunion

und ihre

Perzeption

für die deutsche Sozialdemokratie in den frühen

dreißiger Jahren

ein bedeutsamer

Faktor,

denn vor dem

Hintergrund

der Weltwirt- schaftskriseerneuerten,wieErich Matthias

feststellte,

Realitätund

Mythos

des

sowjeti-

schen

Fünfjahresplans

die

„Ausstrahlungskraft

des bolschewistischen

Beispiels

der

,Tat'"'.

Nicht allein durch die kommunistische

Propaganda

mitden

angeblichen

oder

tatsächlichen

sowjetischen Aufbauleistungen

wurde dieSPDdazugezwungen,sichmit der„zweitenRevolution" zubefassen.Der

Versuch,

die

Sowjetunion

mit einem

großen Sprung

in ein Industrieland zu

verwandeln,

löste auch innerhalb der internationalen Sozialdemokratie eine kontroverse Diskussion darüber aus, ob der

sowjetische Weg

nicht dochzumSozialismus führenkönne.

ImZentrum der Aufmerksamkeit der deutschen Sozialdemokratie stand

jedoch

die

immer bedrohlichere

Gefährdung

der Weimarer

Republik

durch die erstarkende NSDAP. InderDiskussion

darüber,

ob eineEinheitsfrontmit der KPD zurAbwehr dieser Gefahr

möglich

sei,

spielte

ebenfallsdie

Beurteilung

der

Sowjetunion

durch die

SPD eineRolle.

Stalins Durchbruch

-

sozialdemokratische Reaktionen

Anfang

1929 erschien ein in sozialdemokratischen Kreisen vielbeachtetes Buch des menschewistischenÖkonomenAron

Jugow

über„DieVolkswirtschaft der

Sowjetuni-

on und ihre Probleme".Inseinerdetaillierten Bilanz der

sowjetischen

Wirtschaftsent-

wicklung

kam

Jugow

zudem

Ergebnis,

daßinder

Sowjetunion

keine

vergesellschaftete Wirtschaft,

sondern

lediglich

einschlecht

funktionierender,

bürokratischer

Staatskapi-

talismus entstandensei. Eine weitere

Ausdehnung

der

Sphäre

der

privatkapitalistischen Produktionsverhältnisse,

die durch die NEP in

begrenztem

Maße wieder

zugelassen

wordenwar,steheauf der

Tagesordnung.

Dienominellsozialistische

Staatsführung

sei

durch die

objektiven

Verhältnisse gezwungen,

„sich

entweder fürim vorhinein zum

Mißerfolg

verurteilte Maßnahmen

(,Linkskurs')

zu entscheiden oder die Politik dem Proletariatfremderund auch feindlicherKlassenzuverwirklichen."2Nurdie

Liquidie-

rungder Diktatur und der Abschiedvon einer

utopischen Wirtschaftspolitik,

die auf

Verstaatlichung baue,

wiesen laut

Jugow

einen

Weg

aus der krisenhaftenSituation der

Sowjetunion,

wiesieumdie

Jahreswende

1928/29

offenkundig geworden

war3.

Stalinwaranderer

Meinung.

Erwar

entschlossen,

den

gordischen

Knotender

sowje-

tischen

Wirtschaftsprobleme

nachArtAlexanders des Großenzulösen.Das

zeigte

sich,

1Matthias,Deutsche Sozialdemokratie und derOsten,S. VI.

2A.Jugow:DieVolkswirtschaft derSowjetunionund ihre Probleme.Dresden1929,S.356;

vgl.

auchA.Gurland: Russische Probleme.

Bemerkungen

zuJugowsRußland-Buch,in:KKNr.5

vom 1.3. 1929.

(Gurland

hatteJugows russisches

Manuskript

ins Deutsche übersetzt.); A.

Jugow:

Grundprobleme

der russischenVolkswirtschaft,in: DG4(1927)2.Halbband,S.419- 454.

3Ebenda,S.371.

(2)

alsim

April

1929vonder16. Parteikonferenz die Maximalvariante desersten

Fünfjah- resplans

beschlossen

wurde,

die

gigantische Produktionssteigerungen

vorallem inder

Schwerindustrie vorsah. Und es offenbarte sich

ferner,

als im Herbst 1929 in einem

schwindelerregenden Tempo

die

zwangsweise Kollektivierung

der

sowjetischen

Land-

wirtschafteinsetzte4.

Solchen

Projekten

hatte

Jugow

das

unweigerliche

Scheitern vorausgesagt, und diese

Auffassung

herrschte auchin der deutschen Sozialdemokratie. Die

Lobpreisungen

des

Fünfjahresplans

auf der Parteikonferenzvom Mai 1929 als „Poesie des Sozialismus"

aufgreifend,

schrieb Peter

Garwy

im Vorwärts: „Der

Wirtschaftsplan

ist

gewiß

eine

schöne

Dichtung,

aber der

Warenhunger,

die

Brotkarten,

das

Schlangestehen,

der

Lohndruck,

die

Einschränkung

der Anbaufläche ist die

traurige

Wahrheit."5 Damit hatte

Garwy

den Grundton

angeschlagen,

der die

Berichterstattung

derdeutschenso-

zialdemokratischen Publizistik über die forcierte

Industrialisierung

in derPeriode des

ersten

Fünfjahresplanes vorwiegend prägte.

Nicht die

Erfolge

deswirtschaftlichen Auf- bausstanden in ihrem

Zentrum,

sonderndie

Entbehrungen,

dieerder

Bevölkerung

und

insbesonderederArbeiterschaftaufbürdete6.Auch die

Kollektivierung

hattekeine gute

sozialdemokratische Presse. Die

Leipziger Volkszeitung schrieb,

hinter der Parole

„Kampf

gegenden Kulak"

[= Großbauern, JZ]

unterder sie

durchgeführt werde,

stehe

inWirklichkeitein

Kampf

gegenden Fleiß.DieKulakenseien mitdeutschen Großbau-

ernnichtzu

vergleichen,

sondern stelltendie

Gruppe

russischerBauern

dar,

die durch besonderen Fleiß ihrenWohlstandetwasüber den Durchschnitthättenheben können.

