11. Sozialistischer Aufbau im Reich des „Roten Duce"?
SPD und Sowjetunion am Ende der Weimarer Republik
Nach dem Rücktritt der
Regierung
HermannMüller nahm die unmittelbareAuseinan-dersetzung
zwischen SPD undSowjetunion
ab. Dennoch waren dieEntwicklung
derSowjetunion
und ihrePerzeption
für die deutsche Sozialdemokratie in den frühendreißiger Jahren
ein bedeutsamerFaktor,
denn vor demHintergrund
der Weltwirt- schaftskriseerneuerten,wieErich Matthiasfeststellte,
RealitätundMythos
dessowjeti-
schen
Fünfjahresplans
die„Ausstrahlungskraft
des bolschewistischenBeispiels
der,Tat'"'.
Nicht allein durch die kommunistischePropaganda
mitdenangeblichen
odertatsächlichen
sowjetischen Aufbauleistungen
wurde dieSPDdazugezwungen,sichmit der„zweitenRevolution" zubefassen.DerVersuch,
dieSowjetunion
mit einemgroßen Sprung
in ein Industrieland zuverwandeln,
löste auch innerhalb der internationalen Sozialdemokratie eine kontroverse Diskussion darüber aus, ob dersowjetische Weg
nicht dochzumSozialismus führenkönne.
ImZentrum der Aufmerksamkeit der deutschen Sozialdemokratie stand
jedoch
dieimmer bedrohlichere
Gefährdung
der WeimarerRepublik
durch die erstarkende NSDAP. InderDiskussiondarüber,
ob eineEinheitsfrontmit der KPD zurAbwehr dieser Gefahrmöglich
sei,spielte
ebenfallsdieBeurteilung
derSowjetunion
durch dieSPD eineRolle.
Stalins Durchbruch
-
sozialdemokratische Reaktionen
Anfang
1929 erschien ein in sozialdemokratischen Kreisen vielbeachtetes Buch des menschewistischenÖkonomenAronJugow
über„DieVolkswirtschaft derSowjetuni-
on und ihre Probleme".Inseinerdetaillierten Bilanz der
sowjetischen
Wirtschaftsent-wicklung
kamJugow
zudemErgebnis,
daßinderSowjetunion
keinevergesellschaftete Wirtschaft,
sondernlediglich
einschlechtfunktionierender,
bürokratischerStaatskapi-
talismus entstandensei. Eine weitere
Ausdehnung
derSphäre
derprivatkapitalistischen Produktionsverhältnisse,
die durch die NEP inbegrenztem
Maße wiederzugelassen
wordenwar,steheauf der
Tagesordnung.
DienominellsozialistischeStaatsführung
seidurch die
objektiven
Verhältnisse gezwungen,„sich
entweder fürim vorhinein zumMißerfolg
verurteilte Maßnahmen(,Linkskurs')
zu entscheiden oder die Politik dem Proletariatfremderund auch feindlicherKlassenzuverwirklichen."2NurdieLiquidie-
rungder Diktatur und der Abschiedvon einer
utopischen Wirtschaftspolitik,
die aufVerstaatlichung baue,
wiesen lautJugow
einenWeg
aus der krisenhaftenSituation derSowjetunion,
wiesieumdieJahreswende
1928/29offenkundig geworden
war3.Stalinwaranderer
Meinung.
Erwarentschlossen,
dengordischen
Knotendersowje-
tischen
Wirtschaftsprobleme
nachArtAlexanders des Großenzulösen.Daszeigte
sich,1Matthias,Deutsche Sozialdemokratie und derOsten,S. VI.
2A.Jugow:DieVolkswirtschaft derSowjetunionund ihre Probleme.Dresden1929,S.356;
vgl.
auchA.Gurland: Russische Probleme.
Bemerkungen
zuJugowsRußland-Buch,in:KKNr.5vom 1.3. 1929.
(Gurland
hatteJugows russischesManuskript
ins Deutsche übersetzt.); A.Jugow:
Grundprobleme
der russischenVolkswirtschaft,in: DG4(1927)2.Halbband,S.419- 454.3Ebenda,S.371.
alsim
April
1929vonder16. Parteikonferenz die Maximalvariante deserstenFünfjah- resplans
beschlossenwurde,
diegigantische Produktionssteigerungen
vorallem inderSchwerindustrie vorsah. Und es offenbarte sich
ferner,
als im Herbst 1929 in einemschwindelerregenden Tempo
diezwangsweise Kollektivierung
dersowjetischen
Land-wirtschafteinsetzte4.
Solchen
Projekten
hatteJugow
dasunweigerliche
Scheitern vorausgesagt, und dieseAuffassung
herrschte auchin der deutschen Sozialdemokratie. DieLobpreisungen
desFünfjahresplans
auf der Parteikonferenzvom Mai 1929 als „Poesie des Sozialismus"aufgreifend,
schrieb PeterGarwy
im Vorwärts: „DerWirtschaftsplan
istgewiß
eineschöne
Dichtung,
aber derWarenhunger,
dieBrotkarten,
dasSchlangestehen,
derLohndruck,
dieEinschränkung
der Anbaufläche ist dietraurige
Wahrheit."5 Damit hatteGarwy
den Grundtonangeschlagen,
der dieBerichterstattung
derdeutschenso-zialdemokratischen Publizistik über die forcierte
Industrialisierung
in derPeriode desersten
Fünfjahresplanes vorwiegend prägte.
