Deutsches ÄrzteblattJg. 102Heft 718. Februar 2005 AA381
S E I T E E I N S
GKV-Finanzierungsreform
Ungedeckte Schecks V
iele Freunde hat sich der Präsi-dent der Bundesärztekammer (BÄK), Prof. Dr. med. Jörg-Dietrich Hoppe, sicher nicht gemacht, als er kürzlich konstatierte, dass weitere Absenkungen der Kassenbeiträge nur durch „gewaltige Abstriche in der medizinischen Versorgung“
möglich sind. Das wollen verständ- licherweise weder Patienten noch Arbeitgeber hören – und ganz sicher nicht Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt. Ihre politische Glaub- würdigkeit ist untrennbar mit spür- baren Entlastungen für die Versi- cherten verknüpft.
Und doch hat Hoppe nur eins und eins zusammengezählt: „Wenn man bei dem lohnbezogenen System bleibt, kommen wegen der sinkenden Einnahmen neue Belastungen auf die Krankenkassen zu. Die Zahl der
Beitragszahler schrumpft, die der Kranken steigt. Insofern macht sich die Alterung der Gesellschaft be- merkbar“, sagte der BÄK-Präsident gegenüber der Berliner Zeitung.
Erwartungsgemäß widersprach das Ministerium: Man sehe bei den Bei- trägen durchaus Senkungspotenzial.
Doch unabhängig vom Streit um Zehntelprozentpunkte legt Hoppes Einschätzung nahe, dass sich die Gesellschaft darüber klar werden muss, wie viel ihr die Gesundheit künftig wert ist. Bislang hat sich die Politik geweigert, diese Frage auch nur zu stellen. Stattdessen wurden Hoffnungen genährt, dass der jetzige Versorgungsumfang auch mit gerin- geren Kassenbeiträgen für die Kran- kenkassen zu halten ist.
Rot-Grün und Union verkünde- ten bereits, mit ihren jeweiligen Re-
formmodellen – der Bürgerversiche- rung und der Gesundheitsprämie – in den Bundestagswahlkampf 2006 ziehen zu wollen. Beide Modelle versprechen allen nahezu alles:
mehr Gerechtigkeit und günstigere Beiträge bei medizinischer Rund- umversorgung.
Den Frust der Patienten über womöglich ungedeckte Schecks werden auch die Ärzte in ihrer tägli- chen Arbeit zu spüren bekommen.
Hoppe spricht sich deshalb gegen beide derzeit diskutierten Reform- modelle aus.
Nach Ansicht des BÄK-Prä- sidenten hat sich das derzeitige Krankenversicherungssystem be- währt. Man müsse nur den Mut ha- ben, es ständig weiterzuentwickeln – „auch wenn das nicht immer po- pulär ist“. Samir Rabbata
Euthanasie in Thüringen
Kein Prozess D
as Landgericht Gera legt den„Fall Albrecht“ zu den Akten.
Das Hauptverfahren gegen die Uni- versitätsprofessorin Rosemarie Al- brecht aus Jena wegen Mordes an der Patientin Selma Albrecht (die Na- mensgleichheit ist zufällig) im Jahr 1941 wird nicht eröffnet – wegen Verhandlungsunfähigkeit der Be- schuldigten, die in vier Wochen 90 Jahre alt wird. Damit hat ein spekta- kuläres Ermittlungserfahren, das sich über nahezu fünf Jahre hinzog, ein überraschendes Ende gefunden.
Überraschend erscheint auch, dass die 1. Strafkammer des Landge- richts in ihrem Beschluss vom 9. Fe- bruar nicht nur die Verhandlungsun- fähigkeit begründet, sondern sich auch ausführlich zur Sache äußert und bezweifelt, ob es in einem Pro- zess gelungen wäre, die Schuld der Angeklagten zu beweisen. Als aus-
schlaggebender Grund wird auf wi- dersprüchliche medizinische Gut- achten über die Todesursache der Patientin verwiesen. „Bei verblei- benden Zweifeln oder der Unauf- klärbarkeit von Widersprüchen“, so die Strafkammer, „hätte dann jeden- falls der Grundsatz ,in dubio pro reo‘
zum Freispruch der Angeschuldigten geführt.“ Das mutet wie ein Frei- spruch zwischen den Zeilen an. Ob Albrecht damit zufrieden ist, ist nicht bekannt. Sie bestand bisher darauf, in einem Prozess zu klären, ob sie eine
„Massenmörderin“ sei oder nicht.
Tatsächlich betrafen die staatsan- waltschaftlichen Ermittlungen und mehr noch die öffentlichen Kom- mentare nicht allein den Tod der Pa- tientin Selma Albrecht, sondern eine Vielzahl weiterer ungeklärter Todes- fälle in der Anstalt Stadtroda in den Jahren 1940 bis 1942, als die junge
Dr. Albrecht dort als Ärztin arbeite- te. In der Öffentlichkeit wurde der anstehende Prozess denn auch als Aufarbeitung einer unseligen Ver- gangenheit in Thüringen angesehen, exemplifiziert an der in der DDR aufgestiegenen Professorin Albrecht.
Daraus wird nun nichts. Auch we- gen der hochgespannten Erwartun- gen dürfte sich das Gericht bemüßigt gesehen haben, nicht allein auf Ver- handlungsunfähigkeit zu verweisen, sondern auf den Fall selbst näher ein- zugehen. Verjährt ist „Euthanasie“- Mord weder nach bundesrepublika- nischem noch nach DDR-Recht.
Die DDR hat sich freilich um die Aufarbeitung solcher Verbrechen nicht gerade intensiv bemüht. Es gibt also noch viel zu tun – wenn auch we- niger für Gerichte als für die histori- sche Forschung. Dahin gehört auch der „Fall Albrecht“. Norbert Jachertz