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KOMMODIFIZIERUNG UND IHRE GRENZEN

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Academic year: 2022

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K OMMODIFIZIERUNG UND IHRE G RENZEN

Betrachtungen zu Markt und Gerechtigkeit

M a s t e r a r b e i t

zur Erlangung des akademischen Grades Master of Arts (MA)

an der Karl-Franzens-Universität Graz

vorgelegt von

Lisa ERLENBUSCH, MA

am Institut für Philosophie

Begutachter Univ.-Prof. MMag. Dr. Harald Stelzer

Graz, 2018

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EHRENWÖRTLICHE ERKLÄRUNG

Ich erkläre ehrenwörtlich, dass ich die vorliegende Arbeit selbstständig und ohne fremde Hilfe verfasst, andere als die angegebenen Quellen nicht benutzt und die den Quellen wörtlich oder inhaltlich entnommenen Stellen als solche kenntlich gemacht habe. Die Arbeit wurde bisher in gleicher oder ähnlicher Form keiner anderen inlän- dischen oder ausländischen Prüfungsbehörde vorgelegt und auch noch nicht veröf- fentlicht. Die vorliegende Fassung entspricht der eingereichten elektronischen Ver- sion.

Graz, im Oktober 2018 Lisa Erlenbusch, MA

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INHALTSVERZEICHNIS

I EINLEITUNG ... 1

II KOMMODIFIZIERUNG ... 4

1 Historische Zugänge ... 5

1.1 Karl Marx ... 5

1.2 Georg Simmel ... 9

1.3 Karl Polanyi ... 13

2 Zeitgenössische Betrachtungen ... 17

2.1 Theorien der Kommodifizierung ... 19

2.2 Ökonomische Kommodifizierung ... 24

2.2.1 Kommodifizierung öffentlicher Güter ‒ Gesundheitswesen ... 25

2.2.2 Kommodifizierung intimer Güter ‒ Leihmutterschaft ... 29

2.2.3 Kommodifizierung der Geschenkökonomie ‒ Informationswirtschaft in elektronischen Räumen ... 35

2.2.3.1 Daten als Ware ... 37

2.3 Moralische Kommodifizierung ... 41

3 Zwischenfazit ... 44

III GRENZEN DES MARKTES ... 48

1 Gerechtigkeit als Grundlage ... 50

1.1 John Rawls ... 51

1.2 Michael Walzer ... 58

1.3 Amartya Sen ... 66

2 Anforderungen und Umsetzungen ... 76

IV RESÜMEE ... 86

VLITERATURVERZEICHNIS ... 90

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I EINLEITUNG

Das Vordringen des Marktes oder marktähnlicher Strukturen in immer mehr und ganz unterschiedliche Lebensbereiche wie Bildung, Gesundheitswesen oder Sexualität zeigt, wie fragil bestimmte Elemente des menschlichen Daseins sind. Nicht zuletzt durch die Globalisierung der Marktwirtschaft wird das Problem immer virulenter, dass bestimmte intime Dinge zum Verkauf stehen.

So erinnert das Arbeitsprogramm dieser Masterarbeit wohl an ein Zitat von Georg Sim- mel: Ein Tausch kann

als eine psychologische, als eine sittengeschichtliche, ja als eine ästhetische Tatsache behan- delt werden. Und selbst als nationalökonomische betrachtet, ist sie damit nicht am Ende einer Sackgasse angekommen, sondern selbst in dieser Formung wird sie der Gegenstand der philosophischen Betrachtung, die ihre Voraussetzungen in nicht-wirtschaftlichen Be- griffen und Tatsachen und ihre Folgen für nicht-wirtschaftliche Werte und Zusammen- hänge prüft.1

Die zugrundeliegende Forschungsfrage beschäftigt sich damit, was alles am Markt gehan- delt werden darf, ob bzw. wo Grenzen auszumachen sind und wie diese, wenn überhaupt, begründet werden können.

Um dies in einem angemessenen Rahmen beantworten zu können, ist die Arbeit wie folgt aufgeteilt: Zuerst wird der Begriff der Kommodifizierung geklärt und von anderen, ähn- lichen Termini abgegrenzt. Um zu verdeutlichen, dass es sich bei der Kommodifizierung keineswegs um eine neue, moderne Erscheinung, sondern vielmehr um eine Konstante seit der industriellen Revolution handelt, werden historische Standpunkte zu diesem Thema in ihren Grundzügen vorgestellt. Insbesondere Karl Marx, Georg Simmel und Karl Polanyi haben sich auf diesem Gebiet als Beobachter der Entwicklungen ihrer Zeit hervor- getan, weshalb auf ihre Ausführungen zu Genese und Auswirkung von Kommodifizie- rung eingegangen wird.

1 Georg Simmel (1989): Philosophie des Geldes. Hg. von David P. Frisby und Klaus Köhnke. Frankfurt a. M.:

Suhrkamp (= Gesamtausgabe Georg Simmel 6), S. 11.

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Dass Kommodifizierung immer noch aktuell ist ‒ und vielleicht sogar mehr Brisanz denn je hat ‒ zeigt der anschließende Abschnitt. Gerade aus feministischer Sicht haben sich zahl- reiche Philosophinnen mit dieser Thematik auseinandergesetzt, die exemplarisch behan- delt werden. So spielen in diesem Bereich Werte und Bewertungen eine maßgebliche Rolle, ebenso wie die Differenzierung verschiedener Klassen von Gütern. In weiterer Folge kann so auch zwischen unterschiedlichen Modi der Kommodifizierung unterschie- den werden, nämlich der ökonomischen und der moralischen. In Bezug auf erstere wer- den beispielhaft drei Bereiche analysiert, die zunehmend in die Marktsphäre gezogen zu werden scheinen: öffentliche Güter, intime Güter und neue Formen der Datenwirtschaft.

Eine ausführliche Beschäftigung mit jeweils einem untergeordneten Aspekt verdeutlicht die Komplexität dieses Prozesses. So werden Schlaglichter auf Gesundheitswesen, Leih- mutterschaft und Schenkökonomie im elektronischen Raum geworfen. Ein zusätzlicher Fokus liegt auf Daten, denen in modernen Informationsgesellschaften immer mehr Rele- vanz als ‚Währung‘ und Ware zukommt. Die moralische Kommodifizierung wird vor al- lem hinsichtlich der Aspekte Regionalität, persönlicher Kontakt und Unmittelbarkeit be- trachtet, die durch die Globalisierung des Handels offenbar zusehends ins Hintertreffen geraten. Sämtliche Überlegungen finden vor dem Hintergrund der Gerechtigkeit statt ‒ der enge Nexus zwischen Kommodifizierung und Gerechtigkeit zieht sich dabei wie ein roter Faden durch die Arbeit.

Der zweite große Teil setzt sich mit den Grenzen des Marktes auseinander und untersucht die Zusammenhänge zwischen Markt und Gerechtigkeit auf normativer Ebene. So ist Ge- rechtigkeit Grundvoraussetzung sowohl für ein faires Funktionieren des Marktes als auch dafür, diesem Grenzen setzen zu können. Daher bilden drei verschiedene Gerechtigkeits- theorien den Ausgangspunkt dieser weiterführenden Überlegungen, nämlich jene von John Rawls, Michael Walzer und Amartya Sen. Gerade die Verschiedenheit der Zugänge verdeutlicht die Heterogenität des Themas. Es soll veranschaulicht werden, was eine Ge- rechtigkeitstheorie beinhalten muss, um sich adäquat mit der Kommodifizierung ausei- nandersetzen zu können. Ein Fokus liegt hier auf Walzers Sphärentheorie, die für die Ein- dämmung der Kommodifizierung durch ihre klare Trennung verschiedener Lebensberei-

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che prädestiniert scheint. Im Anschluss daran werden weitere Ansätze und Ideen präsen- tiert, warum man den Markt einschränken muss und wie dies bewerkstelligt werden könnte. Den Abschluss der Arbeit bildet ein Resümee, das die zentralen Erkenntnisse zu- sammenfasst.