Mit den von der

Sowjetregierung eingeleiteten

Maßnahmen werde das Niveau der Landwirtschaft künstlich

gesenkt7.

Besonders aberentsetzte die Sozialdemokraten die

Brutalität,

die den neuen Kurs

kennzeichnete,

insbesondere die massenhaften

Hinrichtungen,

die Ende 1929 ein seit

den Zeiten des

Bürgerkrieges

nicht mehr

dagewesenes

Ausmaßerreichten. Alleinvom

1.Oktober bis 15.November 1929waren500

Erschießungen

zuverzeichnen8.ImNo- vember1929

protestierte

dasBüroderSAIgegendie

Hinrichtungswelle9.

Im

deutschsprachigen Mitteilungsblatt

der Russischen

Sozial-Demokratie,

RSD, er-

4VonRauch,Sowjetunion,S.205-216;RichardLorenz: DieSowjetunion(1917-1941), in: Fi- scher

Weltgeschichte

Bd.31:Rußland. Frankfurta.M.1973,S.271-353, hierS.316-353.

5PeterGarwy:Stalins

Sieg,

in:Vorwärts Nr.212vom8. 5.1929;„,EinholenundÜberholen'in fünf

Jahre!"

[sie!],SPK Nr.5,Mai1929.AlleBeiträgezurSowjetunioninderSPK,diezumeist ohneNennungdes Autorennamensveröffentlicht wurden,stammtenvon PeterGarwy;

vgl.

GarwyanKarl

Kautsky

30. 4.1930;Nl.

Kautsky,

G 16,42-45.

6Siehe dazuHeller,Geschichte derSowjetunion,S.216f.

7„Der

Kampf

gegendenKulak",LVZ Nr.14vom17.1.1930;

vgl.

auch:

„Kampf

umdasBrot",

SPK Nr. 11, November1929.

8R. Abramowitsch: Diepolitischen Gefangenen in der Sowjetunion. Mit einemVorwortder Vorsitzenden der „Kommission zur

Untersuchung

der Lage der

politischen Gefangenen",

Senator LouisdeBrouckère,Brüssel undArtur

Crispien,

MdR Berlin. Berlin1930,S.15;

vgl.

auch: „TerrorinPermanenz",SPK Nr.11, November 1929; Emile Vandervelde:Stalinsneue

Terrorwelle,in: VorwärtsNr.79vom16. 2. 1930. „StalinderSchreckliche",Vorwärts Nr.104

vom3. 3.1930;D.Dalin:Der kleineBürgerkrieg,in: RSD Nr.44vom7. 11.1929;„DerTerror wütet inRußland",RSD Nr.2vom9. 1. 1930;D. Dalin: Tausendevon

Hinrichtungen,

in:

RSD Nr.4vom23.1. 1930;

„Bürgerkrieg

in

Vorbereitung",

RSD Nr.9vom27. 2. 1930.

9Protokollvierter

SAI-Kongreß,

S.40f.;SPD-Parteivorstand(Hrsg.): Jahrbuchder Deutschen Sozialdemokratie für dasJahr1929.Berlin1930

[Nachdr.

Berlin,Bonn 1976.],S.260.

(3)

schieneineReihevon Briefenaus

Moskau,

die einebedrohliche

Atmosphäre

schilder-

ten.Das Leben der

Sowjetbürger

sei mit zwei

Dingen

voll

ausgefüllt: „die ,Säuberung'

zu

überleben,

ohnedieArbeitsstellezu

verlieren,

und sich die

Nahrung wenigstens

für

morgenund

übermorgen

zu

sichern"10.

Aufmerksam

registriert

wurde in der SPD-Presse auch die

Entmachtung

der

„rechten Opposition"

in derKPdSU um

Bucharin, Rykow

und

Tomskij,

die ander NEPhatte

festhaltenwollen.Unterdem Titel „Die

Stalinisierung

derrussischen Gewerkschaften"

berichtete die Sozialdemokratische

Parteikorrespondenz

über die

Absetzung

des Ge-

werkschafsvorsitzenden

Tomskij.

Zwar seien die

sowjetischen

Gewerkschaften auch schonzuvorder KPdSU unterworfengewesenundhättennurinAusnahmefällenunter dem Druck ihrer

Mitglieder

Arbeiterinteressen vertreten, doch fürdieforcierteIndu-

strialisierung,

die mit

„den

schlimmsten Ausbeutermethoden der

Intensivierung

der

Arbeit" betrieben

werde,

sei selbst dies störend. „Die

Entartung

der Parteidiktaturin die

persönliche

Diktatur des russischen ,Duce' führte unvermeidlichzum Verlust des letzten Schattens der Gewerkschaftsautonomie

[.. .]"nDer

Umbruchinder

Sowjetuni-

onforderteeineReaktionderSozialdemokratie heraus. Insbesondere der rechte

Flügel

der menschewistischen

Emigration

sah

jetzt

den

Zeitpunkt gekommen,

andemdie SAI

aktiverin das

sowjetische

Geschehen

eingreifen

sollte. Dierechten Menschewiki rea-

gierten

aufdieRenaissancedes

Kriegskommunismus,

als derderneueStalinsche Kurs

vielen

erschien, gewissermaßen

mit einer

Erneuerung

vonAxelrods Idee der sozialisti- schenIntervention12. Statt

Stellungnahmen

vonFallzuFall

abzugeben,

müssedieSAI

die öffentliche

Meinung

des internationalen Proletariats mit einer

planmäßigen

Kam-

pagne gegen

Terror, religiöse Verfolgungen,

die

Unterdrückung

vonArbeiter undBau- ern, aber auch „gegen das gesamte

System

der bolschewistischen Diktatur und ihre Politik der

utopistischen Experimente" mobilisieren,

fordertensie13.

