P O L I T I K
Deutsches ÄrzteblattJg. 100Heft 365. September 2003 AA2271
E
ine Solidargemeinschaft ist eine Gemeinschaft, in der die Mitglie- der bei den großen Lebensrisiken wie Krankheit und soziale Not fürein- ander einstehen. Solidarität heißt: Hilfe der Stärkeren für die Schwächeren, die nicht die Kraft oder Möglichkeit zur Selbsthilfe haben. Solidarität hieß aber nie, sparsam zu sein und Verzicht zu lei- sten, um Ansprüche derer zu befriedi- gen, die sich selbst helfen können. Un- ter dem Deckmantel der staatlichen Fürsorge und der so genannten Solida- rität hat sich in der Gesetzlichen Kran- kenversicherung (GKV) eine Ent- mündigung der Men-schen zu Sozialunter- tanen entwickelt. Die Synthese von obrig- keitsstaatlichem und feudalherrschaftli- chem Zuteilungsden- ken der Kaiserzeit und sozialistisch-planwirt- schaflichem Gleich- heits- und Betreu-
ungsdenken hat den Solidargedanken innerhalb der Versichertengemein- schaft weitgehend zum Erliegen ge- bracht und das Berufsbild des nieder- gelassenen Arztes verformt.
Die Übertragung der so genannten Solidarität, die den Vorrang vor Eigen- verantwortung und Subsidiarität hat, auf ein gesamtstaatliches Kollektiv ist geeignet, das moralische Verpflich- tungsgefühl des Einzelnen zu perver- tieren. So wurde das anonyme Sachlei- stungssystem zum Schrittmacher der Entsolidarisierung. Es entstand eine typische Verteilung von unten nach oben, weil die Ansprüche von Wohlha- benden mit hohem Gesamteinkom- men massiv aus dem Solidarbeitrag der Kleinverdiener subventioniert werden. Man steht in diesem System nicht mehr füreinander ein, sondern wird verleitet, aus der gemeinsamen Kasse so viel wie möglich herauszuho- len. Es entstand eine Versorgungsmen- talität und eine „Gemeinschaft der Nutznießer“.
Die derzeitige Krankenversiche- rung kann auf Dauer nicht finanzier-
bar sein, weil sie unsolidarisch finan- ziert wird und unsolidarisch in An- spruch genommen werden kann. Sie ist unsozial, weil sie die Betroffenen kor- rumpiert und entsolidarisiert. In die- sem System staatlicher Bevormun- dung fehlt jegliche freiheitliche Per- spektive der Selbstverantwortung, des wirtschaftlichen Eigeninteresses und der individuelle Anreiz für sinnvolles und notwendiges Sparen. Es gibt keine kollektive Vernunft und keine kollek- tive Verantwortungsfähigkeit; daher gibt es auch kein kollektives Sparver- halten zugunsten anderer.
Das Fortschreiben dieser ordnungs- politischen Fehlentwicklung ist ethisch und ökonomisch nicht zu verantwor- ten. Eine Reform muss mit systemver- ändernden Lösungen den aktuellen gesellschaftspolitischen Notwendig- keiten Rechnung tragen. Sie muss die ideologisch begründeten Trennlinien zwischen berechtigten Ansprüchen an den Sozialstaat und der Verantwor- tung des Einzelnen für sich und das Gemeinwohl sowie zwischen gesamt- gesellschaftlichen, zum Beispiel famili- enpolitischen Aufgaben, und den ori- ginären Aufgaben einer Krankenkasse deutlich verschieben, weil sonst die staatliche Interventionsspirale sehr schnell zu einer reinen Staatsmedizin führen muss.
Ziel einer Reform muss sein, den Missbrauch der Versicherung als kol- lektiven und weitgehend anonymen Selbstbedienungsladen unmöglich zu machen. Es gilt, dem Bürger mehr Selbstverantwortungs- und Entschei- dungsfähigkeit für sein eigenes Wohl zuzugestehen und mehr Selbstverant- wortung zuzuordnen. Jeder Bürger in
einer Demokratie trägt mit dem Wahl- recht politische Verantwortung für al- le. Ihm kann auch Verantwortung für sich selbst zugemutet werden. Und die Ärzteschaft muss aus der Rolle von Erfüllungsgehilfen der staatlichen Bürokratie befreit werden. Ohne stär- kere Beteiligung wohlhabender Perso- nenkreise und hoher Einkommen an den Gesundheitskosten, ohne den Verzicht auf lieb gewonnene An- sprüche ist eine Sanierung der GKV nicht durchführbar.
Alle echten marktwirtschaftlichen Liberalisierungsvorschläge für die Kran- kenversicherung sind keine Kampfansage an das Solidaritäts- prinzip, sondern an die politischen Be- harrungkräfte der Be- sitzstandswahrer. Sie sind eine Kampfansa- ge an die verborgene Zweiklassenmedizin, die längst innerhalb der Versichertengemeinschaft besteht.
Sie stellen keinen Sozialabbau oder gar ein Ende des Sozialstaates dar, son- dern einen Abbau von gesetzlich be- günstigten parasitären Ausbeutungs- möglichkeiten, mit denen sich alle Be- teiligten Bedürfnisse und Bedarf auf Kosten anderer schaffen können. Die systemimmanente soziale Ungerech- tigkeit bestraft die gesundheitsbewuss- ten, sparsamen und verantwortungs- vollen Versicherten, begünstigt die wohlhabenden und benachteiligt die sozial Schwachen.
Bei der Reformdebatte darf das Gesundheitswesen nicht einer ideolo- gisch bestimmten „Durchökonomisie- rung“ unterworfen werden, sondern muss vor allem unter Gesichtspunk- ten der Lebensqualität des einzel- nen Menschen mit seinen persönlichen Befindlichkeiten und individuellen Bedürfnissen betrachtet werden. Es geht primär nicht um Organisations- schwierigkeiten oder Ökonomie, son- dern um die Substanz eines besonde- ren menschlichen Beziehungsverhält- nisses. Dr. med. Hans-Joachim Ballstaedt