(7)

II KOMMODIFIZIERUNG

Um sich mit dem Phänomen der Kommodifizierung auseinandersetzen zu können, bedarf es zuerst einer Klärung des Begriffs und der Prozesse, die damit in Verbindung stehen.

Die Kommodifizierung an sich ist nichts Neues, wenngleich sich der Terminus erst später etabliert hat. Die Bezeichnung stammt vom englischen commodify. An dieser Stelle gilt es darauf hinzuweisen, dass commodity ein Gut bezeichnet, das am Markt offeriert und ver- langt wird.2 Abzugrenzen ist der Begriff von Commodities, das gemeinhin Standardpro- dukte bezeichnet, die eine genormte Mindestqualität aufweisen und produktenbörsisch gehandelt werden können – etwaige Änderungen am Standardprodukt beziehen sich le- diglich auf Menge, Preis und Zeit.3

Das Zur-Ware-Werden steht also im Zentrum dieser Arbeit. Albert Borgmann definiert die Kommodifizierung wie folgt: „To commodify something is to draw it from outside the market into the market so that it becomes available for sale and purchase when before commodification it was not.”4 Entscheidender Faktor bei der Kommodifizierung respek- tive dem Zur-Ware-Werden ist nicht nur, das etwas oder jemand als Gut behandelt wird, sondern dass dem Gut ein Wert zukommt, durch den es tausch- und handelbar wird.

Borgmann erläutert in weiterer Folge zwei zusätzliche Begriffe, die dafür stehen, dass et- was in den Markt hineingezogen wird: Kommerzialisierung und Privatisierung.5 Wäh- rend Privatisierung von Konservativen in ihrem Glauben an die unsichtbare Hand voran- getrieben werde, sei die Kommerzialisierung breiter gefasst und schließe auch die Aus- breitung der kommerziellen Kultur in ländliche Gegenden mit ein.6 So gilt es im Folgen-

2 Vgl. Dirk Sauerland u. a. (2017): Ware. In: Gabler Wirtschaftslexikon. Wiesbaden: Springer Gabler. Letzte Aktualisierung: 29. Juli 2016. URL: http://wirtschaftslexikon.gabler.de/Archiv/4716/ware-v17.html [28.5.2018].

3 Vgl. Daniel Markgraf (2017): Standardprodukte. In: Gabler Wirtschaftslexikon. Wiesbaden: Springer Gabler.

Letzte Aktualisierung: 7. Jänner 2013. URL: http://wirtschaftslexikon.gabler.de/Archiv/123604/standardpro dukte-v4.html [28.5.2018]. Typische Standardprodukte sind landwirtschaftliche Erzeugnisse, Rohstoffe oder Energie.

4 Albert Borgmann (2017): A Moral Conception of Commodification. In: Nico Stehr, Christoph Henning, Bernd Weiler (Hg.): The moralization of the markets. 2. Aufl. New York, London: Routledge, S. 193–210, hier S. 194.

5 Vgl. ebd., S. 195.

6 Vgl. ebd.

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den verschiedene Theorien zu beleuchten, die darlegen, wie Güter zu ihrem Wert kom- men. Seit dem 19. Jahrhundert setzen sich ÖkonomInnen, SozialwissenschaftlerInnen und PhilosophInnen mit der Kommodifizierung auseinander, auch wenn frühe DenkerInnen den Begriff noch nicht dafür verwendet haben. Die in diesem Kontext zentralen Überle- gungen stammen von Karl Marx, Georg Simmel und Karl Polanyi.

1 H ISTORISCHE Z UGÄNGE

Die folgende Darlegung zeigt frühe Theorien darüber, wie Dinge zu am Markt gehandel- ten Waren werden. Die Konzeptionen von Wert, Tausch und Markt bilden dabei Grund- lagen für spätere Theorien und Arbeiten zu dieser Thematik.

1.1 K

ARL

M

ARX

Ohne näher auf Karl Marx’ (1818–1883) Lehre eingehen zu wollen, sollen wichtige Aspekte bzgl. des Zur-Ware-Werdens genannt werden. Bereits zu Beginn seines Werks Das Kapital (1867) schildert er ein grundlegendes Charakteristikum des Vorganges der Kommodifi- zierung:

Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine „ungeheure Warensammlung“, die einzelne Ware als seine Elementar- form. Unsere Untersuchung beginnt daher mit der Analyse der Ware. Die Ware ist zu- nächst ein äußerer Gegenstand, ein Ding, das durch seine Eigenschaften menschliche Be- dürfnisse irgendeiner Art befriedigt. [...] Die Nützlichkeit eines Dings macht es zum Ge- brauchswert.7

Der Gebrauchswert, sein Nutzen, ist nach Marx die erste Voraussetzung, damit ein Ding zur Ware wird. Da es durch die große „Warensammlung“ nicht möglich sei, über alle nützlichen Güter selbst zu verfügen, muss zwangsläufig ein Tauschhandel eingeführt werden. Um Waren nun austauschen zu können, bedürfen sie neben des Gebrauchswerts auch eines Tauschwerts. Schon Adam Smith differenzierte zwischen verschiedenen Ver- wendungsarten von Waren und prägte die Begriffe Gebrauchswert und Tauschwert.8

7 Karl Marx: Das Kapital, S. 45f. zitiert nach Michael Berger (2014): Karl Marx: Das Kapital. Eine Einführung.

3. überarb. Aufl. Stuttgart, Paderborn: Fink (= UTB 2456), S. 30.

8 Vgl. Adam Smith (1978): Der Wohlstand der Nationen. München: dtv, S. 27.

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Vom Gebrauchswert der Ware unterscheidet auch Marx den Tauschwert. Dieser

erscheint zunächst als das quantitative Verhältnis, die Proportion, worin sich Gebrauchs- werte einer Art gegen Gebrauchswerte anderer Art austauschen, ein Verhältnis, das be- ständig mit Zeit und Ort wechselt. [...] Es folgt daher erstens: Die gültigen Tauschwerte derselben Ware drücken ein Gleiches aus. Zweitens aber: Der Tauschwert kann überhaupt nur die Ausdrucksweise, die „Erscheinungsform“ eines von ihm unterscheidbaren Gehalts sein. [...] Als Gebrauchswerte sind die Waren vor allem verschiedner Qualität, als Tausch- werte können sie nur verschiedner Quantität sein, enthalten also kein Atom Gebrauchs- wert.9

Der Tauschwert bezeichnet demnach die Relation und somit das quantitative Verhältnis zweier Waren, wenngleich er durch seine Unbeständigkeit willkürlich zu sein scheint. Die Bestimmung des Tauschwerts ist insofern schwierig, als dieser den produzierten und na- türlichen Charakteristika einer Ware, also dem Gebrauchswert, entspricht.10 Die Janus- köpfigkeit der Ware hat Marx nicht als Erster festgestellt, er bezieht sich hier auf Aristote- les und zitiert dessen Beispiel der Sandale: Diese diene einerseits als Schuhwerk, anderer- seits als Tauschobjekt, wobei beide Verwendungszwecke Gebrauchswerte der Sandale darstellen, wenngleich die Funktion als Tauschobjekt nicht ihrem ‚natürlichen‘ Gebrauch entspricht.11 Das Äquivalentsetzen der Waren im Tauschprozess ist die Abstraktion von ihren nützlichen Eigenschaften.12 Marx versucht nun ohne das Heranziehen von Geld den Gehalt des Tauschwertes, sprich, die Gleichstellung der Waren herauszuarbeiten: Die Schwierigkeit dieses Unterfangens liegt darin begründet, dass dabei nicht nach produzier- ten oder natürlichen Übereinstimmungen gesucht werden darf.13

Wenn nun aber der Gebrauchswert nicht Maßstab für den Gehalt des Tauschwertes sein kann, bleibt Marx zufolge nur noch

eine Eigenschaft, die von Arbeitsprodukten. Jedoch ist uns auch das Arbeitsprodukt bereits in der Hand verwandelt. Abstrahieren wir von seinem Gebrauchswert, so abstrahieren wir auch von den körperlichen Bestandteilen und Formen, die es zum Gebrauchswert machen.

