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Archiv "Die ärztliche Führung des geistig Behinderten in Pubertät und Adoleszenz" (28.02.1980)

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Die ärztliche Führung des geistig Behinderten

in Pubertät und Adoleszenz

Roland Schleiffer*)

Aus der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie

(Leiter: Professor Dr. Hubert Harbauer) am Zentrum der Psychiatrie der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main

Es besteht kein Zweifel, daß bei gei- stig Behinderten psychische Störun- gen häufiger anzutreffen sind als bei Normalbegabten. Dies gilt für Kinder und Erwachsene gleichermaßen.

Dabei korreliert das Ausmaß der emotionalen Störung offensichtlich mit dem Grad der intellektuellen Be- hinderung.

Die psychologische und psychiatri- sche Forschung hat bisher relativ einseitig das Faktum der Intelligenz- minderung betont und die Persön- lichkeit des geistig Behinderten ver- nachlässigt. Kognitive und emotio- nale Faktoren sind jedoch von An- fang an aufeinander bezogen und beeinflussen die Entwicklung sozial angepaßten Verhaltens. Überdies beeinträchtigen emotionale Störu n- gen die schon reduzierte kognitive Leistungsfähigkeit eines geistig Be- hinderten zusätzlich.

Psychische Störungen geistig Be- hinderter in der Pubertät bezie- hungsweise Adoleszenz stellen den Berater vor besondere Probleme. Ist die Stabilität psychiatrischer Dia- gnosen in dieser Altersstufe über- haupt schon gering (1 ), so sind die diagnostischen Probleme bei geistig Behinderten aufgrund der einge- schränkten Kommunikationsmög- lichkeiten noch größer.

Hier kann sich die Erweiterung der Perspektive auf die Eitern bezie- hungsweise die Familie, wie wir sie aus der Kinderpsychotherapie ken- nen, als hilfreich erweisen.

Versteht man unter Pubertät die Ge- samtheit der physiologischen Rei- fungsvorgänge und unter Adoles- zenz die Anpassung der Persönlich- keit des Kindes an die Pubertät, dann wird man eine gewisse soma- tc-psychische Diskordanz als nor- mal anzusehen haben. Traditionell werden drei Aspekte dieser biologi- schen und psychischen Entwicklung hervorgehoben,

..,.. die Entwicklung zur sexuellen Reife mit der Etablierung einer stabi- len Geschlechtsidentität,

..,.. die Entwicklung der Ich-Identität sowie

..,.. das Hineinwachsen in die Gesell- schaft, was in unserer Kultur für den Adoleszenten regelhaft Autoritäts- konflikte mit der Familie impliziert.

Entwicklung zur sexuellen Reife Die körperliche Reifung geistig Be- hinderter verläuft im Vergleich zu der normalbegabter Jugendlicher fast zeitgleich, in Einzelfällen sogar beschleunigt im Gegensatz zur psy- chesexuellen Entwicklung. Diese steht in zweifacher Hinsicht unter dem Einfluß psychosozialer und so- ziokultureller Einflüsse. Zum einen vermitteln diese zwischen den kör- perlich-physiologischen Verände- rungen und den sexuellen Empfin- dungen, zum anderen beeinflussen sie das sexuelle Verhalten. Letzteres kann sich als ein eher psychophysio-

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ÜBERSICHTSAUFSATZ

Noch immer ist der Arzt der am häufigsten von den Eitern geistig behinderter . Kindei und Jugendlicher in Anspruch genommene Berater. Will er den sich daraus ergehenden Anforderungen gerecht wer- den, ist über seine Kompe- tenz in somatischer Hinsicht hinaus eine Sensibilisierung für die psychodynamischen Aspekte der geistigen Behin- derung nötig. Psychische Pro- bleme sind gerade in Pubertät und Adoleszenz in besonde- rem Maße zu erwarten. Da sie zumeist die gesamte Familie tangieren, ist es unerläßlich, die ganze Familie in die not- wendigen Überlegungen ein- zubeziehen.

logischer Vollzug oder als ein auf einen Partner ausgerichtetes psy- cheaffektives Handeln äußern.