Nicht dieErfolge
deswirtschaftlichen Auf- bausstanden in ihremZentrum,
sonderndieEntbehrungen,
dieerderBevölkerung
undinsbesonderederArbeiterschaftaufbürdete6.Auch die
Kollektivierung
hattekeine gutesozialdemokratische Presse. Die
Leipziger Volkszeitung schrieb,
hinter der Parole„Kampf
gegenden Kulak"[= Großbauern, JZ]
unterder siedurchgeführt werde,
steheinWirklichkeitein
Kampf
gegenden Fleiß.DieKulakenseien mitdeutschen Großbau-ernnichtzu
vergleichen,
sondern stelltendieGruppe
russischerBauerndar,
die durch besonderen Fleiß ihrenWohlstandetwasüber den Durchschnitthättenheben können.Mit den von der
Sowjetregierung eingeleiteten
Maßnahmen werde das Niveau der Landwirtschaft künstlichgesenkt7.
Besonders aberentsetzte die Sozialdemokraten die
Brutalität,
die den neuen Kurskennzeichnete,
insbesondere die massenhaftenHinrichtungen,
die Ende 1929 ein seitden Zeiten des
Bürgerkrieges
nicht mehrdagewesenes
Ausmaßerreichten. Alleinvom1.Oktober bis 15.November 1929waren500
Erschießungen
zuverzeichnen8.ImNo- vember1929protestierte
dasBüroderSAIgegendieHinrichtungswelle9.
Im
deutschsprachigen Mitteilungsblatt
der RussischenSozial-Demokratie,
RSD, er-4VonRauch,Sowjetunion,S.205-216;RichardLorenz: DieSowjetunion(1917-1941), in: Fi- scher
Weltgeschichte
Bd.31:Rußland. Frankfurta.M.1973,S.271-353, hierS.316-353.5PeterGarwy:Stalins
Sieg,
in:Vorwärts Nr.212vom8. 5.1929;„,EinholenundÜberholen'in fünfJahre!"
[sie!],SPK Nr.5,Mai1929.AlleBeiträgezurSowjetunioninderSPK,diezumeist ohneNennungdes Autorennamensveröffentlicht wurden,stammtenvon PeterGarwy;vgl.
GarwyanKarl
Kautsky
30. 4.1930;Nl.Kautsky,
G 16,42-45.6Siehe dazuHeller,Geschichte derSowjetunion,S.216f.
7„Der
Kampf
gegendenKulak",LVZ Nr.14vom17.1.1930;vgl.
auch:„Kampf
umdasBrot",SPK Nr. 11, November1929.
8R. Abramowitsch: Diepolitischen Gefangenen in der Sowjetunion. Mit einemVorwortder Vorsitzenden der „Kommission zur
Untersuchung
der Lage derpolitischen Gefangenen",
Senator LouisdeBrouckère,Brüssel undArtur
Crispien,
MdR Berlin. Berlin1930,S.15;vgl.
auch: „TerrorinPermanenz",SPK Nr.11, November 1929; Emile Vandervelde:Stalinsneue
Terrorwelle,in: VorwärtsNr.79vom16. 2. 1930. „StalinderSchreckliche",Vorwärts Nr.104
vom3. 3.1930;D.Dalin:Der kleineBürgerkrieg,in: RSD Nr.44vom7. 11.1929;„DerTerror wütet inRußland",RSD Nr.2vom9. 1. 1930;D. Dalin: Tausendevon
Hinrichtungen,
in:RSD Nr.4vom23.1. 1930;
„Bürgerkrieg
inVorbereitung",
RSD Nr.9vom27. 2. 1930.9Protokollvierter
SAI-Kongreß,
S.40f.;SPD-Parteivorstand(Hrsg.): Jahrbuchder Deutschen Sozialdemokratie für dasJahr1929.Berlin1930[Nachdr.
Berlin,Bonn 1976.],S.260.schieneineReihevon Briefenaus
Moskau,
die einebedrohlicheAtmosphäre
schilder-ten.Das Leben der
Sowjetbürger
sei mit zweiDingen
vollausgefüllt: „die ,Säuberung'
zu
überleben,
ohnedieArbeitsstellezuverlieren,
und sich dieNahrung wenigstens
fürmorgenund
übermorgen
zusichern"10.
Aufmerksam
registriert
wurde in der SPD-Presse auch dieEntmachtung
der„rechten Opposition"
in derKPdSU umBucharin, Rykow
undTomskij,
die ander NEPhattefesthaltenwollen.Unterdem Titel „Die
Stalinisierung
derrussischen Gewerkschaften"berichtete die Sozialdemokratische
Parteikorrespondenz
über dieAbsetzung
des Ge-werkschafsvorsitzenden
Tomskij.
Zwar seien diesowjetischen
Gewerkschaften auch schonzuvorder KPdSU unterworfengewesenundhättennurinAusnahmefällenunter dem Druck ihrerMitglieder
Arbeiterinteressen vertreten, doch fürdieforcierteIndu-strialisierung,
die mit„den
schlimmsten Ausbeutermethoden derIntensivierung
derArbeit" betrieben
werde,
sei selbst dies störend. „DieEntartung
der Parteidiktaturin diepersönliche
Diktatur des russischen ,Duce' führte unvermeidlichzum Verlust des letzten Schattens der Gewerkschaftsautonomie[.. .]"nDer
UmbruchinderSowjetuni-
onforderteeineReaktionderSozialdemokratie heraus. Insbesondere der rechte
Flügel
der menschewistischen
Emigration
sahjetzt
denZeitpunkt gekommen,
andemdie SAIaktiverin das
sowjetische
Gescheheneingreifen
sollte. Dierechten Menschewiki rea-gierten
aufdieRenaissancedesKriegskommunismus,
als derderneueStalinsche Kursvielen
erschien, gewissermaßen
mit einerErneuerung
vonAxelrods Idee der sozialisti- schenIntervention12. StattStellungnahmen
vonFallzuFallabzugeben,
müssedieSAIdie öffentliche
Meinung
des internationalen Proletariats mit einerplanmäßigen
Kam-pagne gegen
Terror, religiöse Verfolgungen,
dieUnterdrückung
vonArbeiter undBau- ern, aber auch „gegen das gesamteSystem
der bolschewistischen Diktatur und ihre Politik derutopistischen Experimente" mobilisieren,
fordertensie13.Mitdieser
Strategie
hofftendierechten Menschewiki nichtnurdemokratischepoliti-
sche Aktivitäten derMassen in der
Sowjetunion anzufachen,
sondern auch Illusionen über diesowjetische Entwicklung begegnen
zukönnen,
die sich ihrerMeinung
nach inder westlichen
Arbeiterbewegung
erneut auszubreitenbegannen.