Mitdieser

Strategie

hofftendierechten Menschewiki nichtnurdemokratische

politi-

sche Aktivitäten derMassen in der

Sowjetunion anzufachen,

sondern auch Illusionen über die

sowjetische Entwicklung begegnen

zu

können,

die sich ihrer

Meinung

nach in

der westlichen

Arbeiterbewegung

erneut auszubreiten

begannen.

Als einen Urheber

solcher

„Illusionen"

sahen die rechten Menschewiki den in der SAI einflußreichen österreichischen SozialistenOttoBauer14. Inder TatwardieReaktionderösterreichi-

10„Politikim

Sowjetalltag",

RSDNr.48vom5. 12.1929;„BriefausMoskau",RSDNr.45vom

14.11.1929;„BriefausMoskau",RSD Nr.47vom28.11. 1929.

11 „Die

Stalinisierung

der russischenGewerkschaften",SPK Nr.7,Juli1929.Daßesinder

Logik

derDiktatur

liege,

daßdie

Entscheidungsgewalt

auf immerengere

Gruppen übertragen

werde,

hatte bereits 1926 R. Abramowitsch

festgestellt:

„Nach der Konferenz der KPdSU", RSD Nr.47vom23.11. 1926;

vgl.

auchTheodorDan:DerhöchsterhabeneDiktator,in:RSDNr.1

vom3. 1.1930.

12Siehe dazuS. 48.

13Zur Positionder rechten Menschewiki siehe„PolozenievRossii iZadaciRSI.

Tèzisy

opposi-

cii"'[Die LageinRußland und die

Aufgaben

der SAI. Thesender

„Opposition"],

Socialistices-

kijVestnikNr.16 vom 30. 8. 1930. DieThesen waren schonim April verfaßt worden.Die Publikation im Vestnikwarjedoch offensichtlich von der in der Redaktiondominierenden

Mehrheitsgruppe

aus

politischen

Gründen

hinausgezögert

worden;„EntwurfderThesen über die russischeFrage",Nl.

Kautsky,

G 16, 103-111.Unterstützerwarenu.a.Garwy,Bienstock

und

Woytinski.

14DenkschriftvonAronson,Bienstock,Garwyu.a.;Nl.

Kautsky,

G16,42-A5.

(4)

sehenSozialisten auf die neue

Entwicklung

in der

Sowjetunion zwiespältig.

So stellte

dieWiener

Arbeiterzeitung

im

Juli

1930 dazu

fest,

essei „etwas Heroischesindiesem

Versuch,

eine ganze Generationder Zukunftzu

opfern,

ohne Rücksicht auf die schwer-

sten

Opfer

von hundert Millionen Menschen den

Sieg

einer Ideezu

erzwingen".

Ob

daraus eine

gefährliche Utopie werde,

könneerstdie Geschichteerweisen15.

Die

Begeisterung

für das

große Experiment,

das in der

Sowjetunion ablief,

be- schränktesichabernicht auf marxistischeTheoretiker.SowurdeimMai 1930in einer

Versammlung

der BreslauerSPD nahezu

einstimmig

eine Resolution angenommen, in der

ausgeführt wurde,

daß die ökonomischenund sozialenFortschritteder

Sowjetuni-

onderWeltdas

Beispiel gäben,

daßeineGesellschaftauchohne

Kapitalisten

existieren

könne.Die Sozialdemokraten müßten den

Skeptizismus gegenüber Sowjetrußland

ab-

legen

und die Einheit der Arbeiterklasseunterder

Losung

herstellen:„Proletarieraller

Länder, vereinigt

euchzumSchutzder

Sowjetunion!"16

Der Vorstoßder rechten Menschewiki füreineOffensiveder SAI gegendas

System

des Bolschewismus und die

prosowjetischen

Tendenzen in derSozialdemokratieblieb schon inden

Anfängen

stecken. Da sie als Minderheit nicht fürdierussische sozialde- mokratischePartei

sprechen konnten,

wurde einvonihnen

eingereichtes

Memorandum

vomSAI-Sekretär Friedrich Adler

zurückgeschickt,

ohnedaßes vonder SAI-Exekuti-

vediskutiert wordenwäre17.

So kaminderInternationalenurdieSDAPR-Mehrheitzum

Zug,

dieimBolschewis-

mus nach wievoreinen,wennauch

deformierten,

revolutionären Faktorsah und sich auf dieKritikder

Folgen

seinerPolitikbeschränkte.Inwelche

Richtung

ihre

Argumen-

tation

ging,

hatte bereits eine die

Sowjetunion

betreffende

Passage

im Maiaufruf der

SAI

gezeigt,

dievonTheodorDanverfaßt worden war.Diebolschewistische Diktatur entfremde sich die beiden

tragenden

Klassen der russischen

Revolution,

nämlich die Arbeiterklasse und die

Bauernschaft,

hattees darin

geheißen.

Sie beschwöre damit die Konterrevolutionherauf. Diesozialistischen Arbeiter Rußlands bemühtensich

dagegen

umdie

Demokratisierung

des

Sowjetstaates,

durchdieallein die drohende konterrevo- lutionäre Gefahrvonderrussischen Revolution

abgewendet

werdenunddie

Grundlage

fürdie

Wiederherstellung

der Einheit der internationalen

Arbeiterbewegung geschaffen

werdenkönnte18.Zur

Exekutivtagung

der SAI

legte

die

Führungsgruppe

der Mensche- wiki ein Memorandumvor, in dem die ökonomischen und

politischen

Gefahren des StalinschenKursesausführlichbeschrieben wurdenunddieimMai-Aufruf

gezeichnete Perspektive

imeinzelnen

begründet

wurde19.Das

Ergebnis

wareineProklamationder SAI-Exekutivean dieArbeiter

Rußlands,

indem

eindringlich

die Gefahr beschworen

wurde,

die StalinschePolitikwerdezueinerKluftzwischen Bauernschaft und Arbeiter-

15Zit.nachLöw,OttoBauer,S. 154.