Wohl im Zuge einer "Enttabuisie- rung" des Themas "Sexualität"

überhaupt wurde das Sexualverhal- ten geistig Behinderter auch Objekt wissenschaftlicher· Forschung. Auch wenn es sich inzwischen herumge- sprochen hat, daß es sich bei geistig Behinderten nicht um potentielle Sexualverbrecher handelt, sondern eher um Persönlichkeiten mit ver- minderter, dabei aber gelegentlich ungesteuerter sexueller Appetenz, wird man in dieser Gesellschaft doch noch mit einem ausgeprägten Tabu hinsichtlich der Sexualität ge- rade schwer behinderter Menschen rechnen müssen. Die psychosexuel- le Entwicklung wird schon dadurch mit zeitlicher Verzögerung verlaufen müssen. Auch brauchen geistig be- hinderte Menschen mehr Zeit, um zu einer klaren sexuellen Identität mit einem eindeutigen sexuellen Rollen- verhalten zu kommen (2).

Wie können nun die vermittelnden psychosozialen Einflüsse ausse- hen? Oft beQinnen die Schwierigkei-

') Herrn Professor Dr. Hubert Harbauer zum 60. Geburtstag gewidmet.

DEUTSCHES ARZTEBLATT

Heft 9 vom 28. Februar 1980 531

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Geistig Behinderte

ten damit, daß die Eltern nicht wa- gen, ihr behindertes Kind aufzuklä- ren, sie überlassen das den Institu- tionen. Eltern, die in Behinderten le- diglich Minderwertige erblicken, werden versuchen, das Thema Auf- klärung überhaupt auszusparen in der Hoffnung, die gefürchtete Ent- wicklung ihres Kindes zur sexuellen Delinquenz zu verhindern. Ebenso werden Eltern, die in ihren heran- wachsenden Kindern „ewig Un- schuldige" sehen wollen, deren Se- xualität zu tabuisieren versuchen.

Hinzu kommt, geistig behinderte Ju- gendliche haben nur geringe Aus- sichten, Anschluß an eine , soge- nannte peer-group zu finden. Gera- de diese Gruppen von Gleichaltrigen spielen aber eine große Rolle im Prozeß der Verselbständigung und der Ablösung des Jugendlichen von seiner Familie. Ein Kontakt zu Gleichaltrigen scheint am ehesten noch in einer Institution möglich zu sein. Hier wirkt störend, daß in vielen Heimen und Anstalten die Sexualität der Anvertrauten einfach nicht zur Kenntnis genommen wird. Sexuelle Bedürfnisse können daher oft nur unter menschenunwürdigen Um- ständen „befriedigt" werden, zumal, wenn an einer Geschlechtertren- nung festgehalten wird.

Wächst das behinderte Kind zu Hau- se auf, wird es in der Pubertät die Erfahrung machen, von den Spielge- fährten der Kindheit ausgeschlossen zu werden. Isoliert von einer peer- group kann ein geistig behinderter Jugendlicher sein sexuelles Verhal- ten nicht im sozialen Umfeld ein- üben. Ohne die notwendige Rück- meldung wird sein sexuelles Verhal- ten grob und unbeholfen ausfallen.

Er läuft Gefahr, sich lächerlich zu machen, womit ein Teufelskreis in Gang kommt. Aufgrund der Isolation droht das sexuelle Verhalten auf psychophysiologische Vollzüge re- duziert zu werden. Exzessive Onanie oder sexuelle Verwahrlosung kann die Folge sein.

Geistig Behinderte können ihre se- xuellen Erlebnisse oft nur schwer in ihr gesamtes seelisches Erleben in- tegrieren und neigen dazu, sie abzu-

spalten. Das kann dann zu Panikre-.

aktionen führen, aus denen nur mit Mühe herauszufinden ist. Erst später wird der Arzt die erotisch bedeutsa- me Situation als Auslöser einer sol- chen Primitivreaktion explorieren können.

Entwicklung der Ich-Identität Ausgelöst durch die körperlichen Veränderungen in der Pubertät be- ginnt der Jugendliche, sich verstärkt seinem Körper zuzuwenden. Um sich die Frage nach dem Selbst- und Fremdbild zu beantworten, versucht er auch seine kognitiven Leistungen zu vergleichen und einzuschätzen.

