DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
KURZMITTEILUNG
Veranlaßt durch den Reaktorunfall bei Kiew ist es zu Panikkäufen von Jodtabletten gekommen. Institu- tionen des Gesundheitswesens und Regierungsstellen haben da- vor gewarnt, Jodtabletten in Ex- tremdosierungen zur Abwendung von Strahlenschäden einzuneh- men, da die Belastung der Bevöl- kerung in der Bundesrepublik mit Jod 131 so niedrig liegt, daß eine Blockierung der Schilddrüse durch massive Joddosen völlig un- nötig ist. Hingegen könnten bei Pa- tienten mit Hyperthyreose-Risiko Extremgaben von Jod Hyperthy- reose-Krisen auslösen. Der Anteil der dadurch Gefährdeten liegt al- lerdings nur bei maximal 1:1000.
Leider wurde nicht beachtet, daß zwischen hochdosierten Jod-Prä- paraten und der Jodapplikation in physiologischer Dosierung ein- deutig differenziert werden muß.
Die Jodmengen unterscheiden sich um den Faktor 1000. Die War- nung vor Jod schlechthin gefähr- det folglich die Jod-Prophylaxe der Bevölkerung, die zur Verhü- tung von Kropf- und Folgeerkran- kungen unentbehrlich ist.
Die Bundesrepublik Deutschland zählt (mit unterschiedlichen geo- graphischen Ausprägungen) nach WHO-Definition zu den endemi- schen Strumagebieten. Der aus- schlaggebende Faktor ist die un- zureichende Jodversorgung der Bevölkerung, die zu einer durch- schnittlichen Kropfrate von 15 Prozent führt, wobei Schulkinder eine Prävalenz aufweisen, die bis zu 40 Prozent reicht. Sogar bei Neugeborenen wird in etwa einem Prozent der Fälle ein Kropf beob-
achtet, der zu Reifestörungen im mentalen Bereich und bei der kör- perlichen Entwicklung führt.
Die Deutsche Gesellschaft für En- dokrinologie (Sektion Schilddrü- se), die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (Ernährungsbericht 1980 und 1984) und nicht zuletzt der Arbeitskreis Jodmangel emp- fehlen, die Aufnahme des essen- tiellen Spurenelementes Jod zu er- höhen. Da der Jodgehalt von Le- bensmitteln aufgrund der relativen Jodarmut des Bodens zur Bedarfs- deckung nicht ausreicht, wurde auf Empfehlung des Bundesge- sundheitsrates die Verordnung über die Jodierung von Tafelsalz geändert und der Verbrauch von Jodsalz umfassend propagiert. Bei Kochsalzreduktion (zum Beispiel natriumsensitive Hypertoniker, gravide Frauen) wird eine Substi- tution mit Jodidtabletten (0,1 mg) empfohlen. Weiterhin wird ein ver- mehrter Verzehr von jodreichem Seefisch angeraten.
Durch den Verbund der genann- ten Maßnahmen soll breitenwirk- sam die Jodversorgung verbessert werden mit dem Ziel, eine Norma- lisierung, wie beispielsweise in der Schweiz und in skandinavischen Ländern, herbeizuführen. Mit ei- ner Optimierung der Jodversor- gung wird dem Kropf, Folgeer- krankungen der Schilddrüse und Funktions- und Entwicklungsstö- rungen vorgebeugt. Dabei muß hervorgehoben werden, daß bei ausreichender Jodversorgung in der Folgezeit auch die Mehrzahl von Hyperthyreose eliminiert wird.
Die pauschalierte Warnung vor der Jodaufnahme und Jodpräpa- raten, die die physiologische Jod-
dosierung einschließt, hat die Be- völkerung verunsichert. Das Ge- samtkonzept der Jod-Prophylaxe wird dadurch in Frage gestellt.
Aber auch im Hinblick auf die Strahlenprophylaxe ist die War- nung unverständlich. Bei den ge- genwärtig vorliegenden geringen Belastungen mit Jod 131 sind phy- siologische Gaben von „Normal- Jod" — unabhängig von der Kropf- Prophylaxe — als durchaus positiv anzusehen. Physiologische Jod- gaben vermindern durch Isoto- pen-Verdünnung das Strahlen-Ri- siko durch aktives Jod deutlich.