Es ist nicht länger Tisch oder Haus oder Garn oder sonst ein nützlich Ding. Alle seine sinn- lichen Beschaffenheiten sind ausgelöscht. [...] Mit dem nützlichen Charakter der Arbeits- produkte verschwindet der nützliche Charakter der in ihnen dargestellten Arbeiten, es ver-

9 Karl Marx zitiert nach Berger 2014, S. 31f.

10 Vgl. Berger 2014, S. 32.

11 Vgl. Karl Marx, Friedrich Engels (1962): Werke. Bd. 23, Das Kapital. Berlin: Dietz, S. 100 (Fußnote 39).

12 Vgl. Berger 2014, S. 32.

13 Vgl. ebd.

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schwinden also auch die verschiedenen konkreten Formen dieser Arbeiten, sie unterschei- den sich nicht länger, sondern sind allzusamt reduziert auf gleiche menschliche Arbeit, abstrakt menschliche Arbeit.14

Der Grund, warum das „Arbeitsprodukt“ nach Marx „in der Hand verwandelt“ ist, ist, dass man nicht mehr erkennen kann, dass es sich dabei eigentlich um ein soziales Verhält- nis handelt. Würden die Gebrauchswerte nun äquivalent gesetzt, so finde eine Abstrak- tion von ihren natürlichen Charakteristika statt sowie von der konkreten Arbeit, die diese Charakteristika hervorgebracht habe; daher sei die abstrakte Arbeit den getauschten Wa- ren gemein und ermögliche so einen Vergleich. Er geht davon aus, dass das Abstrahieren durch den Tauschvorgang erfolgt, der wiederum eine gesellschaftliche Praxis darstellt, weshalb die abstrakte Arbeit eine Struktur ist, die durch den Tausch von Waren von der Gesellschaft geschaffen wird. Vordergründig erscheint der Prozess als der Tausch von Dingen, verborgen bleibt jedoch, dass es sich Marx zufolge um ein soziales Verhältnis han- delt, das als solches nicht mehr erkennbar ist. Die abstrakte Arbeit bezeichne demnach eine soziale Relation von formal gleichstehenden Individuen, die beim Tauschhandel von der Verschiedenartigkeit ihrer Arbeiten bzw. Produkte und der Verschiedenartigkeit der Produzenten abstrahieren. D. h. die abstrakte Arbeit macht alle Arbeiten vergleichbar und ermöglicht somit den Handel mit ihnen, es ist also eine Austauschbarkeit, die von der Gesellschaft hergestellt wird. Nach Marx werden in einer voll ausgebildeten kapitalisti- schen Gesellschaft die Menschen von den Dingen beherrscht, wodurch zwischenmensch- liche Beziehungen mittels Geld und Waren organisiert werden.15

Die Waren brauchen also für ihre Tauschbarkeit eine gewisse Gemeinsamkeit, die der Ge- brauchswert offenkundig nicht sein kann, da Waren über verschiedenste Gebrauchswerte verfügen. Ihre einzige vergleichbare Gemeinsamkeit ist, dass sie durch Arbeit hergestellte Produkte sind. Da aber auch nicht jede Arbeit dieselbe ist, wird diese abstrahiert – die Arbeit als Herstellungsprozess eines Gutes verschwindet sozusagen und wird nicht mehr sichtbar.

14 Marx zitiert nach Berger 2014, S. 33.

15 Vgl. Berger 2014, S. 31‒34.

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Marx konstatiert, dass auch Arbeitskräfte zur Ware werden und ein zwangsläufiges Re- sultat der freien Marktwirtschaft der Zerfall der Gesellschaft in Eigentümer und Arbeiter ist, wobei letztere über keinerlei Eigentum verfügen.16 Ihm zufolge nimmt „[m]it Verwer- tung der Sachenwelt [...] die Entwertung der Menschenwelt in direktem Verhältnis zu. Die Arbeit produziert nicht nur Waren; sie produziert sich selbst und den Arbeiter als eine Ware, und zwar in dem Verhältnis, in welchem sie überhaupt Waren produziert.“17 Nach Marx zeigt sich beim Tausch der Waren erst deren Wert, also die verhältnismäßigen Men- gen der Arbeit, die miteinander getauscht werden. Tauschen ist also eine gesellschaftliche Handlung, bei der zwei qualitativ verschiedene Arbeitsmengen (z. B. Getreide und Möbel) auf quantitativer Ebene gleichgestellt werden.18 Diese Gleichsetzung suggeriert eine Wert- gegenständlichkeit der Waren, d. h. dass alle Produkte einen Wert haben.19 Preise spiegeln dann diese Wertgröße wider und legen wiederum fest, wie qualitativ verschiedene Waren quantitativ in Relation zueinander gesetzt und getauscht werden können. Die beiden Par- teien des Tauschgeschäfts abstrahieren Marx zufolge von den Differenzen bzgl. der Qua- lität, die Waren werden als Element abstrakter Arbeit behandelt.20 Der Handel von Waren am Markt ist eine gewachsene gesellschaftliche Praxis, die durch ihr langes Bestehen ‚na- türlich‘ geworden und somit eine Eigenschaft der Produkte zu sein scheint. Obwohl von den Waren nur ihr Gebrauchswert sinnlich wahrnehmbar ist, werden sie nach Marx zu übersinnlichen Dingen, da ihnen Eigenschaften zugeschrieben werden, die ihnen gar nicht inhärent sind – er bezeichnet dies als Fetischismus, d. h. dass die Eigenschaften wie Wert und Ware als natürlicher Bestandteil von Dingen angesehen wird, obwohl es sich dabei nur um eine Zuschreibung von außen handelt.21 Abstrakte Arbeit erscheine als Struktur, die durch soziales Handeln geschaffen werde, sie sei wie ein soziales Netz, das eine Ver- bindung von Waren und Produzenten von Waren in Verbindung setze. Da dieser Prozess

16 Vgl. Karl Marx (2016): Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahr 1844 (Auszug). Erstes Ma- nuskript, Abschnitt: Die entfremdete Arbeit. In: Lisa Herzog und Axel Honneth (Hg.): Der Wert des Marktes.

Ein ökonomisch-philosophischer Diskurs vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. 2. Aufl. Berlin: Suhrkamp (= stw 2065), S. 191–205, hier S. 191.

17 Ebd., S. 193. Kursivsetzung im Original.

18 Vgl. Berger 2014, S. 29.

19 Vgl. ebd., S. 52.

20 Vgl. ebd., S. 29.

21 Vgl. ebd., S. 52f.

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immer wieder ausgeführt und wiederholt werde, erscheint eine ursprünglich gesellschaft- liche, soziale Relation von Menschen allmählich nur als sachliche Relation von Gegenstän- den, wodurch letztlich Geld und Warenaustausch die sozialen Verbindungen der produ- zierenden Schicht bestimmen.22

Marx schildert genau den Vorgang, wie ein Ding, das Gebrauchswert aufweist, zu einer Ware, also kommodifiziert, wird. Er geht von der Nützlichkeit eines Dings, seinem Ge- brauchswert, als Voraussetzung aus, dass es überhaupt zur Ware werden kann. Für den Tausch ist der Gebrauchswert allerdings nicht geeignet, da dieser bei der Vielfalt an Gü- tern zu stark divergiert. Die Eigenschaft, die eine Ware für Marx handelbar macht, ist ihre Eigenschaft als Arbeitsprodukt. Damit die Arbeit aber für den Handel gleichgesetzt wer- den kann, wird sie zuerst von der Ware abstrahiert, ihre sinnlichen Eigenschaften sind dann verloren, ihr Gebrauchswert ebenso. Damit einher geht der Verlust der sozialen Be- ziehung. Der Markt und das Abstrahieren sind eine etablierte gesellschaftliche Praxis, die durch ihr langes Bestehen natürlich geworden ist und als solche nicht mehr wahrgenom- men wird. Dies führt letztlich dazu, dass die Beziehung der Menschen zueinander nur mehr über Geld und Waren bestimmt werden. Darüber hinaus beschreibt er negative Kon- sequenzen für die Gesellschaft, die mit der erhöhten Warenproduktion seit der Industria- lisierung einhergegangen sind. Diese negativen Konsequenzen manifestieren sich unter anderem als Ungleichheit und Ungerechtigkeit in der Gesellschaft. Schon Marx erkannte einen Zusammenhang zwischen Kommodifizierung und Gerechtigkeit.