Da beide Fragenkomplexe vielfach vermittelt sind, läuft der geistig Be- hinderte schon aufgrund der Isolie- rung die Gefahr, zu einer unrealisti- schen, situationsunangemessenen Einschätzung zu kommen. Einer- seits mag er seine Behinderung ver- leugnen. Bisweilen drohen die Wunscherfüllungsphantasien die Realitätskontrolle zu überfordern, so daß es zu einer psychosenahen Entgleisung kommen kann. Wird an- dererseits das Selbstwertgefühl zu stark erschüttert, kommt es zu De- pressionen und suizidalem Verhal- ten als Ausdruck der narzißtischen Krise.

Häufig ist zu beobachten, daß der geistig Behinderte zusammen mit seinen Eltern und sogar gemeinsam mit dem Arzt die Verleugnungsan- strengungen teilt. Strategien, die sich in der Kindheit als geeignet er- wiesen, das Stigma der Behinde- rung zu verheimlichen, werden in der Pubertät oft schon aufgrund des körperlichen Wachstums unbrauch- bar. Zudem bemerken viele Men- schen kognitive Defizite bei Kindern weit weniger als bei Jugendlichen oder Erwachsenen. Dem „Stigma- Management" (3) dient auch eine übertriebene Förderung gewisser Einzelbegabungen, wie sie bei Hirn- geschädigten des öfteren anzutref- fen sind. Diese Spezialisierung soll eine Normalität vortäuschen. Die Förderung der anderen Fähigkeiten und Fertigkeiten wird dann notwen- dig zu kurz kommen.

Die Erkenntnis, in intelektueller Hin- sicht behindert zu sein, setzt das Selbstwertregulationssystem vor ei- ne harte Belastungsprobe. Zur Be- wältigung wird der geistig behinder- te Jugendliche in besonderem Maße auf die Mithilfe seiner Umwelt, in erster Linie seiner Eltern, angewie- sen sein. Zu einer solchen Hilfe sind Eltern jedoch dann nicht in der La- ge, wenn sie sich mit der Behinde- rung ihres Kindes nicht abgefunden haben. Von ihnen alleine gelassen, kann der Jugendliche mit einem trotzigen Negativismus auf die von ihm empfundene Kränkung reagie- ren und sich allen Leistungsanforde- rungen verweigern in der Hoffnung, die anderen davon zu überzeugen, daß er ja nur nicht wolle, alles aber durchaus könne. In diesem Mecha- nismus liegt oft der Grund für die unterschiedlichen Entwicklungen, die Kinder mit einem gleichen IQ durchmachen. Diese Verweige- rungshaltung muß erst psychothera- peutisch aufgearbeitet werden, da- mit man in einem zweiten Schritt die vorhandenen kognitiven Fähigkei- ten fördern kann. Narzißtische Wut dürfte auch für das autoaggressive Verhalten geistig behinderter Ju- gendlicher verantwortlich sein. Die- se Verhaltensstörungen sind thera- peutisch schwer anzugehen und tendieren dazu, sich als Reaktions- muster auch auf nur gering frustrie- rende Situationen auszuweiten. Aus dem Schmerz und dem Gefühl der Ohnmacht auf seiten der Eltern und der Betreuer läßt sich wohl nur an- nähernd ermessen, was sich hier in dem Behinderten abspielen mag.

Hineinwachsen in die Gesellschaft Für den normalbegabten Adoleszen- ten verbindet sich das Hineinwach- sen in die Gesellschaft mit einer schrittweisen Loslösung von familiä- ren Bindungen. Für geistig Behin- derte mäßigen oder schweren Gra- des ist eine soziale, in erster Linie ökonomische Unabhängigkeit vom Elternhaus in aller Regel das ganze Leben lang nicht erreichbar. Oft tritt in der Pubertät an die Stelle des El- ternhauses eine Institution. Kaum je- mals wird jedoch eine solche Ablö-

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Heft 9 vom 28. Februar 1980 533

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Zur Fortbildung Aktuelle Medizin

Geistig Behinderte

sang der psychischen

Wirklichkeit

des Behinderten gerecht. Sie erfolgt für ihn zumeist abrupt und unver- ständlich und trifft ihn unvorberei- tet. Diese Trennung — „weil es zu Hause nicht mehr geht" — gewinnt an Schärfe, weiß man um die beson- dere Qualität, welche die Beziehun- gen zwischen dem Behinderten und seinen Eltern und insbesondere sei- ner Mutter auszeichnet.