Als einen Urhebersolcher
„Illusionen"
sahen die rechten Menschewiki den in der SAI einflußreichen österreichischen SozialistenOttoBauer14. Inder TatwardieReaktionderösterreichi-10„Politikim
Sowjetalltag",
RSDNr.48vom5. 12.1929;„BriefausMoskau",RSDNr.45vom14.11.1929;„BriefausMoskau",RSD Nr.47vom28.11. 1929.
11 „Die
Stalinisierung
der russischenGewerkschaften",SPK Nr.7,Juli1929.DaßesinderLogik
derDiktatur
liege,
daßdieEntscheidungsgewalt
auf immerengereGruppen übertragen
werde,hatte bereits 1926 R. Abramowitsch
festgestellt:
„Nach der Konferenz der KPdSU", RSD Nr.47vom23.11. 1926;vgl.
auchTheodorDan:DerhöchsterhabeneDiktator,in:RSDNr.1vom3. 1.1930.
12Siehe dazuS. 48.
13Zur Positionder rechten Menschewiki siehe„PolozenievRossii iZadaciRSI.
Tèzisy
opposi-cii"'[Die LageinRußland und die
Aufgaben
der SAI. Thesender„Opposition"],
Socialistices-kijVestnikNr.16 vom 30. 8. 1930. DieThesen waren schonim April verfaßt worden.Die Publikation im Vestnikwarjedoch offensichtlich von der in der Redaktiondominierenden
Mehrheitsgruppe
auspolitischen
Gründenhinausgezögert
worden;„EntwurfderThesen über die russischeFrage",Nl.Kautsky,
G 16, 103-111.Unterstützerwarenu.a.Garwy,Bienstockund
Woytinski.
14DenkschriftvonAronson,Bienstock,Garwyu.a.;Nl.
Kautsky,
G16,42-A5.sehenSozialisten auf die neue
Entwicklung
in derSowjetunion zwiespältig.
So stelltedieWiener
Arbeiterzeitung
imJuli
1930 dazufest,
essei „etwas HeroischesindiesemVersuch,
eine ganze Generationder Zukunftzuopfern,
ohne Rücksicht auf die schwer-sten
Opfer
von hundert Millionen Menschen denSieg
einer Ideezuerzwingen".
Obdaraus eine
gefährliche Utopie werde,
könneerstdie Geschichteerweisen15.Die
Begeisterung
für dasgroße Experiment,
das in derSowjetunion ablief,
be- schränktesichabernicht auf marxistischeTheoretiker.SowurdeimMai 1930in einerVersammlung
der BreslauerSPD nahezueinstimmig
eine Resolution angenommen, in derausgeführt wurde,
daß die ökonomischenund sozialenFortschrittederSowjetuni-
onderWeltdas
Beispiel gäben,
daßeineGesellschaftauchohneKapitalisten
existierenkönne.Die Sozialdemokraten müßten den
Skeptizismus gegenüber Sowjetrußland
ab-legen
und die Einheit der ArbeiterklasseunterderLosung
herstellen:„ProletarierallerLänder, vereinigt
euchzumSchutzderSowjetunion!"16
Der Vorstoßder rechten Menschewiki füreineOffensiveder SAI gegendas
System
des Bolschewismus und die
prosowjetischen
Tendenzen in derSozialdemokratieblieb schon indenAnfängen
stecken. Da sie als Minderheit nicht fürdierussische sozialde- mokratischeParteisprechen konnten,
wurde einvonihneneingereichtes
MemorandumvomSAI-Sekretär Friedrich Adler
zurückgeschickt,
ohnedaßes vonder SAI-Exekuti-vediskutiert wordenwäre17.
So kaminderInternationalenurdieSDAPR-Mehrheitzum
Zug,
dieimBolschewis-mus nach wievoreinen,wennauch
deformierten,
revolutionären Faktorsah und sich auf dieKritikderFolgen
seinerPolitikbeschränkte.InwelcheRichtung
ihreArgumen-
tation
ging,
hatte bereits eine dieSowjetunion
betreffendePassage
im Maiaufruf derSAI
gezeigt,
dievonTheodorDanverfaßt worden war.Diebolschewistische Diktatur entfremde sich die beidentragenden
Klassen der russischenRevolution,
nämlich die Arbeiterklasse und dieBauernschaft,
hattees daringeheißen.
Sie beschwöre damit die Konterrevolutionherauf. Diesozialistischen Arbeiter Rußlands bemühtensichdagegen
umdie
Demokratisierung
desSowjetstaates,
durchdieallein die drohende konterrevo- lutionäre Gefahrvonderrussischen Revolutionabgewendet
werdenunddieGrundlage
fürdie
Wiederherstellung
der Einheit der internationalenArbeiterbewegung geschaffen
werdenkönnte18.Zur
Exekutivtagung
der SAIlegte
dieFührungsgruppe
der Mensche- wiki ein Memorandumvor, in dem die ökonomischen undpolitischen
Gefahren des StalinschenKursesausführlichbeschrieben wurdenunddieimMai-Aufrufgezeichnete Perspektive
imeinzelnenbegründet
wurde19.DasErgebnis
wareineProklamationder SAI-Exekutivean dieArbeiterRußlands,
indemeindringlich
die Gefahr beschworenwurde,
die StalinschePolitikwerdezueinerKluftzwischen Bauernschaft und Arbeiter-15Zit.nachLöw,OttoBauer,S. 154.