1.2 G

EORG

S

IMMEL

Auch Georg Simmel (1858–1918) hat sich mit der Frage beschäftigt, wie Werte zustande kommen. In seinem Werk Philosophie des Geldes stellt er zunächst Überlegungen zu einer Ordnung der Dinge an und erkennt, dass man diese nach Werten ordnet, d. h., „[d]aß Ge- genstände, Gedanken, Geschehnisse wertvoll sind, das ist aus ihrem bloß natürlichen Da- sein und Inhalt niemals abzulesen; und ihre Ordnung, den Werten gemäß vollzogen, weicht von der natürlichen aufs weiteste ab.“23 Wie Marx geht Simmel davon aus, dass

22 Vgl. ebd., S. 29.

23 Simmel 1989, S. 23.

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der Wert den Dingen nicht inhärent ist, sondern wir Menschen letztlich darüber bestim- men.

Grundlegend für das Ausbilden eines ökonomischen Werts ist nach Simmel der Tausch an sich: Bei diesem wird zuerst im Zuge der allgemeinen Bildung des Werts das Gut dem Menschen durch das Verhältnis von Distanz und Begehren als solches und somit auch als Wert bewusst; gleichzeitig erkennt Individuum auch ebendieses Verhältnis von Distanz und Begehren.24 Soweit ähnelt Simmels Theorie jener von Marx, allerdings kommt bei ihm eine neue zentrale Dimension hinzu: das Begehren.

Zentral beim ihm ist das Verhältnis von zwei Objekten zueinander, der Wert wird erst durch den Tausch an sich greif- und sichtbar. Die Relativität zweier Gegenstände sorge für die Objektivierung derselben. Ihren gehandelten Wert erhalten die Dinge nicht durch das Begehrtwerden an sich, sondern durch das Begehrtwerden von anderen.25 Simmel zu- folge ist die Objektivität streng an den Tausch gebunden, denn dadurch verdeutlicht die- ser den intersubjektiven Wert eines Gegenstands. Basis für den Tausch ist nämlich „eine objektive Messung subjektiver Wertschätzungen [...], aber nicht im Sinne zeitlichen Vo- rangehens, sondern so, daß beides in einem Akte besteht.“26 Nach Simmel verhält es sich aber so, dass zwei Dinge erst dann denselben Wert aufweisen können, wenn zuvor jedes einzelne über einen Wert verfügt. Er demonstriert dies anhand des Beispiels der Länge zweier Linien: Eine Linie kann ihre Bestimmung von alleine bekommen, sondern nur im Vergleich zu einer anderen – diese Analogie zeigt, wie der Wert als wirtschaftliche Einheit funktioniert.27 Durch den Austausch wird, so Simmel, eine psychische Distanz zwischen der Ware und dem Menschen hergestellt, dessen Gefühle durch den Tausch in eine objek- tive Bewertung verwandelt werden.28 Chronologisch gesehen verhält es sich so: „Bedür- fen, Tauschen bzw. Wirtschaften, Genießen“29, wobei sich der Wert erst im Tausch reali- siert. Er unterschiedet zwischen subjektivem und objektivem Wert: Ersterer ist das Begeh-

24 Vgl. Paschen von Flotow (1995): Geld, Wirtschaft und Gesellschaft. Georg Simmels Philosophie des Geldes.

Frankfurt a. M.: Suhrkamp (= stw 1144), S. 47.

25 Vgl. Simmel 1989, S. 55f.

26 Ebd., S. 59.

27 Vgl. ebd., S. 66f.

28 Vgl. ebd., S. 73.

29 Flotow 1995, S. 49.

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ren oder der Genuss, zweiterer die Schranke, die vor dem Genuss überwunden werden muss.30

Im Gegensatz zu Marx vertritt Simmel die Ansicht, dass die Begriffe Brauchbarkeit oder Nützlichkeit im Hinblick auf Objekte nicht zutreffend sind, da es vielmehr um die Be- gehrtheit eines Objektes geht: „Alle Brauchbarkeit ist nämlich nicht imstande, zu wirt- schaftlichen Operationen mit dem Gegenstande zu veranlassen, wenn sie nicht Begehrt- heit desselben zur Folge hat.“31 Ein Gut, das ‚nützlich‘ ist, hat allein deswegen noch keinen wirtschaftlichen Wert – schon Adam Smith hat sich mit dem sog. Wertparadoxon beschäf- tigt, dass nämlich Güter oftmals einen sehr großen Gebrauchswert aufweisen, aber de facto über so gut wie keinerlei Tauschwert (z. B. Luft) und umgekehrt (z. B. Diamanten).32 Der Gebrauchswert ist also nur dann von wirtschaftlicher Relevanz, wenn er Begehren auslöst, wobei nicht prinzipiell alles Gebrauchte auch begehrt wird. Das Begehren ist nach Simmel aber latent, wenn es nicht gewisse Hindernisse, Opfer oder Probleme gibt, die zwischen dem Individuum und dem Gegenstand stehen – denn man begehrt nur dann, wo man vor dem Genießen des Guts Zwischeninstanzen, überwinden muss.33 Die Be- gehrtheit ist also für die Nachfrage eines Gutes ausschlaggebend. Der wirtschaftliche Wert des Guts, der aus dessen Begehrtheit resultiert, erhöht nach Simmel die Relativität, die bereits im Begehren liegt. Ein Ding werde nur dann zu einem wirtschaftlich gehandelten Gut, wenn seine Begehrtheit durch den Vergleich mit anderen messbar werde.34 D. h. das pure Begehren eines Gegenstandes führt noch nicht zu dessen wirtschaftlichen Wert, denn erst der Vergleich der jeweiligen Ausmaße des Begehrens ermöglicht einen Tausch, im Zuge dessen für jeden Gegenstand ein Wert bestimmt wird. Kurzum hält Simmel also fest,

daß der wirtschaftliche, praktisch wirksame Wert niemals ein Wert überhaupt, sondern seinem Wesen und Begriff nach eine bestimmte Wertquantität ist; daß diese Quantität über- haupt nur durch die Messung zweier Begehrungsintensitäten aneinander zustande kom- men kann; daß die Form, in der diese Messung innerhalb der Wirtschaft geschieht, die des Austausches von Opfer und Gewinn ist; daß mithin der wirtschaftliche Gegenstand nicht,

30 Vgl. ebd., S. 51.

31 Simmel 1989, S. 75.

32 Vgl. Flotow 1995, S. 53.

33 Vgl. Simmel 1989, S. 75f.

34 Vgl. ebd., S. 76.

(15)

wie es oberflächlich scheint, an seiner Begehrtheit ausschließlich als Fundament oder Ma- terial eines – wirklichen oder gedachten – Austausches dem Gegenstand einen Wert aus- wirkt.35

Simmel ist aber davon überzeugt, dass ein Gut nur tatsächlich ökonomischen Wert auf- weisen kann, wenn es über das Begehrtwerden hinaus (vorerst) nicht direkt genießbar ist und eine gewisse Distanz zwischen Subjekt und Objekt besteht – in termini oeconomici ist damit eine Knappheit gemeint. Er betont dabei die Hürden für das Erlangen, „d. h. die Größe des in den Tausch einzusetzenden Opfers ist das eigentümliche konstitutive Wert- moment, von dem die Seltenheit nur die äußere Erscheinung, nur die Objektivierung in der Form der Quantität ausmacht.“36 War die Begehrtheit für die Nachfrage zentral, so ist die Seltenheit ausschlaggebend für das Angebot eines Gutes, eben weil sie die quantitative Grundlage des Tauschwerts darstellt.37

Simmel betrachtet in weiterer Folge das Geld als Medium des Tauschwerts. Bisher ist er davon ausgegangen, dass der Wert im Tausch entsteht, was ihn relativ macht. Dazu kommt nun eine weitere Komponente, nämlich das Geld. Dieses ist im Tauschverhältnis