Die französische Psychoanalytikerin Mannoni (4) hat die Beziehung zwi- schen dem geistig zurückgebliebe- nen Kind und seiner Mutter als be- sonders enge, symbiotische Bezie- hung beschrieben, aus der Dritte, zumeist der Vater, genauso aber auch der Arzt, ausgeschlossen blei- ben. Sie scheint auf einer phantas- matischen Ebene begründet.

Macht man sich die Mühe, etwas von der Bedeutung der Behinderung des Kindes gerade für seine Mutter zu erfahren, wird man regelmäßig auf die enorme narzißtische Kränkung stoßen, die die Geburt eines solchen Kindes mit sich bringt.

Schuldgefühle ranken sich um tat- sächliches oder nur vermeintliches Fehlverhalten während der Schwan- gerschaft und erfahren eine immen- se Verstärkung aufgrund der unver- meidlichen ambivalenten und damit auch feindseligen Gefühle diesem Kind gegenüber.

Manche Mütter phantasieren sich in einer Art Überkompensation dieser Ambivalenz in eine unrealistische Retter-Rolle und sind dann auch den vernünftigsten Ratschlägen nicht mehr zugänglich. Man gewinnt den Eindruck, daß solche Mütter gerade auf eine um Verständnis bemühte Haltung seitens des Arztes oder ei- nes anderen Helfers mit Angst rea- gieren. Das betreffende Kind wird über Jahre von seiner Mutter partiell von der Wirklichkeit abgeschirmt und lernt nicht, mit den notwendi- gen enttäuschenden Erfahrungen fertig zu werden. Ist eine Unterbrin- gung trotz allem unvermeidbar, wird die Trennung von dem Behinderten und von der Mutter wie ein Zerreißen des eigenen Selbst erlebt.

Für andere Eltern wird die Pubertät und Adoleszenz ihres behinderten Kindes zur desillusionierenden Er- fahrung, sich niemals von ihrem

Kind lösen zu können, weil es, auf fremde Hilfe zeitlebens angewiesen, immer ein Kind bleiben wird, und zwar ein Kind, das seinen Eltern von Anfang an weit eher Objekt der Sor- ge und Aufmerksamkeit denn Quelle narzißtischer Befriedigung gewesen ist.

Aufgaben des Arztes

Lange Zeit war das ärztliche Han- deln auf dem Gebiet der geistigen Behinderung durch Resignation ge- prägt. Dieses Gefühl kam aus der Überzeugung, daß eine kausale The- rapie bei einer hirnorganischen Schädigung, wie sie zumindest schweren intellektuellen Behinde- rungen als zugrundeliegend ge- dacht werden muß, nicht möglich sei. Insbesondere glaubte man vom psychotherapeutischen Zugang nicht viel erwarten zu können, da eine somatische Ätiologie eine psy- chodynamische Betrachtungsweise ausschlösse.

In dieser Meinung mochte man sich bestärkt fühlen durch die auf Freud zurückgehende Auffassung, die Möglichkeit einer erfolgreichen Psy- chotherapie sei an das Vorhanden- sein von Ich-Stärke geknüpft, wohin- gegen der geistig Behinderte doch gerade durch seine Ich-Schwäche charakterisiert ist.

Es ist das Verdienst Mannonis, auf die Möglichkeit erfolgreicher psy- choanalytischer Therapie auch bei intellektuell Behinderten aufmerk- sam gemacht zu haben; sie erweitert die Perspektive insbesondere auf die Mutter-Kind-Dyade und bezieht regelmäßig die Mütter in die Be- handlung mit ein. Dieses Verfahren ist aus der Kinderpsychotherapie schon des längeren bekannt und hat sich bewährt.