16
„Begeisterung
fürSowjetrußland",„DasFreieWort" (FW)Nr.22vom1. 6. 1930.17P.GarwyanKarl
Kautsky
vom30.4.1930,Nl.Kautsky
G16,42-45;SekretariatSAI(F.Adler)anG.Aronson,12. 5. 1930, Nl.
Kautsky
G16,82.18„AndieArbeiter allerLänder!",LVZNr.92vom19. 4.1930.
19„O sovremennom
politiceskom polozenii
v Sovetskom Sojuse. Memorandum Zagr.Deleg.
RSDRP."
[Über
diegegenwärtigepolitische
LageinderSowjetunion.Memorandumd.Ausl.del. d. SDAPR], Socialisticeskij Vestnik Nr. 9 vom 17.5. 1930. Deutsch in: Sozialistische Revolutionin einemunterentwickeltenLand.Texte der Menschewikizurrussischen Revolu- tion.
Hamburg
1981,S. 163-176. Ferner:NI.Kautsky,
G16,84-102.klasse
führen,
und dieVerzweiflung
derBauernwerdevonweißen Konterrevolutionä-renfür ihre Zwecke mißbraucht werden. Parteilose und kommunistische Arbeiter soll-
tensichmitden Sozialisten zur
Rettung
der Revolution verbünden.Vorallem,
soderAufruf,
müsse das Bündnis der Arbeiter mit den Bauernwiederhergestellt
werden.Dazu müssemitder
gewaltsamen Kollektivierung
Schlußgemacht
werden. Außerdem müßtenMeinungs-
undOrganisationsfreiheit
wiedereingeführt
werden20.Der
Aufruf,
dervomSocialisticeskij
Vestnikals„historisches
Dokument"eingestuft wurde,
weil sich damit die SAIerstmalig
direkt miteinergrundsätzlichen Erklärung
zum
Kampf
mit der bolschewistischen Diktatur an die Arbeiter Rußlandsgewendet habe21,
wareinstimmig
verabschiedet worden. Otto Bauerallerdings
hätte das Themaamliebsten nicht auf der
Tagesordnung gesehen22
undgehörte
zujenen Delegierten,
dieargumentierten,
die Krisehabe noch nicht den Punkterreicht,
andem eine Intervention derSAI erforderlich sei23.Dagegen sprachen
sich Otto Wels und ArturCrispien
vonderSPD wärmstens für den russischen
Vorschlag
eines Manifestes an die russischen Arbeiteraus24.IneinemBriefan Karl
Kautsky würdigte
PeterGarwy,
daß sichdie SAIerstmalsandieArbeiterRußlands
gewendet
habe. Aberdem Inhalt nachseiderAufruf eine Bestä-tigung
derPosition von Dan und Bauer. ImForderungskatalog
fehlten -wie
Garwy
meinte
„kaum zufällig"
-
die Freiheit des Gewissens
-
„(Religionsverfolgungen!)",
vermerkte
Garwy
dazu-
und das Streikrecht. Es würden freie und
geheime
Wahlengefordert,
abernichtgleiche
unddirekte,
wasaufeineAnerkennung
desRätesystems hinauslaufe,
das dochnurderDeckmantel der Parteidiktatursei. DerGrundfehler des Aufrufssei,
daß dieutopistische Versuchspolitik
nicht kritisiertwerde25.Schon Ende
April
hatteGarwy Kautsky aufgefordert,
öffentlichseineMeinung
überdie forcierte
Industrialisierung,
dieZwangskollektivierung
und dieStellung
der Sozial- demokratiekundzutun26.
MitTheodorDanhatteKautsky
1929/30brieflich ausführlich überdieZukunftsaussichtenSowjetrußlands
und dieStrategie
der menschewistischenEmigration debattiert27. Eingehend legte Kautsky
seinenStandpunkt
imHerbst1930indem Büchlein „DerBolschewismusin der
Sackgasse" dar28.
Daringeht
esimwesentli-chen um drei
Fragen,
nämlich dieVerwirklichungschancen
desFünfjahresplans,
denCharakter des bolschewistischen
Regimes
und dienotwendige Strategie
der demokrati- schenund sozialistischenEmigration
Rußlands.Diewirtschaftlichen Aussichten der
Sowjetunion
schätzteKautsky
äußerstnegativ
ein,so
negativ,
daßGarwy,
derdas KorrekturlesenvonKautskys
Broschüreübernom-men
hatte,
ihn darauf aufmerksammachte,
daßgewisse quantitative Erfolge
in derindustriellen
Entwicklung
nichtzubestreitenseien. DieArgumentation
solltevorallem20Prot.Vierter
SAI-Kongreß,
S. 92f.21 „Istoriceskijdokument",SocialisticeskijVestnikNr. 10vom31. 5. 1930.
22Uli Schöler:Otto BauerundSowjetrußland.Berlin1987,S.31.
23„Sessija
ispolkoma
RSI" [Die SitzungderSAI-Exekutive], Socialisticeskij VestnikNr. 10vom31. 5.1930; BriefP.GarwyanK.
Kautsky,
27. 5.1930,Nl.Kautsky,
G16,50-53.24Ebenda.
25GarwyanKautsky,27. 5. 1930
.
Inder
geltenden Räteverfassung
wogenArbeiterstimmenmehr alsdievonBauern.26Garwyan
Kautsky,
30. 4. 193027Dan, Letters,S.369-382,S.395-398,. S.405^107undS.583-600.