„der zur Selbständigkeit gelangte Ausdruck dieses Verhältnisses, d. h. der Tauschbarkeit der Gegenstände“38. Das Geld drücke letztlich die Relativität des Wertes aus und somit den durch den Tauschhandel bestimmten Wert.39 Simmel nimmt zunächst an, dass ein philosophischer Geldbegriff auch auf die ökonomische Wirklichkeit anzuwenden ist, dass also die Idee des Geldes mit der ökonomischen Realität übereinstimmt. Allerdings gestal- tet sich die ökonomische Wirklichkeit als weitaus weniger eindeutig als der philosophi- sche Geldbegriff, wodurch dem Geld eine Doppelrolle zukommt:40

Möglich ist dies überhaupt nur dadurch, daß das Geld über seinen reinen Funktionscha- rakter als Ausdruck des Wertverhältnisses konkreter Dinge hinaus gewisse Qualitäten ent- hält, die es spezialisieren, zu einem Marktgegenstand machen, es bestimmten Konjunktu- ren, Quantitätsverschiebungen, Eigenbewegungen unterwerfen, also es aus seiner absolu-

35 Ebd., S. 77.

36 Ebd., S. 91.

37 Vgl. Flotow 1995, S. 54.

38 Simmel 1989, S. 122.

39 Vgl. Flotow 1995, S. 66f.

40 Vgl. ebd., S. 93.

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ten Stellung, die es als Ausdruck der Relation hat, in die einer Relativität hineindrängen, so daß es, kurz gesagt, nicht mehr Relation ist, sondern Relation hat.41

Nach Simmel kann die Geldwirtschaft entweder als Tauschwirtschaft von Ware gegen Ware betrachtet werden oder als Handel von Geld gegen Ware und umgekehrt. In erste- rem Fall spiegle das Geld lediglich das Resultat eines Wert- und Preisbildungsprozesses wider, der ohne Geld stattfinde. So sei das Geld Relation, weil es die relativen Werte des Tauschvorgangs in einem relativen Preis darstelle. In zweitem Falle erfolge der Vorgang der Wert- und Preisbildung in Relation von Ware und Geld, womit die Preise Geldpreise (also absolute Preise) seien, wodurch das Geld Relation habe.42

Während bei Marx der Gebrauchswert zentrale Funktion in der Wertbildung und somit für die Kommodifizierung eingenommen hatte, ist für Simmel das Begehren eines Gutes im Fokus. Dabei muss zwischen dem Subjekt und dem Gut immer ein Hindernis sein. Das Gut darf nicht direkt erreichbar sein, damit sich der Tauschhandel entwickelt. So sind bei Marx die abstrakte Arbeit und der Gebrauchswert für den Tausch an sich konstitutiv, bei Simmel ist es die Knappheit eines begehrten Gutes. Simmel betont die Wichtigkeit des Geldes, das verdeutlicht, wie relativ die Werte sind, und diese durch den Handel sichtbar macht. Die Relativität, also die Unbeständigkeit des Wertes, heben beide Autoren gleich- ermaßen hervor. Während diese beiden Theorien noch viele Überschneidungen aufwei- sen, rückt bei Karl Polanyi nun stärker den Markt selbst in den Blickpunkt.

1.3 K

ARL

P

OLANYI

Karl Polanyi (1886–1964) hat sich als namhafter Marktkritiker mit der Kommodifizierung auseinandergesetzt. Zentral ist dabei das von ihm entwickelte Konzept der Einbettung, das ausdrückt, dass die Wirtschaft nicht so unabhängig ist wie sie in wirtschaftlichen The- orien präsentiert wird. Sie ist sozialen Verhältnissen, der Politik und auch der Religion untergeordnet.43 Für Polanyi sind sich völlig selbst regulierende Märkte mit absoluter Frei- heit, sog. entbettete Märkte, nicht vorstellbar:

41 Simmel 1989, S. 130f. Kursivsetzung im Original.

42 Vgl. Flotow 1995, S. 94.

43 Vgl. Fred Block (2001): Introduction. In: Karl Polanyi (2001): The Great Transformation. The Political and Economic Origins of Our Time. 2. Aufl. Massachusetts: Beacon, S. xviii–xxxviii, hier S. xxiiif.

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Our thesis is that the idea of a self-adjusting market implied a stark utopia. Such an insti- tution could not exist for any length of time without annihilating the human and natural substance of society; it would have physically destroyed man and transformed his surroundings into a wilderness.44

Er führt dies zurück auf seine Unterscheidung von ‚echten‘ und ‚fiktiven‘ Waren – nach Polanyi definiert sich eine Ware so, dass sie für den Verkauf am Markt produziert worden ist, was aber auf bestimme Güter nicht zutrifft.45 Doch zuerst zu seiner Theorie über die Entstehung des Marktes. Nach Polanyi

[b]arter, truck, and exchange is a principle of economic behavior dependent for its effec- tiveness upon the market pattern. A market is a meeting place for the purposes of barter or buying and selling. Unless such a pattern is present, at least in patches, the propensity to barter will find but insufficient scope: it cannot produce prices.46

Das Muster des Markts (market pattern) kreiere wiederum die Institution Markt, d. h., dass die Gesellschaft nur als Zusatz zum Markt funktioniert ‒ nicht die Wirtschaft ist in soziale Beziehungen eingebettet, sondern soziale Beziehungen sind in das Marktsystem eingebet- tet.47 Polanyi zufolge ist eine Marktwirtschaft ein rein ökonomisches System, das von den Marktpreisen kontrolliert, reguliert und geleitet wird; die Ordnung in der Produktion und Verteilung von Waren wird diesem selbstregulierenden Mechanismus anvertraut. Diese Wirtschaftsform stütze sich auf die Erwartung, dass Menschen stets ein Maximum an Geld für sich gewinnen wollten und dass Märkte, auf denen die Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen zu einem festen Preis verfügbar sei, auch genau zu diesem Preis nachge- fragt werde. Polanyi nimmt überdies die Präsenz des Geldes an, das als Kaufkraft in den Händen seiner BesitzerInnen fungiert. Die Produktion wird von den Preisen kontrolliert, denn sowohl die Profite der ProduzentInnen als auch die Verteilung der Güter hängt von diesen ab. Die Preise formen wiederum die Einkommen und durch diese Einkommen wer- den die produzierten Güter unter den Mitgliedern der Gesellschaft verteilt.48 Polanyi be- findet sich offenkundig auf einer anderen Ebene als die beiden Autoren zuvor. Er stellt

44 Karl Polanyi (2001): The Great Transformation. The Political and Economic Origins of Our Time. 2. Aufl.

Massachusetts: Beacon, S. 3.

45 Vgl. ebd., S. 75.

46Ebd., S. 59. Die Neigung, “to truck, barter and exchange one thing for another” hat Polanyi von Adam Smith übernommen; in der deutschen Übersetzung: „Neigung des Menschen, zu handeln und Dinge gegeneinan- der auszutauschen“, Smith 1978, S. 16.

47 Vgl. Polanyi 2001, S. 60.

48 Vgl. ebd., S. 71.

(18)

nicht die Frage nach der Entstehung des Werts und des Marktes, sondern betrachtet den ausgebildeten Markt und zieht daraus seine Schlüsse.