Es kann hier sicherlich nicht darum gehen, einem psychoanalytisch-psy- chotherapeutischen Zugang als der Methode der Wahl bei geistiger Be-

hinderung das Wort zu reden,

zumal diese Therapieform sehr zeitintensiv ist und große psychotherapeutische Erfahrung voraussetzt; überdies feh- len deutschsprachige Erfahrungsbe- richte fast gänzlich. Zu fordern ist jedoch Sensibilität für psychodyna- mische Vorgänge, die aufgrund der leib-seelischen Verschränkung, der auch geistig Behinderte unterliegen, deren psychische Befindlichkeit all- zuoft stark beeinträchtigen und nicht selten die kognitiven Kapazitä- ten noch weiter einschränken. Eine Erweiterung der Perspektive auf die Angehörigen bietet sich auch des- wegen an, weil in der Regel die gan- ze Familie in irgendeiner Form be- troffen ist.

Der Arzt wird als Therapeut oder als Berater oft die Erfahrung machen, daß es die Angehörigen eines geistig behinderten Kindes bis dahin nicht gewagt haben, ihr.Kind über die Art und das Ausmaß seiner Behinde- rung in verständlicher Form aufzu- klären. Die familienbezogene Thera- pie oder Beratung bietet die Chance, die zugrundeliegenden Ängste zu bearbeiten und die notwendige Auf- klärung vor allem im Interesse des Behinderten nachzuholen. Das Be- dürfnis, das behinderte Kind „scho- nen" zu wollen, ist zuallererst Aus- druck von Verleugnungstendenzen..

Allzuleicht ist auch der Arzt in diese Tendenzen einbezogen, zumal dann, wenn er sich nicht über seine eigene Verleugnungsbereitschaft im klaren ist. Im gemeinsamen Ge- spräch kann er der Familie beispiel- haft zeigen, daß es durchaus mög- lich ist, den geistig Behinderten an- gemessen, das heißt ohne Angst in ihm auszulösen, über sein Handikap und über seine realistischen Mög- lichkeiten aufzuklären.

Der Gefahr, Eltern und insbesondere die Mutter „zu Patienten zu ma- chen", kann der Berater entgehen, wenn er sich vergewissert, daß seine Klientel weiß, was er mit ihr vorhat.

Verstehen die Eltern die Bemühun- gen des Arztes nicht, werden sie, wieder einmal enttäuscht, den Kon- takt abbrechen, weil sie in seinem Handeln den Vorwurf sehen, daß sie an der Behinderung ihres Kindes

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Heft 9 vom 28. Februar 1980 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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Zur Fortbildung Aktuelle Medizin

Mit diesem Übersichtsaufsatz bin ich nicht ganz einverstanden.

Es handelt sich um ein rheumatolo- gisches Thema, und ich bin der Mei- nung, daß man zur Abfassung einer Übersicht mit solcher Breitenwir- kung rheumatologische Beratung hätte hinzuziehen sollen.

() Bei der chronischen Polyarthritis sollte vermerkt sein — wenn dies auch selbstverständlich erscheinen könnte —, daß es mit der antiphlogi- stischen Therapie allein nicht getan ist, sondern daß diese Krankheit vor- dringlich sogenannter basisthera- peutischer Medikamente bedarf. Es könnte also didaktisch ein falscher Eindruck entstehen.

Q Die Phenylbutazongruppe ist un- ter den nichtsteroidalen Antiphlogi- stica die mit der höchsten Nebenwir- kungsquote. Phenylbutazonhaltige Präparate werden deshalb in der deutschen Rheumatologie immer weniger empfohlen und sind aus dem Repertoire unserer Rheumakli- nik längst verschwunden.

• Insbesondere bei der Gicht-Ar- thritis (gemeint ist wohl der akute Gichtanfall) ist Indometazin (und zwar Amuno-Zäpfchen zu 100 Milli- gramm jede achte Stunde in den er- sten zwei Tagen) dem Phenylbuta- zon vorzuziehen, da Phenylbutazon die Plasmauratbindung stört, urikos- urisch wirkt und dadurch den Gicht- anfall verstärken und Harnsäurestei- ne provozieren kann. Umgekehrt wirkt Azetylsalizylsäure in der übli- chen, mäßigen Dosierung (um 2 Gramm täglich) harnsäureretinie-

rend, so daß deren Vermerk in der Tabelle 1 ebenfalls unzweckmäßig erscheint.