28Karl
Kautsky:
DerBolschewismusin derSackgasse.
Berlin 1930.auf die
Aussichtslosigkeit
desSystems
derZwangswirtschaft allgemein hinauslaufen,
ferner
darauf,
daß sie den Grundsätzen des Sozialismuswiderspreche,
weil sie keineBefreiung
der Arbeitendenbringe29.
Mit sicherem
politischen
Instinkt hatteGarwy erkannt,
daß esgefährlich
war, dieBeurteilung
desneuensowjetischen
Kursesvon seinem ökonomischenMißerfolg
ab-hängig
zu machen. Verlief die wirtschaftlicheEntwicklung
anders alsvorhergesagt,
mußte das weitreichende
Konsequenzen
für dieeigene Ausgangsposition haben,
wiesichim weiterenVerlauf der Diskussion noch
zeigen
sollte.Bei
Kautsky
bestandjedoch
nicht dieGefahr,
daßerwegen ökonomischerErfolge
inder
Sowjetunion
seinegrundsätzliche
PositionzumBolschewismus änderte.„Die
Kate-gorien,
mit denenerdiepolitisch-gesellschaftlichen Systeme beurteilte,
warendieKate-gorien
derpolitischen Freiheit,
derbürgerlichen Rechte,
derVereinigungs-
und Ver-sammlungsfreiheit,
derBewegungs-
undHandlungsfreiheit
für alle Parteien und der vollenOrganisationsfreiheit
für das Proletariatund die arbeitendenSchichtenimallge-
meinen", stellt derPolitikwissenschaftlerMassimoL.Salvadori fest .Die weitere Ein-
schränkung
derGrundfreiheiten,
diemit dem ökonomischenUmbruchinderSowjet-
union
einherging,
mußteKautsky
daherzueinerVerschärfung
seinesnegativen
Urteilsüber den Bolschewismus führen.
Kautsky ging
über dieetwasverschwommenenWarnungen
vorderbonapartistischen Entartung
der kommunistischen Diktatur hinaus und setzte sieeindeutig
mit demFaschismus
gleich:
„DerFaschismus istaber nichtsalsdasGegenstück
desBolschewis-mus, Mussolini nur der Affe Lenins." Aus dieser
Voraussetzung
mußte sich eineandere
Strategie
für dieDemokratisierung
derSowjetunion ergeben,
alssie imAufrufder SAI
vorgeschlagen
worden war. Ein friedlicherÜbergang,
wie er darin skizziert worden war,schienKautsky
unwahrscheinlich. Er verwiesdarauf,
daß selbst die be- schränktenZugeständnisse
derNEP erst eineFolge
des Kronstädter Aufstandeswa-ren32.Seine
Perspektive
führteKautsky
zuähnlichen Schlüssenwiedie rechteOpposi-
tionderSDAPR.Wie sie meinteer,esmüsseeinBündnis zwischen
Arbeitern,
demo- kratisch undsozialistischgesinnten
Intellektuellenund Bauernangestrebt werden,
dasallein demvonihm
vorhergesagten
antibolschewistischen Aufstandeinepositive
Rich-tung
geben
könne33. Erging
aber nocheinen Schritt weiter, indemerforderte,
diesesBündnissolle
gewissermaßen
inderEmigration
vorweggenommenwerden.Die soziali- stischen und demokratischenOrganisationen
der russischenEmigration
sollten sichzusammentun, um die
Zukunftsperspektiven
ihres Landes zu diskutieren.Kautsky
verwiesdabeiauf ähnlicheZusammenschlüsse der italienischen
Emigration.
Seiner Mei- nungnach kam derEmigration
wegenihrerAuslandserfahrung
inder nachbolschewi- stischenÄraeine bedeutendeRollezu34.29PeterGarwyanKarlKautsky, 16. 7.1930, Nl.Kautsky,G16,54.
30Salvadori,SozialismusundDemokratie,S.420f.
31
Kautsky, Sackgasse,
S.102.32Ebenda,S.105.
"Ebenda,S.117.
34Ebenda, S.119-132. Sehr
skeptisch
zur Rolle der Emigration äußerte sichdagegen
GregorBienstockin einemBriefan
Kautsky
vom3. 5. 1929.Dierussische Sozialdemokratiesei inzwi- schen „kaum mehr alseinegeheime
GesellschaftvonPropagandisten".
Würdesie in dieLage kommen,politische
Machtauszuüben,würdesie wegen desSektencharakters der verschiede-nen
Richtungen
inihr„kläglich
scheitern".Nl.Kautsky,
G 16,24-27.Kautskys
Buch erschienimSPD-Verlag
DietzNachfolger, jedoch
wares,wieschonseinMemorandumvon 1925 „DieInternationale und
Sowjetrußland",
in weitenTeilenvorwiegend
für einsowjetisches
Publikumgeschrieben.
Eswurde denn auchvonTheo- dor Dan ins Russische übersetzt und mit einem kritischen Nachwortversehen35.