Weiterhin ist bekannt, daß die gut versorgte Schilddrüse weit weni- ger Jodisotope aufnimmt als die Jodmangel-Struma. Es ist daher empfehlenswert, die Jodversor- gung zu optimieren, um bei etwai- gen weiteren Zwischenfällen eine bessere Ausgangslage zu schaf- fen. Im Vordergrund der Jodpro- phylaxe steht allerdings die Besei- tigung der Strumaendemie in der Bundesrepublik Deutschland.
Professor Dr. med. Dieter Hötzel Sprecher des
Arbeitskreises Jodmangel Institut für Ernährungswissen- schaft der Universität Bonn Endenicher Allee 11-13 5300 Bonn 1
2.
... Da die Bundesrepublik mit un- terschiedlichen geographischen Ausprägungen auf Grund einer Jodverarmung des Bodens und des Trinkwassers zu einem Jod- mangelgebiet zählt, beträgt die durchschnittliche Rate an Schild- drüsenvergrößerungen bei Schul- kindern bis zu 40 Prozent, bei Er- wachsenen bis zu 15 Prozent. Das heißt, jeder sechste Bundesbürger hat eine Jodmangelkrankheit.
Aus diesem Grund empfiehlt der Arbeitskreis Jodmangel, der von Mitgliedern der Sektion Schilddrü- se der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie und des Präsidi- ums der Deutschen Gesellschaft
Jod-Therapie
bei Reaktorstörfällen und Notwendigkeit der Jod-Prophylaxe allgemein
Zwei Stellungnahmen des Arbeitskreises Jodmangel
Ausgabe A 83. Jahrgang Heft 24 vom 11. Juni 1986 (71) 1791
DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
Jod-Prophylaxe
für Ernährung (siehe auch Ernäh- rungsbericht 1980 und 1984) ge- gründet wurde, einerseits den Ver- zehr von jodhaltigen Nahrungs- mitteln, vor allem von Seefisch, andererseits die regelmäßige Ver- wendung von jodiertem Speise- salz, das in jedem Lebensmittelge- schäft erhältlich ist. Kindern, Schwangeren und Stillenden, die einen besonders hohen Jodbedarf haben, wird die Einnahme von Jo- didtabletten, die 100 Mikrogramm Jod enthalten, empfohlen.
Nach dem Satz von Paracelsus;
„Dosis facit remedia — Die Dosis macht das Medikament" — sind diese Jodtabletten mit den für Re- aktorunfällen bereitgehaltenen Jodtabletten, die 100 Milligramm, das heißt, eintausend mal mehr Jod enthalten, nicht zu verwech- seln. Die „Reaktorjodtabletten"
können die Aufnahme von radio-
aktivem Jod (Jod 131) in die Schilddrüse um den Faktor 10 ver- ringern. Für den Einsatz dieser Ta- bletten bestand jedoch wegen des relativ geringen Fallouts von Jod 131 mit Recht jetzt keine Veranlas- sung. Unter Nutzen-/Risiko-Über- legungen sollten die höherdosier- ten „Reaktorjodtabletten", deren Anwendung mit gewissen gesund- heitlichen Risiken verbunden ist, nur bei der Gefahr höherer Strah- lenbelastungen auf Empfehlung der zuständigen Gremien Einsatz finden. Um jedoch die Aufnahme auch geringerer Jod-131-Mengen in der Schilddrüse wenigstens zu vermindern (wenn auch nicht zu verhindern), weist der Arbeitskreis Jodmangel nochmals mit Nach- druck auf den Wert der Jod-Pro- phylaxe hin, da eine jodverarmte Schilddrüse im Mittel 60 bis 70 Prozent des radioaktiven Jods, ei- ne dagegen ausreichend mit Jod
versorgte Schilddrüse nur 20 bis 30 Prozent des radioaktiven Jods aufnimmt.
