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Die Waisenkinder der Medizin

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Als selten gilt eine Krankheit, wenn die Chancen, an ihr zu

erkranken, 1 : 2000 stehen. Trotzdem sind in allein in Deutschland etwa vier Millionen Menschen von einem solchen Leiden betroffen.

M

an nennt sie auch

„Orphan diseases“, also „Waisen-Krank- heiten” und sie sind eigentlich gar nicht so selten: Von den 30 000 bekannten Krankheiten ist jede sechste eine Orphan disease.

Das sind immerhin 6 000 medizini- sche Waisenkinder. Da die Zahl der Patienten gering ist, lohnt sich die Forschung für Pharmaunternehmen häufig wirtschaftlich nicht. Viele Be- troffene machen zudem meist eine Odyssee durch, bevor sie eine kor-

rekte Diagnose bekommen. Dann müssen sie verarbeiten, dass ihre Krankheit womöglich zum Tod oder erheblichen körperlichen und geisti- gen Einschränkungen führt. All das macht seltene Erkrankungen zu einer großen Belastung für die Patienten und ihre Angehörigen.

Lorenzos Öl – ein Fall wie aus dem Märchen Lorenzo Odone wird 1978 geboren. Mit sechs Jahren scheint er noch ein gesunder Junge zu sein, doch plötzlich stößt er sich immer häufiger an Möbelstücken, wird innerhalb kurzer Zeit taub und blind. Lorenzo hat ALD (Adreno- leukodystrophie), eine tödlich ver- laufende, genetisch bedingte, seltene Stoffwechselstörung, die fast nur bei Jungen und Männern auftritt. Ein Enzymdefekt bewirkt, dass das Mye- lin, welches das Nervengewebe wie eine Schutzschicht umgibt, nicht mehr produziert und sogar zersetzt wird. Die Ärzte geben Lorenzo noch zwei Jahre, doch das wollen seine El- tern nicht akzeptieren. Sie sind keine Mediziner, aber sie recherchieren, arbeiten mit Ärzten und Forschern zusammen, experimentieren. Schließ- lich entwickeln sie ein Öl mit einer bestimmten Mischung an Fettsäuren, das Lorenzos Krankheitsverlauf bremst. „Lorenzos Öl” wird paten- tiert und hilft bis heute Menschen mit ALD. Lorenzo lebt dank seiner

Die Waisenkinder der Medizin

PRAXIS SELTENE ERKRANKUNGEN

© rolffimages / www.fotolia.com

112 DIE PTA IN DER APOTHEKE | Mai 2012 | www.pta-aktuell.de

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engagierten Eltern 22 Jahre länger als prognostiziert. Er stirbt 2008 im Alter von 30 Jahren – an einer Lun- genentzündung.

Seine Geschichte zeigt, womit Be- troffene und ihre Angehörigen bei seltenen Krankheiten zu kämpfen haben: kaum Forschung, wenige Therapien und generell zu wenig Wissen. Viele haben sich deshalb in Selbsthilfegruppen organisiert, ein Dachverband (ACHSE – Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen) wurde 2004 gegründet.

Angelman-Syndrom Es wurde nach seinem Entdecker, dem briti- schen Kinderarzt Harry Angelman, benannt. Er selbst nannte es noch

„Happy puppet Syndrom“ (Syndrom des glücklichen Püppchens), weil die betroffenen Kinder häufig, oft unbe- gründet, lachen und ihre Bewegun- gen puppenhaft sind. Das Syndrom betrifft Mädchen und Jungen glei- chermaßen, wobei eines von 20 000 Kindern erkrankt. Ursache ist ein Defekt auf dem Chromosom 15. Dort sind bestimmte Gene entweder nur auf dem vom Vater oder der Mutter stammendem Chromosom aktiv (im- printing). Beim Angelman-Syndrom funktioniert der mütterliche Chro- mosomenabschnitt nicht, während der väterliche durch das imprinting

„stillgelegt” ist. Somit sind die in diesem Bereich liegenden Gene kom- plett inaktiv.