Für die deutsche Sozialdemokratie war vor allemKautskys Bekräftigung
derWesensver-wandtschaft von Bolschewismus und Faschismus bedeutsam. Dies mußte auch ihre
Beurteilung
derdeutschenKommunistenbeeinflussen. ImAugust
1930, also kurz be-vor
Kautskys
Buch erschienenwar,hatte die KPD eine„Programmerklärung
zurnatio-nalenund sozialen
Befreiung
des deutschen Volkes"veröffentlicht,
in der sich starkeAnklänge
an den„Schlageter-Kurs"
desJahres
1923fanden36
-Grund genug fürdie SPD,ihren Vorwurfderkommunistisch-faschistischen Einheitsfrontzu erneuern. Die KPDwerde nationalistischer als
Hitler,
erklärte derVorwärts31
und nanntedie „Pro-grammerklärung"
derKPDdas„Programm
mit demFememörderjargon"38. Kautskys
Buch lieferte
gewissermaßen
denBeleg dafür,
daß nichtnurdieKPD,
sondern auch dasvonihr
gepriesene „proletarische
Vaterland" mitdem Faschismuswesensverwandtwar.In der SPD-Theoriezeitschrift Die
Gesellschaft
kritiserteRaphael
Abramowitsch nach dem ErscheinenvonKautskys
Buch dessenAuffassung,
derBonapartismus
sei inder
Sowjetunion
bereits Realität. „Die klassischen Formen desBonapartismus,
dieMachtergreifung Napoleons
I. undNapoleons
III. bedeutetenjede
in ihrer Art eineantidemokratische
Liquidierung
der Revolution durch aus der Revolution selbst her- vorgegangeneKräfteimInteresseder durch die Revolutionneugeschaffenen
besitzen-den
Klassen",
definierte Abramowitsch den umstrittenenBegriff39.
Das Merkmal der besitzenden Klassen fehle aberinderSowjetunion.
Die mehrerenZehntausend führen- der Funktionäre könnten nicht als solch eine Klasseeingestuft
werden.„Wirklicher Bonapartismus
für Rußland würde demnachbedeuten,
daßdieterroristische Diktatur der Bolschewikimitkapitalistischem
Inhalt erfülltwerde", folgerte
er40.Kautsky dagegen
hielt solche Diskussionen überhistorischeAnalogien
fürfruchtlos.Mit fiktiven Schreckbildern werde dabei nur
„die
Wucht unseresAngriffs
gegen die unerbittlichen Schrecknisse der Diktatur"geschwächt41.
Sozialdemokratie
auf
derAnklagebank
Allzu
groß
wardievonKautsky
beschworene„Wucht
desAngriffs"
ohnehin nicht. EinAnfang
Oktober 1930 ergangener neuerlicher Aufruf derMenschewiki,
gegen den35Wolin, Mensheviks under the NEP and in
Emigration,
S.323.Kautskys
Buch wurde vomDietz-Verlag
in 4000Exemplaren aufgelegt. Demgegenüber
erreichte dervon R. Abramo- witsch verfaßte Bericht über diepolitischen Gefangenen
inderSowjetunioneineAuflagenhöhe
von 25000; SPD-Parteivorstand (Hrsg.): Jahrbuch der Deutschen Sozialdemokratie für das
Jahr
1930.Berlin1931.[ReprintBerlinusw. 1976],S.285.36HeinrichAugustWinkler:DerWegindie
Katastrophe.
Arbeiter undArbeiterbewegung
inderWeimarer
Republik
1930bis1933.Berlinusw.1987,S. 182-185.37„EinneueskommunistischesProgramm",Vorwärts Nr.396vom25. 8. 1930.
38„Die
geborgte Ideologie",
Vorwärts Nr.397vom26. 8. 1930.39R. Abramowitsch: Revolution und Konterrevolution in Rußland. Das neue
Kautsky-Buch
über Rußland,in: DG7(1930),2.Halbband,S.532-541, hier:S.536.
"Ebenda,S.536f.
41KarlKautsky:Sozialdemokratie undBolschewismus,in: DG8(1931), 1.Halbband,S.54-71, hier: S.56und S.61.
Terror in Rußland zu
protestieren,
bliebpraktisch
ohne Resonanz42. Die anhaltende Wirtschaftskrise und dergroße Erfolg
der NSDAP bei denReichstagswahlen
vom14.
September
1930 absorbierten die Aufmerksamkeit der deutschenSozialdemokratie fastvöllig.
Im November/Dezember fand in Moskau der
große Schauprozeß
gegen die soge-nannte
„Industriepartei"
statt.Angeklagt
war eineGruppe
vonachtIngenieuren,
dervorgeworfen wurde,
eineillegale
Parteigebildet
und in Zusammenarbeit mitehemali- gen russischenKapitalisten
und dem französischenMinisterpräsidenten
Poincaré dieInterventionder
kapitalistischen
StaatenvorbereitetundSabotage
indersowjetischen
Industrie betriebenzuhaben. IndersozialdemokratischenPressefand der Prozeß nicht allzuviel
Beachtung.
ErwurdealsSündenbock-ManöverimSinnedesSachty-Prozesses
behandelt43. Auchdie imAnschlußandiesen Prozeßin der
Sowjetunion
einsetzendeKampagne
gegen die internationale Sozialdemokratie wurde zunächst kaumregi-
striert44. Das änderte sich
jedoch schlagartig,
als bekanntwurde,
daß in Moskau einProzeßgegen ein sogenanntes
„Unionsbüro"
der Menschewiki vorbereitet wurde.Das
eigentümliche
andem Prozeßwar,daß die14Angeklagten
mit einerAusnahmegarkeine aktiven Sozialdemokratenwaren. Bei denmeistenvonihnen handelteessich
um führende Mitarbeiter
sowjetischer Wirtschaftsbehörden,
die früher einmal zurSDAPR
gehört,
dann aber mit ihrgebrochen hatten,
um sich als „Neutrale" in den Dienst des wirtschaftlichen Aufbaus derSowjetunion
zu stellen. Zu ihnengehörten
VladimirGroman,der in derStaatlichen
Planungskommission gearbeitet hatte, Vasillij
Ser vonder
Staatsbank,
der Direktor desMarx-Engels-Institutes
und Altbolschewik D. B.Rjazanov
und der Historiker N.Suchanov,
der sich während der Revolutionkurzzeitig
zu den Menschewikigerechnet
hatte. Sie alle hatten mit dem tatsächlich existierenden Büro des ZK der SDAPR nichts zu tun. Daseinzige Mitglied
diesesBüros, das
angeklagt
war, warIkov,
der erst 1928 aus derEmigration
nach Moskauzurückgekehrt
war. Im ZentrumderAnklage
stand aber nicht die tatsächlicheUnter-grundarbeit
derMenschewiki. Vielmehr wurden dieAngeklagten beschuldigt,
das be-sagte
„Unionsbüro"
imJahre
1928 ins Lebengerufen
zuhaben,
umsystematische Sabotage
zubetreiben,
dieausländische Interventionvorzubereiten undschließlich dieSowjetregierung
zu stürzen, an deren Stelle eine Koalition der Menschewiki mit der„Industriepartei"
und anderenGruppen
treten sollte.Angeleitet
wordenseien sie beiihrenVerbrechenvon der
Auslandsdelegation
der SDAPR,die wiederum mit Wissenund erheblicher finanzieller
Unterstützung
derSPDund derSAIgehandelt
habe. AlleAngeklagten
warengeständig45.