Aus den Erfahrungen der letzten Tage sollte jeder Bundesbürger ler- nen: Die ausreichende Versorgung des Organismus mitJod dient nicht nur der Vorbeugung von Jodman- gelkrankheiten, sondern auch ei- ner Reduktion der Strahlenbela- stung der Schilddrüse durch radio- aktives Jod im Falle eines radioakti- ven Fallouts. Auch wird damit die äußerst geringe Gefahr der eventu- ellen Entwicklung eines Schilddrü- senkrebses durch radioaktive Strahlung gemindert ...
Professor Dr. med.
Peter Pfannenstiel
Fachbereich Nuklearmedizin der Deutschen Klinik für Diagnostik Aukammallee 33
6200 Wiesbaden
FÜR SIE GELESEN
Naloxon bei intestinaler Pseudoobstruktion
Bei der intestinalen Pseudoob- struktion entwickelt sich ohne er- kennbare äußere Einwirkungen ein Ileus, der bislang therapeu- tisch nur schwer zu beeinflussen war. Als eine Erklärung für die Hemmung der intestinalen Peri- staltik wurde eine exzessive Frei- setzung von Endorphinen postu- liert. Wenn dem so wäre, müßte ei- ne medikamentöse Therapie mit dem Morphinantagonisten Nalo- xon erfolgreich sein. Die Autoren behandelten eine 35jährige Pa- tientin mit einer intestinalen Pseu- doobstruktion im Anschluß an ei- nen kolonchirurgischen Eingriff 15 Tage lang mit 1,6 mg Naloxon pro Tag subkutan. Vor Behand- lungsbeginn war die Magenentlee- rung für feste Nahrungsbestand- teile verzögert, die Dünndarmpas- sage beschleunigt, aber der Ileum- transport verlangsamt. Unter der Naloxonbehandlung normalisier- ten sich die pathologischen Trans-
portphänomene, bei einem Aus- laßversuch waren die Motilitäts- Störungen wieder nachweisbar.
Vor einer operativen Dekompres- sion des überblähten Intestinums sollte deshalb nach Meinung der Autoren ein Therapieversuch mit Naloxon durchgeführt werden. W
Schang, J. C.; Devroede, G.: Beneficial effects of naloxone in a patient with intestinal pseu- doobstruction. Am. J. Gastroenterol. 80:
407-411,1985.
Department of Surgery, Faculty of Medicine, University of Sherbrooke, Sherbrooke, Que- bec, Canada.
Epidemiologie der
Hepatitis-D-Virus-Infektion
Das Hepatitis-D(Delta)-Virus (HDV) ist ein unvollständiges RNS-Virus, das sich nurzusammen mit dem He- patitis-B-Virus (HBV) repliziert. Ne- ben einer Simultaninfektion mit beiden Viren, die meist zu einer ge- legentlich schweren oder sogar ful- minanten akuten Hepatitis führt, ist eine Superinfektion bei chroni- schen symptomfreien HBsAG-Trä-
gern mit dem Delta-Virus bekannt, wobei es in 40 bis 80 Prozent der Fälle zu einem Übergang in eine ak- tive chronische Form kommt.
Anti-Delta fand sich bei Homose- xuellen in 54 Prozent, bei „gesun- den" Drogenabhängigen in 22 Prozent, hingegen nur in 3 Pro- zent bei Patienten mit akuter B- Hepatitis und nur in 1 Prozent bei Patienten mit aktiv chronischer B- Hepatitis. Ein Vergleich der Anti- Delta-Präsenz zwischen Serum- proben der Jahre 1980 und 1984 ergab eine Zunahme von 7 Pro- zent auf 21 Prozent bei den Dro- genabhängigen und von 0 Prozent auf 54 Prozent bei den Homosexu- ellen. Die Autoren fordern deshalb als wirksamste Prophylaxe gegen die Weiterverbreitung des Delta- Virus die Hepatitis-B-Impfung aller Drogenabhängigen und Homose- xuellen.
Joller-Jemelka, H. I.; Guggi, Th.; Grob, P. J.:Zur Epidemiologie der Hepatitis-D-Virus-Infektion.
Schweiz. med. Wschr. 115 1679-1684,1985.
Abteilung für klinische Immunologie, Universi- tätsspital, Häldeliweg 4, CH-8091 Zürich.
1792 (72) Heft 24 vom 11. Juni 1986 83. Jahrgang Ausgabe A