16

„Begeisterung

fürSowjetrußland",„DasFreieWort" (FW)Nr.22vom1. 6. 1930.

17P.GarwyanKarl

Kautsky

vom30.4.1930,Nl.

Kautsky

G16,42-45;SekretariatSAI(F.Adler)

anG.Aronson,12. 5. 1930, Nl.

Kautsky

G16,82.

18„AndieArbeiter allerLänder!",LVZNr.92vom19. 4.1930.

19„O sovremennom

politiceskom polozenii

v Sovetskom Sojuse. Memorandum Zagr.

Deleg.

RSDRP."

[Über

diegegenwärtige

politische

LageinderSowjetunion.Memorandumd.Ausl.

del. d. SDAPR], Socialisticeskij Vestnik Nr. 9 vom 17.5. 1930. Deutsch in: Sozialistische Revolutionin einemunterentwickeltenLand.Texte der Menschewikizurrussischen Revolu- tion.

Hamburg

1981,S. 163-176. Ferner:NI.

Kautsky,

G16,84-102.

(5)

klasse

führen,

und die

Verzweiflung

derBauernwerdevonweißen Konterrevolutionä-

renfür ihre Zwecke mißbraucht werden. Parteilose und kommunistische Arbeiter soll-

tensichmitden Sozialisten zur

Rettung

der Revolution verbünden.Vor

allem,

soder

Aufruf,

müsse das Bündnis der Arbeiter mit den Bauern

wiederhergestellt

werden.

Dazu müssemitder

gewaltsamen Kollektivierung

Schluß

gemacht

werden. Außerdem müßten

Meinungs-

und

Organisationsfreiheit

wieder

eingeführt

werden20.

Der

Aufruf,

dervom

Socialisticeskij

Vestnikals

„historisches

Dokument"

eingestuft wurde,

weil sich damit die SAI

erstmalig

direkt miteiner

grundsätzlichen Erklärung

zum

Kampf

mit der bolschewistischen Diktatur an die Arbeiter Rußlands

gewendet habe21,

war

einstimmig

verabschiedet worden. Otto Bauer

allerdings

hätte das Thema

amliebsten nicht auf der

Tagesordnung gesehen22

und

gehörte

zu

jenen Delegierten,

die

argumentierten,

die Krisehabe noch nicht den Punkt

erreicht,

andem eine Intervention derSAI erforderlich sei23.

Dagegen sprachen

sich Otto Wels und Artur

Crispien

von

derSPD wärmstens für den russischen

Vorschlag

eines Manifestes an die russischen Arbeiteraus24.

IneinemBriefan Karl

Kautsky würdigte

Peter

Garwy,

daß sichdie SAIerstmalsan

dieArbeiterRußlands

gewendet

habe. Aberdem Inhalt nachseiderAufruf eine Bestä-

tigung

derPosition von Dan und Bauer. Im

Forderungskatalog

fehlten -

wie

Garwy

meinte

„kaum zufällig"

-

die Freiheit des Gewissens

-

„(Religionsverfolgungen!)",

vermerkte

Garwy

dazu

-

und das Streikrecht. Es würden freie und

geheime

Wahlen

gefordert,

abernicht

gleiche

und

direkte,

wasaufeine

Anerkennung

des

Rätesystems hinauslaufe,

das dochnurderDeckmantel der Parteidiktatursei. DerGrundfehler des Aufrufs

sei,

daß die

utopistische Versuchspolitik

nicht kritisiertwerde25.

Schon Ende

April

hatte

Garwy Kautsky aufgefordert,

öffentlichseine

Meinung

über

die forcierte

Industrialisierung,

die

Zwangskollektivierung

und die

Stellung

der Sozial- demokratie

kundzutun26.

MitTheodorDanhatte

Kautsky

1929/30brieflich ausführlich überdieZukunftsaussichten

Sowjetrußlands

und die

Strategie

der menschewistischen

Emigration debattiert27. Eingehend legte Kautsky

seinen

Standpunkt

imHerbst1930in

dem Büchlein „DerBolschewismusin der

Sackgasse" dar28.

Darin

geht

esimwesentli-

chen um drei

Fragen,

nämlich die

Verwirklichungschancen

des

Fünfjahresplans,

den

Charakter des bolschewistischen

Regimes

und die

notwendige Strategie

der demokrati- schenund sozialistischen

Emigration

Rußlands.

Diewirtschaftlichen Aussichten der

Sowjetunion

schätzte

Kautsky

äußerst

negativ

ein,so

negativ,

daß

Garwy,

derdas Korrekturlesenvon

Kautskys

Broschüreübernom-

men

hatte,

ihn darauf aufmerksam

machte,

daß

gewisse quantitative Erfolge

in der

industriellen

Entwicklung

nichtzubestreitenseien. Die

Argumentation

solltevorallem

20Prot.Vierter

SAI-Kongreß,

S. 92f.

21 „Istoriceskijdokument",SocialisticeskijVestnikNr. 10vom31. 5. 1930.

22Uli Schöler:Otto BauerundSowjetrußland.Berlin1987,S.31.

23„Sessija

ispolkoma

RSI" [Die SitzungderSAI-Exekutive], Socialisticeskij VestnikNr. 10vom

31. 5.1930; BriefP.GarwyanK.

Kautsky,

27. 5.1930,Nl.

Kautsky,

G16,50-53.

24Ebenda.

25GarwyanKautsky,27. 5. 1930

.

Inder

geltenden Räteverfassung

wogenArbeiterstimmenmehr alsdievonBauern.

26Garwyan

Kautsky,

30. 4. 1930

27Dan, Letters,S.369-382,S.395-398,. S.405^107undS.583-600.

28Karl

Kautsky:

DerBolschewismusin der

Sackgasse.

Berlin 1930.