Als Folge sind die betroffenen Kinder mehrfach behindert. Je nach Schwere der Erkrankung sind sie auf den Roll- stuhl angewiesen, haben häufig Spas- men und schwere motorische Ein- schränkungen. Die geistige Entwick- lung ist stark gehemmt und geht meist nicht über das Stadium eines Kleinkindes hinaus. Bis zur Pubertät haben fast alle Angelman-Kinder epileptische Anfälle (90 Prozent). Die Krankheit ist nicht heilbar; man kann lediglich Folgeerkrankungen wie Epi- lepsie, Skoliose (Wirbelsäulenver- krümmung) und Schielen therapie- ren. Da Angelman-Kinder unter Hy- peraktivität und Schlafstörungen lei- den, haben sich tiergestützte The-

rapien vielfach als wirksam erwiesen.

Dies gilt besonders die Delfinthera- pie, denn die Kranken haben eine starke, unerklärliche Vorliebe für Wasser. Da die Lebenserwartung der Betroffenen nicht verkürzt ist, sie aber dauerhaft auf Hilfe angewiesen sind, müssen Eltern für die Pflege ihrer Kinder vorsorgen.

Prader-Willi-Syndrom Der Gen- defekt auf dem Chromosom 15 kann auch spiegelverkehrt vorkommen – als funktionsloser väterlicher Ab- schnitt. Dann heißt die Krankheit

„Prader-Willi-Syndrom”. Wie beim Angelman-Syndrom ist etwa eines von 20 000 Kindern betroffen, eben- falls Mädchen und Jungen gleich häufig. Prader-Willi-Kinder weisen schon als Säugling einen verminder- ten Muskeltonus auf, der sich zum Beispiel in einer Trinkschwäche äu- ßert. In schweren Fällen kann das Kind ohne Magensonde nicht über-

leben. Im dritten Lebensjahr zeigt sich dann das auffälligste Symptom:

Das Sättigungsgefühl fehlt völlig, so- dass die Kinder sprichwörtlich essen könnten, bis sie „platzen”. Durch Fol- geerkrankungen wie Adipositas oder Diabetes ist daher meist auch die Lebenserwartung der Betroffenen verringert. Die Bandbreite der Ent- wicklungsstörungen ist groß, jedoch sind die Beeinträchtigungen meist nicht ganz so stark wie bei Kindern mit dem Angelman-Syndrom.

Keine Heilung, kaum Hoffnung Seltene Krankheiten können in manchen Fällen durch schädliche Umweltfaktoren, Mangelernährung, Viren oder Autoimmunerkrankun-

gen ausgelöst werden. Die meisten werden jedoch durch einen Gende- fekt verursacht (80 Prozent) und haben teilweise schreckliche Auswir- kungen. Bei der Glasknochen- krankheit(Osteogenesis imperfecta) brechen die Knochen extrem leicht.

Die meisten Betroffenen sind bereits in der Pubertät auf den Rollstuhl an- gewiesen, denn das Skelett hat sich durch die vielen Brüche so verformt, dass ein normaler Bewegungsablauf nicht mehr möglich ist. Die FOP (Fi- brodysplasia ossificans progres- siva) verwandelt Bindegewebe, Seh- nen und Muskeln in Knochen – die Betroffenen versteinern quasi bei lebendigem Leibe. Das Hereditäre Angioödem(HAE) äußert sich in immer wiederkehrenden, extrem starken Schwellungen. Sind hiervon die Atemwege betroffen, können die Patienten ersticken. Jeder dritte HAE-Patient hat einen solchen An- fall mindestens einmal im Leben.

Beim Persistent Sexual Arousal Syndrom(PSAS) sind die Erkrank- ten ständig sexuell erregt und haben schon bei geringster Stimulation Orgasmen. Das Fischgeruch-Syn- drom (Trimethylaminurie), eine Stoffwechselstörung, bewirkt einen extrem starken Körpergeruch nach fauligem Fisch. PSAS und Fischge- ruch-Syndrom mögen eine tragi- komische Komponente haben, je- doch machen auch diese Orphan dis- eases den Betroffenen das Leben zur Hölle. Heilung gibt es nicht, sie müssen ihr Leben lang damit zu- rechtkommen.

p

Dr. Holger Stumpf, Medizinjournalist

DIE PTA IN DER APOTHEKE | Mai 2012 | www.pta-aktuell.de 113

»Die meisten seltenen Erkrankungen

werden durch Gendefekte verursacht.«

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