Die Selbstregulierung des Marktes impliziert nach Polanyi nun, dass die gesamte Produk- tion am Markt käuflich ist und alle Einkommen sich von solchen Käufen ableiten, wodurch es Märkte für alle Industriesparten gibt, aber nicht nur für Waren, sondern auch für Arbeit, Land und Geld. Deren Preise (als Waren) sind sozusagen Lohn, Miete und Zins.49 Durch dieses Güterkonzept (commodity concept) ist der Marktmechanismus auf die verschiedensten Elemente des industriellen Lebens ausgerichtet. Güter sind Objekte, die für den Verkauf am Markt hergestellt werden. Der Markt ist der eigentliche Treffpunkt von KäuferInnen und VerkäuferInnen, demgemäß wird auch jedes industriell gefertigte Produkt für den Verkauf am Markt hergestellt und es wird dadurch Subjekt des Angebot- und-Nachfrage-Mechanismus, der den Preis letztlich beeinflusst. Nach Polanyi liegt die Krux aber darin, dass auch Arbeit, Land und Geld essentielle Bestandteile der Industrie sind, die auch in Märkten organisiert sind, und es sind gerade diese Märkte, die eine ent- scheidende Rolle im ökonomischen System spielen.50 „But labor, land, and money are ob- viously not commodities; the postulate that anything that is bought and sold must have been produced for sale is emphatically untrue in regard to them.”51 D. h., geht man nach der empirischen Definition von Gütern, sind Arbeit, Land und Geld gerade keine Güter, sie wurden nämlich nicht für den Verkauf produziert. Die Beschreibung von Arbeit, Land und Geld als Güter ist Polanyi zufolge fiktiv, aber nur mithilfe dieser Fiktion sei der ei- gentliche Markt für Arbeit, Land und Geld organisiert – zumal diese tatsächlich am Markt ge- und verkauft würden.52

The commodity fiction, therefore, supplies a vital organizing principle in regard to the whole of society affecting almost all its institutions in the most varied way, namely, the principle according to which no arrangement or behavior should be allowed to exist that might prevent the actual functioning of the market mechanism on the lines of the commo- dity fiction.53

49 Vgl. ebd., S. 72.

50 Vgl. ebd., S. 75.

51 Ebd. Kursivsetzung im Original.

52 Vgl. ebd., S. 75f.

53 Ebd., S. 76.

(19)

Er geht also davon aus, dass Arbeit, Land und Geld scheinbar in Waren verwandelt wer- den müssen, damit die Produktion aufrechterhalten werden kann, und gerade die Fiktion, dass sie für den Verkauf am Markt produziert worden und Waren geworden sind, gehört letztlich zum Organisationsprinzip der Gesellschaft.54 Fiktive Waren seien also Ressour- cen, die aufgrund ihrer Beschaffenheit dem Mechanismus von Angebot und Nachfrage höchstens teilweise unterliegen können, da sie sich entweder nicht nach dem Bedarf der Nachfrage oder überhaupt nicht herstellen lassen – ihre völlige Kommodifizierung würde sie nicht mehr brauchbar machen oder gar zerstören. Diese drei fiktiven Waren sind es nach Polanyi, die dafür sorgen, dass die Expansion des Marktes nicht grenzenlos voran- schreiten kann.55 Moralische Grenzen sind in diesem Kontext zentral, so war das Besitzen von Menschen beispielsweise bis ins 19. Jahrhundert in den USA legal, die Mitglieder der Gesellschaft lehnen dies mittlerweile strikt ab und solche Praktiken sind nunmehr auch gesetzlich verboten – Gesetze beschränken also auch den Markt.56 Die fiktiven Waren führ- ten Polanyi zufolge im 19. Jahrhundert wiederum zur Entstehung einer Marktgesellschaft, die „Klassenpolarisation, Arbeitslosigkeit, soziale Armut, Aushöhlung der Demokratie, Zerstörung der Umwelt, wirtschaftliche und politische Krisen“57 mit sich brachte. Die ein- zelnen Mitglieder der Gesellschaft hätten danach Maßnahmen zum Selbstschutz ergriffen, die die Form von Sozialpartnerschaften, Bankenregulierungen, Arbeitsgesetzen, Agrar- zöllen usw. annahmen.58 So stellt er fest: „For a century the dynamics of modern society was governed by a double movement: the market expanded continuously but this move- ment was met by a countermovement checking the expansion in definite directions.”59 Diese Doppelbewegung, die in entgegengesetzte Richtungen arbeitet – die Marktwirt- schaft drängt auf absolutes laissez faire, gleichzeitig soll genau diesem destruktiven Marktmechanismus Einhalt geboten werden – ist zentral in Polanyis Werk.

54 Vgl. ebd., S. 79.

55 Vgl. Wolfgang Streeck (2015): Wie wird der Kapitalismus enden? Teil II. In: Blätter für deutsche und inter- nationale Politik 4, S. 109–120, hier S. 109.

56 Vgl. Jean-Michel Servet (2009): Toward an alternative economy: Reconsidering the market, the money, and value. In: Chris Hamm, Keith Hart (Hg.): Market and Society. The Great Transformation Today. Cambridge:

Univ. Press, S. 72–90, hier S. 84.

57 Rolf Reißig (2009): Gesellschafts-Transformation im 21. Jahrhundert. Ein neues Konzept sozialen Wandels.

Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, S. 94.

58 Vgl. ebd.

59 Polanyi 2001, S. 136.

(20)

Er betrachtet im Gegensatz zu Marx und Simmel den bereits etablierten Markt, auf dem Waren gehandelt werden, und stellt nicht die Frage nach der Entstehung des Werts und des Tauschhandels. Ihm zufolge sind die sozialen Beziehungen in das Marktsystem ein- gebettet. Das Marktsystem wird von den Preisen bestimmt und hat den Homo oeconomi- cus als Grundlage. Die Preise wiederum werden durch Angebot und Nachfrage bestimmt.

So geht er davon aus, dass scheinbar alles als Ware am Markt gehandelt wird, auch Arbeit, Land und Geld. Hier stellt er aber fest, dass gerade Arbeit, Land und Geld keine Waren sein können, da sie nicht für den Verkauf produziert werden, sondern fiktive Güter sind.

Diese Güterfiktion ist nun das Organisationsprinzip der Gesellschaft, das auch soziale Nachteile mit sich bringen kann. Die von den BürgerInnen erwirkten Schutzmechanismen und Gesetze sind bereits Grenzen der Kommodifizierung, da sie die Menschen vor Un- recht und Ausbeutung schützen. Das Abflachen der Gesellschaft und die marktförmige Organisation der Gesellschaft über Geld und Waren sowie die Herausbildung ungerechter Strukturen bildeten schon bei Marx zentrale Kritikpunkte gegen die Kommodifizierung und den Markt an sich.

2 Z EITGENÖSSISCHE B ETRACHTUNGEN

Mittlerweile leben wir schon lange in der (nach Marx’scher Diktion) kapitalistischen res- pektive neoliberalen, marktzentrierten Ära. Heute stehen nicht mehr ‚traditionelle‘ Güter wie Getreide oder Möbel im Fokus des Interesses, sondern Dinge, von denen wir eigent- lich nicht gewohnt waren, dass sie am Markt gehandelt werden, oder solche, die physisch nicht greifbar sind, wie etwa persönliche Daten. Gerade hier ist der Vorgang, wie etwas zur Ware wird, höchst relevant. Das Grundprinzip hat sich seit Simmel und Marx nicht geändert: Auch Organe, Kinder, medizinische Versorgung, Bildung, Daten, Sex und vieles mehr werden gebraucht, begehrt und immer öfter marktförmig gehandelt. Die Kommo- difizierung von zunehmend mehr Dingen aus verschiedensten Lebensbereichen hat Aus- wirkungen auf die Gesellschaft als Ganzes und auf die persönliche Vorstellung des guten Lebens. Rahel Jaeggi bringt es auf den Punkt, wenn sie schreibt: „Heute kann man nicht

(21)

nur Haus und Hof, sondern auch innere Organe verkaufen, nicht nur Ammendienste an- bieten, sondern als ‚Leihmutter‘ gleich das Austragen des Nachwuchses übernehmen.“60 Nach Jaeggi ist die Kommodifizierung vor allem dann besonders kritisch zu betrachten, wenn Menschen oder individuelle Eigenschaften zum (Ver-)Kauf stehen – es scheint eine Differenz darin zu bestehen, ob jemand ein Organ oder ein KFZ verkauft oder eine Frau ihren Lebensunterhalt als Krankenpflegerin oder als Leihmutter verdient, wenngleich es sich in beiden Fällen um persönliche Dienstleistungen handelt.61 Sie führt dies auf grund- legende Überlegungen zurück:

Sei es nämlich die Kommerzialisierung von öffentlichen Räumen und kulturellen Einrich- tungen oder die Einführung marktförmiger Elemente in Sozial- und Bildungswesen, auch im Hintergrund der Kritik an solchen Entwicklungen stehen häufig Überzeugungen, der- gestalt, daß (zumindest) bestimmte Güter nicht als Ware aufgefaßt werden sollten, weil es ihrem Charakter und ihrer Bedeutung widerspricht, den Gesetzmäßigkeiten des Marktes unterworfen zu werden.62

Jaeggi ortet darin eine Gefahr für „‚Tugend, Liebe, Überzeugung, Wissen und Gewis- sen‘“63. Den hier angerissenen Problemen liegen im Speziellen ethische Fragen zugrunde – deshalb muss die Kritik an der Kommodifizierung stets vor dem Hintergrund ethischer Überlegungen stattfinden. Jaeggi zufolge sind Fragen nach einem gelingenden, guten Le- ben, Selbstbestimmung und -verwirklichung und wie man leben soll und will, letztlich ethische Fragen. Eine Grundvoraussetzung hierbei sei die Annahme, dass der Bereich der Ökonomie auf ethischer Ebene nicht neutral sei, denn sobald gewisse Beziehungen, Fer- tigkeiten und Dinge als Ware respektive handelbares Gut behandelt würden, würden sie nicht nur in ein anderes Element transformiert, sondern es werde auch die Beziehung der Menschen zu diesen Dingen verändert. Der Austausch von Waren am Markt sei gleichzei- tig eine Verdinglichung. Der Markt ist dabei, wie Jaeggi es formuliert, eine „persönlich- keitsneutrale Sphäre“64, in der Menschen als Homines oeconomici agieren. Wie schon bei Polanyi treten also unabhängige Einzelpersonen in eine sachliche, unpersönliche Bezie- hung ein, um zur Verwirklichung ihrer egoistischen Interessen Waren zu tauschen. Wel-

60 Rahel Jaeggi (1999): Der Markt und sein Preis. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 47/6, S. 987–1004, hier S. 987.

61 Vgl. ebd.

62 Ebd., S. 988.

63 Ebd.

64 Ebd., S. 990.

(22)

che persönlichen Charakteristika oder Bedürfnisse dabei die TauschpartnerInnen haben, sei nicht von Interesse, alles laufe auf die Maximierung des Nutzens hinaus, da es nicht zuletzt der Markt sei, der Menschen instrumentalisiere und Eigeninteresse anstatt (intrin- sischem) Interessen der Gemeinschaft fördere.65 Nun sollen verschiedene Theorien zur Kommodifizierung vorgestellt und erläutert werden, um sich näher mit dieser Thematik zu befassen.

2.1 T

HEORIEN DER

K

OMMODIFIZIERUNG

Prinzipiell können verschiedene Arten von Theorien differenziert werden. Eine Gruppe stellen sog. totale Theorien dar, von denen es im Kontext der Kommodifizierung zwei un- terschiedliche gibt – eine, die sagt, alles solle kommodifiziert werden und eine andere, nach der gar nichts kommodifiziert werden solle. Erstere wird z. B. prominent vertreten durch die Chicago school of law and economics; sinnbildlicher Repräsentant für zweitere ist Karl Marx, demzufolge es gar keine Märkte geben solle.66 Diese sind allerdings kein Thema aktueller Diskussionen und wohl aufgrund ihrer jeweiligen Extremposition über- holt. Es gibt neben den totalen auch noch andere Theorien zur Kommodifizierung, näm- lich solche, die zwischen Gütern unterscheiden, die am Markt gehandelt werden dür- fen/sollen und welche nicht. Zwei wichtige Vertreterinnen dieser Theoriebildung sind Eli- zabeth Anderson und Margaret Jane Radin, deren Thesen im Folgenden knapp umrissen werden.

Andersons Grundlage ist eine pluralistische Werttheorie. Das (Be-)Werten spielt eine maßgebliche Rolle bei ihr: „To value something is to have a complex of positive attitudes toward it, governed by distinct standards for perception, emotion, deliberation, desire, and conduct.“67 Sie differenziert zwischen zwei Konzeptionen der Gütervielfalt: Güter sind pluralistisch, weil sie auf ganz unterschiedliche Weise angemessen bewertet werden, sie sind aber auch pluralistisch, weil die Bewertungsstandards, die für sie angewendet werden, schon fundamental verschieden sind.68 Es brauche also auch eine Vielzahl an

65 Vgl. ebd., S. 989f.

66 Vgl. Borgmann 2017, S. 199f.

67 Elizabeth Anderson (1993): Value in Ethics and Economics. Cambridge u. a.: Harvard Univ. Press, S. 2.

68 Vgl. ebd., S. 4.

(23)

Standards, um der Vielzahl an emotionalen Reaktionen und Einstellungen Dingen gegen- über gerecht zu werden.69 Monistische Theorien lehnt Anderson strikt ab: „To adopt a monistic theory of value as our self-understanding is to hopelessly impoverish our respon- sive capacities to a monolithic ‘pro’ or ‘con’ attitude or the mere desire and aversion.“70 Sie betrachtet die Vielzahl von Arten, auf die einem Dinge wichtig sein können, als Quelle des Pluralismus ihrer Werttheorie. Dabei spielen Ideale eine maßgebliche Rolle: Anderson zu- folge sind die Werte, die eine Person hat, von deren Vorstellung abhängig, welche Art von Mensch sie sein möchte und wie ihr Charakter, ihre Sorgen, Einstellungen und Engage- ments gestaltet sein sollen. Diese Ideale legen nun fest, wie sich Menschen verhalten und empfinden – Menschen sind verschiedene Dinge aus verschiedenen Gründen wichtig, An- derson nennt dies die Modi der Wertschätzung, wie Liebe, Respekt oder Bewunderung.71 Die Konzepte vom Verdienen einer Bewertung und der angemessenen Bewertung sind rationale Konzepte: „[P]eople interpret and justify their valuations by exchanging reasons for them with the aim of reaching a common point of view from which others can achieve and reflectively endorse one another’s valuations.“72 Zu beurteilen, ob die Bewertungen anderer Sinn machen, heißt Anderson zufolge zu beurteilen, dass sie von diesem hypo- thetischen Standpunkt aus gutgeheißen werden. Sie nennt in diesem Sinne ihre Wertthe- orie eine Theorie der rationalen Haltung (rational attitude theory).73 Das Werten stelle eine soziale Praxis dar und geschehe immer innerhalb sozialer Gefüge. D. h., „goods differ in kind if people properly enter into different sorts of social relations governed by distinct norms in relation to these goods. It is proper for them to do so if it makes sense to value the goods in the ways expressed by these norms.“74 Es seien also soziale Normen und Standards, die uns das Werten überhaupt ermöglichen; gleichzeitig sei diese soziale Ge- prägtheit der Werte Grund dafür, dass die Kommodifizierung ethische und politische As- pekte tangiere – indem der Warenverkehr eine soziale Praxis sei, bestimme er das Verhal-

69 Vgl. ebd., S. 5.

70 Ebd.

71 Vgl. ebd., S. 5f.

72 Ebd., S. 3.

73 Vgl. ebd., S. 5.

74 Ebd., S. 12.

(24)

ten einzelner gegenüber sich selbst und der Welt mit.75 Andersons sozial begründete, auf Idealen basierende, pluralistische Werttheorie anerkennt die Vielzahl

an bewertenden Einstellungen (wie Liebe, Bewunderung oder Anerkennung),

von Werten oder Standards (wie Schönheit, Loyalität, Gewohnheit), durch die wir Dinge bewerten und unsere Einstellung ihnen gegenüber anpassen,

an verschiedenen Arten von Gütern, die durch unsere komplexen Einstellungen ihnen gegenüber differenziert werden, sowie

von anfechtbaren Idealen, durch die wir versuchen, die Entwicklung unserer Einstel- lungen, Charakter, Werte und Ambitionen zu steuern.76

Nach Rahel Jaeggi sind die pluralistische Verfasstheit der ethischen Sphäre, der Ausdruck von reflektierten Beurteilungen durch Wertungen sowie deren Entstehen innerhalb sozi- aler Kontexte für Andersons Kritik an der Kommodifizierung zentral. Indem Anderson von einem Wertepluralismus ausgeht, ist es nach Jaeggi es nicht möglich, gewisse Dinge miteinander zu vergleichen – so gibt es beispielsweise gute und schlechte Freunde, aber auch gute und schlechte Autos, die alle jeweils auf unterschiedliche Art und Weise ihren Wert haben.77 Die Preisbildung, und damit einhergehend die Kommodifizierung, gestaltet sich als schwierig, wenn es keine gleiche Maßeinheit gibt und eine einheitliche Bewer- tungsgrundlage fehlt. Hinzu kommt, dass verschiedene Dinge für verschiedene Menschen unterschiedlichen Wert haben, nicht zuletzt auch deshalb, weil die Menschen unterschied- liche Ideale haben. In einer Bewertung kommen nämlich nicht zuletzt auch unterschiedli- che Ideale zum Ausdruck. So sind viele Menschen z. B. bereit, für biologisch erzeugtes Gemüse mehr zu bezahlen, für andere hingegen geht es nur um Gemüse.