(6)

auf die

Aussichtslosigkeit

des

Systems

der

Zwangswirtschaft allgemein hinauslaufen,

ferner

darauf,

daß sie den Grundsätzen des Sozialismus

widerspreche,

weil sie keine

Befreiung

der Arbeitenden

bringe29.

Mit sicherem

politischen

Instinkt hatte

Garwy erkannt,

daß es

gefährlich

war, die

Beurteilung

desneuen

sowjetischen

Kursesvon seinem ökonomischen

Mißerfolg

ab-

hängig

zu machen. Verlief die wirtschaftliche

Entwicklung

anders als

vorhergesagt,

mußte das weitreichende

Konsequenzen

für die

eigene Ausgangsposition haben,

wie

sichim weiterenVerlauf der Diskussion noch

zeigen

sollte.

Bei

Kautsky

bestand

jedoch

nicht die

Gefahr,

daßerwegen ökonomischer

Erfolge

in

der

Sowjetunion

seine

grundsätzliche

PositionzumBolschewismus änderte.

„Die

Kate-

gorien,

mit denenerdie

politisch-gesellschaftlichen Systeme beurteilte,

warendieKate-

gorien

der

politischen Freiheit,

der

bürgerlichen Rechte,

der

Vereinigungs-

und Ver-

sammlungsfreiheit,

der

Bewegungs-

und

Handlungsfreiheit

für alle Parteien und der vollen

Organisationsfreiheit

für das Proletariatund die arbeitendenSchichtenim

allge-

meinen", stellt derPolitikwissenschaftlerMassimoL.Salvadori fest .Die weitere Ein-

schränkung

der

Grundfreiheiten,

diemit dem ökonomischenUmbruchinder

Sowjet-

union

einherging,

mußte

Kautsky

daherzueiner

Verschärfung

seines

negativen

Urteils

über den Bolschewismus führen.

Kautsky ging

über dieetwasverschwommenen

Warnungen

vorder

bonapartistischen Entartung

der kommunistischen Diktatur hinaus und setzte sie

eindeutig

mit dem

Faschismus

gleich:

„DerFaschismus istaber nichtsalsdas

Gegenstück

desBolschewis-

mus, Mussolini nur der Affe Lenins." Aus dieser

Voraussetzung

mußte sich eine

andere

Strategie

für die

Demokratisierung

der

Sowjetunion ergeben,

alssie imAufruf

der SAI

vorgeschlagen

worden war. Ein friedlicher

Übergang,

wie er darin skizziert worden war,schien

Kautsky

unwahrscheinlich. Er verwies

darauf,

daß selbst die be- schränkten

Zugeständnisse

derNEP erst eine

Folge

des Kronstädter Aufstandeswa-

ren32.Seine

Perspektive

führte

Kautsky

zuähnlichen Schlüssenwiedie rechte

Opposi-

tionderSDAPR.Wie sie meinteer,esmüsseeinBündnis zwischen

Arbeitern,

demo- kratisch undsozialistisch

gesinnten

Intellektuellenund Bauern

angestrebt werden,

das

allein demvonihm

vorhergesagten

antibolschewistischen Aufstandeine

positive

Rich-

tung

geben

könne33. Er

ging

aber nocheinen Schritt weiter, indemer

forderte,

dieses

Bündnissolle

gewissermaßen

inder

Emigration

vorweggenommenwerden.Die soziali- stischen und demokratischen

Organisationen

der russischen

Emigration

sollten sich

zusammentun, um die

Zukunftsperspektiven

ihres Landes zu diskutieren.

Kautsky

verwiesdabeiauf ähnlicheZusammenschlüsse der italienischen

Emigration.

Seiner Mei- nungnach kam der

Emigration

wegenihrer

Auslandserfahrung

inder nachbolschewi- stischenÄraeine bedeutendeRollezu34.

29PeterGarwyanKarlKautsky, 16. 7.1930, Nl.Kautsky,G16,54.

30Salvadori,SozialismusundDemokratie,S.420f.

31

Kautsky, Sackgasse,

S.102.

32Ebenda,S.105.

"Ebenda,S.117.

34Ebenda, S.119-132. Sehr

skeptisch

zur Rolle der Emigration äußerte sich

dagegen

Gregor

Bienstockin einemBriefan

Kautsky

vom3. 5. 1929.Dierussische Sozialdemokratiesei inzwi- schen „kaum mehr alseine

geheime

Gesellschaftvon

Propagandisten".

Würdesie in dieLage kommen,

politische

Machtauszuüben,würdesie wegen desSektencharakters der verschiede-

nen

Richtungen

inihr

„kläglich

scheitern".Nl.

Kautsky,

G 16,24-27.

(7)

Kautskys

Buch erschienim

SPD-Verlag

Dietz

Nachfolger, jedoch

wares,wieschon

seinMemorandumvon 1925 „DieInternationale und

Sowjetrußland",

in weitenTeilen

vorwiegend

für ein

sowjetisches

Publikum

geschrieben.

Eswurde denn auchvonTheo- dor Dan ins Russische übersetzt und mit einem kritischen Nachwort

versehen35.

Für die deutsche Sozialdemokratie war vor allem

Kautskys Bekräftigung

derWesensver-

wandtschaft von Bolschewismus und Faschismus bedeutsam. Dies mußte auch ihre

Beurteilung

derdeutschenKommunistenbeeinflussen. Im

August

1930, also kurz be-

vor

Kautskys

Buch erschienenwar,hatte die KPD eine

„Programmerklärung

zurnatio-

nalenund sozialen

Befreiung

des deutschen Volkes"

veröffentlicht,

in der sich starke

Anklänge

an den

„Schlageter-Kurs"

des

Jahres

1923

fanden36

-

Grund genug fürdie SPD,ihren Vorwurfderkommunistisch-faschistischen Einheitsfrontzu erneuern. Die KPDwerde nationalistischer als

Hitler,

erklärte der

Vorwärts31

und nanntedie „Pro-

grammerklärung"

derKPDdas

„Programm

mit dem

Fememörderjargon"38. Kautskys

Buch lieferte

gewissermaßen

den

Beleg dafür,

daß nichtnurdie

KPD,

sondern auch das

vonihr

gepriesene „proletarische

Vaterland" mitdem Faschismuswesensverwandtwar.