• Indometazin kann im Jugend- und Kindesalter nicht mehr als kon- traindiziert gelten. Die Kinder-Rheu- matologen der Rheumakinderklinik Garmisch-Partenkirchen haben dies schon seit Jahren bewiesen.

O Die Herkunft der Schwindeler- scheinungen und Kopfschmerzen unter Indometazin ist noch unge- klärt (auch Prostaglandinsyntheta- sehemmung?). Man sollte sie aber nicht als zentralnervöse Störung be- zeichnen, da man mit diesem Aus- druck die Vorstellung neurologi- scher Ausfallserscheinungen verbin- det, welche von Indometazin eben nicht zu befürchten sind. Die da- durch bedingte Abschreckung vor diesem so wertvollen Medikament ist unzweckmäßig, zumal der ver- dämmernde Effekt gerade für die nächtliche Anwendung gefahrlos genützt werden kann.

() Beim Fibrositis-Syndrom (ein ob- soleter Ausdruck) sind Glucocorti- coide (jedenfalls in systemischer An- wendung) streng kontraindiziert!

(9

Was heißt Radikulitis? (Es steht unter dem Fibrositis-Syndrom.) Ge- meint ist wohl das radikuläre Wur- zel-Reiz- beziehungsweise Kom- pressionssyndrom. Die Radikulitis ist keine Fibrositis, sondern ein neu- rologisches Krankheitsbild.

(;) Die Warnung vor dem Einsatz von Cortison-Präparaten und deren Gefahren sollte in einer solchen

Geistig Behinderte

„schuld” seien. Allerdings ist die Be- reitwilligkeit mancher Eltern, sich trotzdem einer solchen Therapie zu unterziehen, nur allzuoft Ausdruck eines ihnen unbewußten Strafbe- dürfnisses und weniger von Ein- sicht.

Eltern eines geistig Behinderten er- warten von ihrem Arzt zurecht den Rat eines Fachmannes. Es kann da- her nicht angehen, daß dieser sich auf die Rolle eines abstinenten The- rapeuten oder Beraters zurückzieht.

Die solide somatisch fundierte Auf- klärung schafft häufig überhaupt erst das Vertrauen, das die Eltern dem Arzt entgegenbringen müssen.

Als Berater sollte sich der Arzt als Mitglied eines therapeutischen oder heilpädagogischen Teams verste- hen (5).

Bei Ratschlägen hat er darauf zu achten, daß die Verantwortung für das Handeln stets bei den Eltern ver- bleibt. Andernfalls läuft er Gefahr, wieder in die gemeinsame Verleug- nungsarbeit eingespannt zu werden.

Negative Konsequenzen werden dann ihm zugeschrieben. Die Schuldgefühle der Eltern werden nicht abgebaut, sondern in gefährli- cher Weise lediglich auf ihn proji- ziert.

Literatur

(1) Remschmidt, H.: Neuere Ergebnisse zur Psychologie und Psychiatrie der Adoleszenz.

Zschr. Kinder-Jugendpsychiat. 3 (1975) 67-101

— (2) Morgenstern, M.: Die psychosexuelle Ent- wicklung des Behinderten; in: De la Cruz, F. F., La Veck, G. D.: Geistig Retardierte und ihre Sexualität, Reinhardt, München/Basel, 1975

—(3) Goffman, E.: Stigma— Suhrkamp, Frank- furt/M.. 1967 — (4) Mannoni, M.: Das zurückge- bliebene Kind und seine Mutter, Walter, Olten/

Freiburg, 1972 — (5) Spreen, 0.: Geistige Behin- derung, Springer, Berlin/Heidelberg/New York, 1978

Anschrift des Verfassers:

Dr. med. Roland Schleiffer Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie

am Zentrum der Psychiatrie der Johann Wolfgang

Goethe-Universität Frankfurt am Main Deutschordenstraße 50 6000 Frankfurt am Main 71

AUSSPRACHE

Therapie

mit nichtsteroidalen Antiphlogistica

Indikationen, Nebenwirkungen und Therapiekosten

Zu dem Beitrag von Professor Dr. med. Rudolf Gross und Dr. med. Volker Schulz in Heft 44/1979, Seite 2895 ff.

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft

9 vorn 28. Februar 1980 535

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