Die internationale Sozialdemokratie wies die
Anschuldigungen
mitNachdruck zu-42„Die Terrorwelle steigt. Protestaktion der russischen Sozialdemokratie", Vorwärts Nr.472
vom8. 10.1930.
43„Stalinbraucht
Entlastung",
Vorwärts Nr.551vom25. 11. 1930; „RamsinundGenossen be-gnadigt",
Vorwärts Nr.575 vom 9.12. 1930; „Der MoskauerPropaganda-Prozeß",
LVZNr.286vom9. 12. 1930.
44„DieLagein
Sowjetrußland",
SPK Nr.1,Januar1931.45Der sogenannte„Menschewiki"-Prozeßistmehrfach beschrieben worden:
Raphael
Abramo-witsch:DieSowjetrevolution.Hannover1963,S.346-350;Broido,Lenin and theMensheviks,
S.163-166;Conquest,TheGreatTerror,S.552f.;RoyA.Medwedew:DieWahrheitistunsere
Stärke.Frankfurta.M.1973,S.134f.und S.140-156;Simon Wolin: The„Menshevik"Trial of 1931,in:Haimson,TheMensheviks,S.394-402;Ziehr,
Schauprozeß,
S.176-190.rück. Emile
Vandervelde,
der Vorsitzende derSAI-Exekutive, erklärte,
sowohldieSAIalsganzesals auch die MenschewikiseienstetsgegendieIntervention in
Sowjetrußland aufgetreten46.
Der Vorwärtspublizierte
ausführlicheAuszüge
aus derAnklageschrift
unterder
dreispaltigen Schlagzeile „Lügenanklage
gegen die Menschewiki". Zum Be- weis brachte erzugleich
eineErklärung Raphael Abramowitsch',
in der dieser versi-cherte,
entgegendenBehauptungen
derAnklage
seierseit1920nicht mehrinRußlandgewesen.Inder
Darstellung
desAnklägers Krylenko
kam Abramowitscheine zentrale Rollezu.Erhabe sichim Sommer1928 inderSowjetunion aufgehalten
und dieGrün-dung
des„Unionsbüros"
veranlaßt47.Wie dies bei den
Schauprozessen
üblich war, wurde dieVerhandlung
gegen das„Unionsbüro"
voneinerausgedehnten Propaganda-Kampagne
in derSowjetunion beglei-
tet,die vondenkommunistischenParteienauchinandereLändergetragenwurden. Diesmal entwickelte sicheine
regelrechte Propagandaschlacht
zwischen den AkteureninMoskausamtihren
Anhängern
imAusland und der internationalen Sozialdemokratie.Diekommunistischen
Zeitungen
in Deutschlandgaben
dem Prozeß breiten Raum und identifizierten sich natürlich mit denBehauptungen
derAnklage.
Dabei standen fürsiedieVorwürfe,
dieim RahmendesProzessesgegendieSPD erhobenwurden,
imMittelpunkt
des Interesses. DieLeipziger Volkszeitung
zitierte ihr kommunistischesKonkurrenzorgan,
die SächsischeArbeiter-Zeitung,
mitSchlagzeilen
wie„Hilferding
führt die Interventionskasse" und„DieSPDfinanziert die menschewistischeKonterre- volution"48.Auch
Krylenkos Anklageschrift
wurdevonderKPDpubliziert.
HermannRemmele,
derspäter
selbst einOpfer
des Stalinismuswurde49,
schrieb das Vorwort dazu.Erbezeichnete führende Politiker der internationalen SozialdemokratiewieVan-dervelde,
OttoWels,
Fritz Adler undRudolph Hilferding
als dieeigentlichen Ange- klagten
desProzessesundbedauerte,
daßsiesich„leider
nochnichtphysisch
im Macht-bereich derrevolutionären Gerichtsbarkeit" befanden.
Eigens
wies erdaraufhin,
daßKrylenko Kautskys
Buch „Der Bolschewismus in derSackgasse"
denAnklageakten beigelegt
habe50. Diedeutschsprachige
MoskauerRundschau,
die normalerweise wö- chentlicherschien,
berichtetein fünfSonderausgaben,
die imAbstandvonein bis dreiTagen herauskamen,
ausführlich über den Verlauf desProzesses51.Während dieKommunisten
Krylenkos
Vorwürfewiederholten,
konterten die Sozial- demokratenmitneuenFakten. TheodorDanerläuterte,
daß dieAngeklagten,
soweit sieder russischen Sozialdemokratie
angehört hatten,
fast ausnahmslos schon vor einemJahrzehnt
ausderSDAPR ausgetreten seienund dies auch öffentlichkundgetan
hätten.Anders als bei früheren
Schauprozessen
führe diesmalnichtVysinski
denVorsitz,
weiler zur selbenZeit wie die meisten
Angeklagten
diemenschewistische Parteiverlassen habe52.„ProtestgegenSowjetmethoden",Vorwärts Nr.97vom27. 2. 1931.