In der SPD-Theoriezeitschrift Die

Gesellschaft

kritiserte

Raphael

Abramowitsch nach dem Erscheinenvon

Kautskys

Buch dessen

Auffassung,

der

Bonapartismus

sei in

der

Sowjetunion

bereits Realität. „Die klassischen Formen des

Bonapartismus,

die

Machtergreifung Napoleons

I. und

Napoleons

III. bedeuteten

jede

in ihrer Art eine

antidemokratische

Liquidierung

der Revolution durch aus der Revolution selbst her- vorgegangeneKräfteimInteresseder durch die Revolution

neugeschaffenen

besitzen-

den

Klassen",

definierte Abramowitsch den umstrittenen

Begriff39.

Das Merkmal der besitzenden Klassen fehle aberinder

Sowjetunion.

Die mehrerenZehntausend führen- der Funktionäre könnten nicht als solch eine Klasse

eingestuft

werden.

„Wirklicher Bonapartismus

für Rußland würde demnach

bedeuten,

daßdieterroristische Diktatur der Bolschewikimit

kapitalistischem

Inhalt erfüllt

werde", folgerte

er40.

Kautsky dagegen

hielt solche Diskussionen überhistorische

Analogien

fürfruchtlos.

Mit fiktiven Schreckbildern werde dabei nur

„die

Wucht unseres

Angriffs

gegen die unerbittlichen Schrecknisse der Diktatur"

geschwächt41.

Sozialdemokratie

auf

der

Anklagebank

Allzu

groß

wardievon

Kautsky

beschworene

„Wucht

des

Angriffs"

ohnehin nicht. Ein

Anfang

Oktober 1930 ergangener neuerlicher Aufruf der

Menschewiki,

gegen den

35Wolin, Mensheviks under the NEP and in

Emigration,

S.323.

Kautskys

Buch wurde vom

Dietz-Verlag

in 4000

Exemplaren aufgelegt. Demgegenüber

erreichte dervon R. Abramo- witsch verfaßte Bericht über die

politischen Gefangenen

inderSowjetunioneine

Auflagenhöhe

von 25000; SPD-Parteivorstand (Hrsg.): Jahrbuch der Deutschen Sozialdemokratie für das

Jahr

1930.Berlin1931.[ReprintBerlinusw. 1976],S.285.

36HeinrichAugustWinkler:DerWegindie

Katastrophe.

Arbeiter und

Arbeiterbewegung

inder

Weimarer

Republik

1930bis1933.Berlinusw.1987,S. 182-185.

37„EinneueskommunistischesProgramm",Vorwärts Nr.396vom25. 8. 1930.

38„Die

geborgte Ideologie",

Vorwärts Nr.397vom26. 8. 1930.

39R. Abramowitsch: Revolution und Konterrevolution in Rußland. Das neue

Kautsky-Buch

über Rußland,in: DG7(1930),2.Halbband,S.532-541, hier:S.536.

"Ebenda,S.536f.

41KarlKautsky:Sozialdemokratie undBolschewismus,in: DG8(1931), 1.Halbband,S.54-71, hier: S.56und S.61.

(8)

Terror in Rußland zu

protestieren,

blieb

praktisch

ohne Resonanz42. Die anhaltende Wirtschaftskrise und der

große Erfolg

der NSDAP bei den

Reichstagswahlen

vom

14.

September

1930 absorbierten die Aufmerksamkeit der deutschenSozialdemokratie fast

völlig.

Im November/Dezember fand in Moskau der

große Schauprozeß

gegen die soge-

nannte

„Industriepartei"

statt.

Angeklagt

war eine

Gruppe

vonacht

Ingenieuren,

der

vorgeworfen wurde,

eine

illegale

Partei

gebildet

und in Zusammenarbeit mitehemali- gen russischen

Kapitalisten

und dem französischen

Ministerpräsidenten

Poincaré die

Interventionder

kapitalistischen

Staatenvorbereitetund

Sabotage

inder

sowjetischen

Industrie betriebenzuhaben. IndersozialdemokratischenPressefand der Prozeß nicht allzuviel

Beachtung.

ErwurdealsSündenbock-ManöverimSinnedes

Sachty-Prozesses

behandelt43. Auchdie imAnschlußandiesen Prozeßin der

Sowjetunion

einsetzende

Kampagne

gegen die internationale Sozialdemokratie wurde zunächst kaum

regi-

striert44. Das änderte sich

jedoch schlagartig,

als bekannt

wurde,

daß in Moskau ein

Prozeßgegen ein sogenanntes

„Unionsbüro"

der Menschewiki vorbereitet wurde.

Das

eigentümliche

andem Prozeßwar,daß die14

Angeklagten

mit einerAusnahme

garkeine aktiven Sozialdemokratenwaren. Bei denmeistenvonihnen handelteessich

um führende Mitarbeiter

sowjetischer Wirtschaftsbehörden,

die früher einmal zur

SDAPR

gehört,

dann aber mit ihr

gebrochen hatten,

um sich als „Neutrale" in den Dienst des wirtschaftlichen Aufbaus der

Sowjetunion

zu stellen. Zu ihnen

gehörten

VladimirGroman,der in derStaatlichen

Planungskommission gearbeitet hatte, Vasillij

Ser vonder

Staatsbank,

der Direktor des

Marx-Engels-Institutes

und Altbolschewik D. B.

Rjazanov

und der Historiker N.

Suchanov,

der sich während der Revolution

kurzzeitig

zu den Menschewiki

gerechnet

hatte. Sie alle hatten mit dem tatsächlich existierenden Büro des ZK der SDAPR nichts zu tun. Das

einzige Mitglied

dieses

Büros, das

angeklagt

war, war

Ikov,

der erst 1928 aus der

Emigration

nach Moskau

zurückgekehrt

war. Im Zentrumder

Anklage

stand aber nicht die tatsächlicheUnter-

grundarbeit

derMenschewiki. Vielmehr wurden die

Angeklagten beschuldigt,

das be-

sagte

„Unionsbüro"

im

Jahre

1928 ins Leben

gerufen

zu

haben,

um

systematische Sabotage

zu

betreiben,

dieausländische Interventionvorzubereiten undschließlich die

Sowjetregierung

zu stürzen, an deren Stelle eine Koalition der Menschewiki mit der

„Industriepartei"

und anderen

Gruppen

treten sollte.

Angeleitet

wordenseien sie bei

ihrenVerbrechenvon der

Auslandsdelegation

der SDAPR,die wiederum mit Wissen

und erheblicher finanzieller

Unterstützung

derSPDund derSAI

gehandelt

habe. Alle

Angeklagten

waren

geständig45.

Die internationale Sozialdemokratie wies die

Anschuldigungen

mitNachdruck zu-

42„Die Terrorwelle steigt. Protestaktion der russischen Sozialdemokratie", Vorwärts Nr.472

vom8. 10.1930.

43„Stalinbraucht

Entlastung",

Vorwärts Nr.551vom25. 11. 1930; „RamsinundGenossen be-

gnadigt",

Vorwärts Nr.575 vom 9.12. 1930; „Der Moskauer

Propaganda-Prozeß",

LVZ

Nr.286vom9. 12. 1930.

44„DieLagein

Sowjetrußland",

SPK Nr.1,Januar1931.

45Der sogenannte„Menschewiki"-Prozeßistmehrfach beschrieben worden:

Raphael

Abramo-

witsch:DieSowjetrevolution.Hannover1963,S.346-350;Broido,Lenin and theMensheviks,

S.163-166;Conquest,TheGreatTerror,S.552f.;RoyA.Medwedew:DieWahrheitistunsere

Stärke.Frankfurta.M.1973,S.134f.und S.140-156;Simon Wolin: The„Menshevik"Trial of 1931,in:Haimson,TheMensheviks,S.394-402;Ziehr,

Schauprozeß,

S.176-190.

(9)

rück. Emile

Vandervelde,

der Vorsitzende der

SAI-Exekutive, erklärte,

sowohldieSAI

alsganzesals auch die MenschewikiseienstetsgegendieIntervention in

Sowjetrußland aufgetreten46.

Der Vorwärts

publizierte

ausführliche

Auszüge

aus der

Anklageschrift

unterder

dreispaltigen Schlagzeile „Lügenanklage

gegen die Menschewiki". Zum Be- weis brachte er

zugleich

eine

Erklärung Raphael Abramowitsch',

in der dieser versi-

cherte,

entgegenden

Behauptungen

der

Anklage

seierseit1920nicht mehrinRußland

gewesen.Inder

Darstellung

des

Anklägers Krylenko

kam Abramowitscheine zentrale Rollezu.Erhabe sichim Sommer1928 inder

Sowjetunion aufgehalten

und dieGrün-

dung

des

„Unionsbüros"

veranlaßt47.

Wie dies bei den

Schauprozessen

üblich war, wurde die

Verhandlung

gegen das

„Unionsbüro"

voneiner

ausgedehnten Propaganda-Kampagne

in der

Sowjetunion beglei-

tet,die vondenkommunistischenParteienauchinandereLändergetragenwurden. Diesmal entwickelte sicheine

regelrechte Propagandaschlacht

zwischen den AkteureninMoskau

samtihren

Anhängern

imAusland und der internationalen Sozialdemokratie.

Diekommunistischen

Zeitungen

in Deutschland

gaben

dem Prozeß breiten Raum und identifizierten sich natürlich mit den

Behauptungen

der

Anklage.

Dabei standen fürsiedie

Vorwürfe,

dieim RahmendesProzessesgegendieSPD erhoben

wurden,

im

Mittelpunkt

des Interesses. Die

Leipziger Volkszeitung

zitierte ihr kommunistisches

Konkurrenzorgan,

die Sächsische

Arbeiter-Zeitung,

mit

Schlagzeilen

wie

„Hilferding

führt die Interventionskasse" und„DieSPDfinanziert die menschewistischeKonterre- volution"48.Auch

Krylenkos Anklageschrift

wurdevonderKPD

publiziert.

Hermann

Remmele,

der

später

selbst ein

Opfer

des Stalinismus

wurde49,

schrieb das Vorwort dazu.Erbezeichnete führende Politiker der internationalen SozialdemokratiewieVan-

dervelde,

Otto

Wels,

Fritz Adler und

Rudolph Hilferding

als die

eigentlichen Ange- klagten

desProzessesund

bedauerte,

daßsiesich

„leider

nochnicht

physisch

im Macht-

bereich derrevolutionären Gerichtsbarkeit" befanden.

Eigens

wies erdarauf

hin,

daß

Krylenko Kautskys

Buch „Der Bolschewismus in der

Sackgasse"

den

Anklageakten beigelegt

habe50. Die

deutschsprachige

Moskauer

Rundschau,

die normalerweise wö- chentlich

erschien,

berichtetein fünf

Sonderausgaben,

die imAbstandvonein bis drei

Tagen herauskamen,

ausführlich über den Verlauf desProzesses51.

Während dieKommunisten

Krylenkos

Vorwürfe

wiederholten,

konterten die Sozial- demokratenmitneuenFakten. TheodorDan

erläuterte,

daß die

Angeklagten,

soweit sie

der russischen Sozialdemokratie

angehört hatten,

fast ausnahmslos schon vor einem

Jahrzehnt

ausderSDAPR ausgetreten seienund dies auch öffentlich

kundgetan

hätten.