„Lügenanklage
gegendieMenschewiki",Vorwärts Nr.98vom27. 2. 1931.„Die
Schändung
derRevolution",LVZ Nr.58vom10. 3. 1931.Conquest,Terror,S. 429.
DieSozialdemokratie auf der
Anklagebank.
Die Interventions- undSchädlingsarbeit
vordemMoskauer
Volksgericht. Hamburg
1931,S.3f.Moskauer RundschauNr.10(=
Sonderausgabe
I)bis Nr.15(=Sonderausgabe
V)vom2.bis12. 3. 1931.Fundort:Nl.
Kautsky,
H40.Theodor Dan:Moskau mordetdasRecht!in: Vorwärts Nr.99vom28. 2. 1931.
DerVorstand derSPD,von deminder
Anklageschrift behauptet wurde,
erhabe derAuslandsdelegation
derSDAPR480000 Rubel zukommenlassen,
wies dieseBehaup-
tungam28.Februar zurück. Insbesondere habemanniemals
irgendwelche Schädlings-
arbeit oder
Interventionsprojekte
finanziell unterstützt. DieBehauptungen,
die dierussische
Bruderpartei
diskreditierensollten,
seienunsinnige Lügen53.
Auseiner
Erklärung
dermenschewistischenAuslandsdelegation
vomselbenTag
warzu
ersehen,
daßsich die SPDihrgegenüber
sogarbesonderszugeknöpft gezeigt
hatte.Speziell
beidenEinnahmen derJahre
1929/30, diesich,
wieimmer,
ausSammlungen
unter
Gesinnungsgenossen
inEuropa
und denUSAundausSubventionenvonBruder-parteien
zusammensetzten, sei die SPD„nicht
mit einereinzigen
Mark vertreten"54.Eindrucksvoller als diese
Versicherungen
waraber,
daßRaphael
Abramowitsch der Nachweisgelang,
daß er zuderZeit,
alserlaut derAnklageschrift
inderSowjetunion
das Unionsbüros
organisierte,
sich in Wirklichkeit an einem Urlaubsort in Mecklen-burg
und anschließend beimdrittenKongreß
derSAI in Marseilleaufgehalten
hatte.Für den ersten Zeitraum konnte er zwei
Zeugen benennen,
für die Teilnahme amSAI-Kongreß
wardas nichterforderlich,
darüber hatte sogar diePravda berichtet.Da Abramowitsch'angebliche
RußlandreiseeinzentralesElement derAnklage
war,wurdeihre
Unmöglichkeit
in denMittelpunkt
der sozialdemokratischenAgitation gestellt.
Spöttisch fragte
Abramowitschangesichts
diesesplumpen Regiefehlers,
ob sich beimsowjetischen
Geheimdienst nicht vielleicht ein„menschewistischer Schädling" einge-
schlichenhabe55.DieSAI,dieim Mai eineBroschürezudem Moskauer Prozeß heraus-
brachte,
dievonderSPD in einerAuflage
von10000Stückvertriebenwurde,
setzteaufdas Titelblattein
Photo,
das Abramowitschim Kreise der Teilnehmer des SAI-Kon- gressesvonMarseillezeigte56.
Krylenko
ließseineProzeßstrategie
durch dieseStörmanöver nicht durcheinander-bringen.
ErerklärtedievonAbramowitschvorgebrachten
Faktenschlichtweg
fürnichtbeweiskräftig57.
Auch dieAngeklagten,
die man mit brutalenFolterungen
zu ihrenSelbstbezichtigungen bewegt hatte,
hieltenanihrenAussagen
fest58.ObwohlKrylenko
infünf Fällen die Todesstrafe
beantragt hatte,
wurden schließlich nurFreiheitsstrafenverhängt.
SiebenAngeklagte
mußten zehnJahre,
dieanderen sieben zwischen fünf und achtJahren verbüßen59.
Wie sehr derMenschewiki-Prozeß die in der SPD weitverbreitete
Auffassung
vonder
Zwillingsbruderschaft
von Faschismus und Kommunismusbestärkte, zeigte
ein-53„ParteivorstandgegenJustizmord.
Krylenkos Behauptungen
sindunsinnige Lügen",VorwärtsNr. 100vom28. 2. 1931.
54„Gegenden MoskauerJustizmord",Vorwärts Nr.101vom1.3. 1931.
55R. Abramowitsch: Meine Reise nach Moskau, in: Vorwärts Nr.113 vom 8.3. 1931; „Die
Schändung
derRevolution",LVZ Nr.58vom10. 3. 1931.56FritzAdler,
Raphael
Abramowitsch, LéonBlum,EmileVandervelde: DerMoskauer Prozeß und die Sozialistische Arbeiter-Internationale. Berlin1931.DieAngaben
zurAuflage
undzumErscheinungsmonat
in:SPD-Parteivorstand(Hrsg.):Jahrbuch
der Deutschen Sozialdemokratie für dasJahr1931.Berlin1932[Nachdr.
Berlinusw.1976],S.187.37 „DasUrteil",MoskauerRundschauNr. 14(=
Sonderausgabe
IV)vom11. 3. 1931.58Vgl.dazu dieAussage,die der
Angeklagte
MichailJakubowitsch
1967anden Generalstaatsan- walt derUdSSRsandte,in:Medwedew, Wahrheit,S.144-151.59„FünfTodesurteilebeantragt",Vorwärts Nr.112vom7. 3.1931;Ziehr,