Anders als bei früheren

Schauprozessen

führe diesmalnicht

Vysinski

den

Vorsitz,

weil

er zur selbenZeit wie die meisten

Angeklagten

diemenschewistische Parteiverlassen habe52.

„ProtestgegenSowjetmethoden",Vorwärts Nr.97vom27. 2. 1931.

„Lügenanklage

gegendieMenschewiki",Vorwärts Nr.98vom27. 2. 1931.

„Die

Schändung

derRevolution",LVZ Nr.58vom10. 3. 1931.

Conquest,Terror,S. 429.

DieSozialdemokratie auf der

Anklagebank.

Die Interventions- und

Schädlingsarbeit

vordem

Moskauer

Volksgericht. Hamburg

1931,S.3f.

Moskauer RundschauNr.10(=

Sonderausgabe

I)bis Nr.15(=

Sonderausgabe

V)vom2.bis

12. 3. 1931.Fundort:Nl.

Kautsky,

H40.

Theodor Dan:Moskau mordetdasRecht!in: Vorwärts Nr.99vom28. 2. 1931.

(10)

DerVorstand derSPD,von deminder

Anklageschrift behauptet wurde,

erhabe der

Auslandsdelegation

derSDAPR480000 Rubel zukommen

lassen,

wies diese

Behaup-

tungam28.Februar zurück. Insbesondere habemanniemals

irgendwelche Schädlings-

arbeit oder

Interventionsprojekte

finanziell unterstützt. Die

Behauptungen,

die die

russische

Bruderpartei

diskreditieren

sollten,

seien

unsinnige Lügen53.

Auseiner

Erklärung

dermenschewistischen

Auslandsdelegation

vomselben

Tag

war

zu

ersehen,

daßsich die SPDihr

gegenüber

sogarbesonders

zugeknöpft gezeigt

hatte.

Speziell

beidenEinnahmen der

Jahre

1929/30, die

sich,

wie

immer,

aus

Sammlungen

unter

Gesinnungsgenossen

in

Europa

und denUSAundausSubventionenvonBruder-

parteien

zusammensetzten, sei die SPD

„nicht

mit einer

einzigen

Mark vertreten"54.

Eindrucksvoller als diese

Versicherungen

war

aber,

daß

Raphael

Abramowitsch der Nachweis

gelang,

daß er zuder

Zeit,

alserlaut der

Anklageschrift

inder

Sowjetunion

das Unionsbüros

organisierte,

sich in Wirklichkeit an einem Urlaubsort in Mecklen-

burg

und anschließend beimdritten

Kongreß

derSAI in Marseille

aufgehalten

hatte.

Für den ersten Zeitraum konnte er zwei

Zeugen benennen,

für die Teilnahme am

SAI-Kongreß

wardas nicht

erforderlich,

darüber hatte sogar diePravda berichtet.Da Abramowitsch'

angebliche

RußlandreiseeinzentralesElement der

Anklage

war,wurde

ihre

Unmöglichkeit

in den

Mittelpunkt

der sozialdemokratischen

Agitation gestellt.

Spöttisch fragte

Abramowitsch

angesichts

dieses

plumpen Regiefehlers,

ob sich beim

sowjetischen

Geheimdienst nicht vielleicht ein

„menschewistischer Schädling" einge-

schlichenhabe55.DieSAI,dieim Mai eineBroschürezudem Moskauer Prozeß heraus-

brachte,

dievonderSPD in einer

Auflage

von10000Stückvertrieben

wurde,

setzteauf

das Titelblattein

Photo,

das Abramowitschim Kreise der Teilnehmer des SAI-Kon- gressesvonMarseille

zeigte56.

Krylenko

ließseine

Prozeßstrategie

durch dieseStörmanöver nicht durcheinander-

bringen.

ErerklärtedievonAbramowitsch

vorgebrachten

Fakten

schlichtweg

fürnicht

beweiskräftig57.

Auch die

Angeklagten,

die man mit brutalen

Folterungen

zu ihren

Selbstbezichtigungen bewegt hatte,

hieltenanihren

Aussagen

fest58.Obwohl

Krylenko

infünf Fällen die Todesstrafe

beantragt hatte,

wurden schließlich nurFreiheitsstrafen

verhängt.

Sieben

Angeklagte

mußten zehn

Jahre,

dieanderen sieben zwischen fünf und acht

Jahren verbüßen59.

Wie sehr derMenschewiki-Prozeß die in der SPD weitverbreitete

Auffassung

von

der

Zwillingsbruderschaft

von Faschismus und Kommunismus

bestärkte, zeigte

ein-

53„ParteivorstandgegenJustizmord.

Krylenkos Behauptungen

sindunsinnige Lügen",Vorwärts

Nr. 100vom28. 2. 1931.

54„Gegenden MoskauerJustizmord",Vorwärts Nr.101vom1.3. 1931.

55R. Abramowitsch: Meine Reise nach Moskau, in: Vorwärts Nr.113 vom 8.3. 1931; „Die

Schändung

derRevolution",LVZ Nr.58vom10. 3. 1931.

56FritzAdler,

Raphael

Abramowitsch, LéonBlum,EmileVandervelde: DerMoskauer Prozeß und die Sozialistische Arbeiter-Internationale. Berlin1931.Die

Angaben

zur

Auflage

undzum

Erscheinungsmonat

in:SPD-Parteivorstand(Hrsg.):

Jahrbuch

der Deutschen Sozialdemokratie für dasJahr1931.Berlin1932

[Nachdr.

Berlinusw.1976],S.187.

37 „DasUrteil",MoskauerRundschauNr. 14(=

Sonderausgabe

IV)vom11. 3. 1931.

58Vgl.dazu dieAussage,die der

Angeklagte

Michail

Jakubowitsch

1967anden Generalstaatsan- walt derUdSSRsandte,in:Medwedew, Wahrheit,S.144-151.

59„FünfTodesurteilebeantragt",Vorwärts Nr.112vom7. 3.1931;Ziehr,

Schauprozeß,

S.184.

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