Radin zufolge können marktförmige und nicht marktförmige Modelle sozialer Beziehun- gen gleichzeitig bestehen, d. h. Kommodifizierung und Nicht-Kommodifizierung treten gemeinsam auf und gerade für die Kommodifizierungsdebatte sind Fälle unvollständiger

75 Vgl. Jaeggi 1999, S. 993.

76 Vgl. Anderson 1993, S. 14f.

77 Vgl. Jaeggi 1999, S. 992f.

(25)

Kommodifizierung (incomplete commodification) von besonderem Interesse.78 Zentrale Rol- len ihres ‚pragmatischen Konzepts‘ spielen ihre Konzeptionen von Eigentum, Persönlich- keit und Veräußerbarkeit. In einer Gesellschaft, in der die Menschen über Eigentum ver- fügen, kann die Selbstkonstituierung auch von Dingen abhängig sein – so differenziert sie zwischen fungiblem Eigentum (fungible property) und persönlichem Eigentum (personal property):

we understand certain categories of property items as being completely interchangeable with others of their kind without loss of value to the person (fungible), and certain catego- ries as being bound up with the person so as to be of unique and nonmonetizable value to the person (personal).79

Während also das fungible Eigentum beliebig veräußert werden kann und keinen beson- deren Wert für den/die InhaberIn aufweist (z. B. Konsumgüter), ist das persönliche Eigen- tum nicht veräußerbar, nicht übertragbar und untrennbar mit dem/der EigentümerIn ver- bunden – es steht mit dem Selbst in Verbindung und eine Trennung des Subjekts davon kann schädlich sein (z. B. Organe, Kinder usw.). Solche Gegenstände können nach Radin nicht durch andere getauscht oder ersetzt werden, ebenso wenig durch Geld, sie weisen somit keinen Tauschwert auf; sie sind nicht kommodifiziert bzw. nur unvollständig kom- modifiziert.80 Aber auch Arbeit und Wohnen können Radin zufolge Beispiele für unvoll- ständige Kommodifizierung sein: Durch Maßnahmen wie Vertragsverhandlungen, Min- destlohn, Höchstgrenzen für die Tages- und Wochenarbeitszeit mit festen Ruhepausen und -zeiten, Gesundheits- und Sicherheitsvorkehrungen, Arbeitslosengeld, Pensionsvor- sorge, Gleichbehandlungsstellen, Mutterschutz und das Verbot von Kinderarbeit wird eine vollständige Kommodifizierung der Arbeit verhindert. Beim Wohnen sind es Maß- nahmen wie Mietpreisbindung, bestimmte Kündigungsfristen und generell der Mieter- schutz, die die unvollständige Kommodifizierung garantierten.81 Solche Regulierungen sind im Übrigen nicht nur als Beispiele für unvollständige Kommodifizierung zu betrach- ten, sondern Formen des Schutzes von Menschen vor Ausbeutung, Diskriminierung und

78 Vgl. Margaret Jane Radin (1996): Contested Commodities. Cambridge, London: Harvard Univ. Press, S. xiii.

79 Ebd., S. 58.

80 Vgl. ebd., S. 60.

81 Vgl. ebd., S. 108.

(26)

Armut. Außerdem dienen sie der Gewährleistung minimaler Gerechtigkeitsstandards, wie sie auch schon Polanyi diskutiert hat.

Radin geht sogar so weit, dass sie die These aufstellt, Fragmente einer nicht marktbe- stimmten Ordnung sind in der Marktgesellschaft eingebettet oder zumindest latent vor- handen.82 Dies zieht Jaeggi zufolge Konsequenzen nach sich: Der Wunsch nach weniger Eingriffen des Marktes in das persönliche Leben erstreckt sich nicht nur auf einen Lebens- bereich, auf eine Sphäre, wie beispielsweise die Arbeit:

Die politische Strategie der ‚Incomplete Commodification‘ zielt dementsprechend auf die rechtlich-politische Regulation des Marktes innerhalb der Sphäre, mit dem Ziel des Schut- zes und der Beförderung nicht-marktlicher Aspekte vor allem dort, wo diese dem Schutz und der Integrität von Personen dienen.83

Dieser Ansatz ist also Jaeggi zufolge in der Hinsicht weitreichender wie viele andere, weil Radin davon ausgeht, dass jede Sphäre Auswirkungen auf die Entfaltung eines Individu- ums hat, auch die des Marktes oder die der Arbeit usw., wodurch bei einer Kommodifi- zierungskritik nicht erst dann angesetzt werden kann, wenn die persönliche Sphäre be- troffen ist. Die zweite Konsequenz ergibt sich für Jaeggi sich aus Radins These, dass einer- seits nicht alles zur Ware wird und es andererseits oft gar nicht möglich ist, bestimmte Güter zur Ware werden zu lassen.84 Hier wird deutlich, dass die persönliche Verwirkli- chung und das Zur-Ware-Werden bestimmter Dinge im Zusammenhang mit Fairness und Gerechtigkeit stehen.

Wenn ‚Incomplete Commodification‘ eine soziale Tatsache ist, kann sich das normative Projekt der Begrenzung der Kommodifikation in pragmatischer Haltung auf vorhandene Ansprüche und existierende Selbstverständnisse stützen, die sich in der sozialen Realität schon vorfinden lassen.85

Dies bringt nach Jaeggi Konflikte mit sich, weil Radins erweitertes Personenkonzept auch die Liste jener Güter massiv erweitert, die quasi ‚unverkäuflich‘ sind, sodass die Trennung

82 Vgl. ebd., S. 30.

83 Jaeggi 1999, S. 1001.

84 Vgl. ebd., S. 1001f.

85 Ebd.

(27)

zwischen verkäuflichen und unverkäuflichen Gütern streitbar bleibt, was das Personen- konzept wiederum ebenfalls streitbar macht.86

Radins Ansatz hat gezeigt, dass unvollständige Kommodifizierung im Sinne der Vertei- lungsgerechtigkeit wichtig ist: Wenn alles über den Markt gehandelt wird, gibt es keinen Schutz der einkommensschwachen Schichten, die derzeit durch gewisse Mechanismen unterstützt werden. Schon Polanyi ist davon ausgegangen, dass Gesetze den Markt korri- gieren und bestimmte Regulierungen als Selbstschutz der Menschen bezeichnet. Darüber hinaus verdeutlicht sie, dass nicht alles Eigentum veräußerbar ist, nur weil es sich dabei um Güter oder Dinge handelt – Dinge können persönlichkeitskonstitutiv und nicht repro- duzierbar sein, weshalb sie hohen ‚emotionalen‘ Wert aufweisen, der mit ihrem ökonomi- schen Wert oftmals nicht kompatibel ist.

Nach Borgmann sind aber sowohl Andersons als auch Radins Theorie nicht ausreichend, um Fragen nach dem guten Leben klären zu können – ihm zufolge bedarf es eines Ansat- zes der moralischen Kommodifizierung. Zunächst aber muss festgehalten werden, dass Kommodifizierung nicht gleich Kommodifizierung ist, weshalb es im Folgenden zwischen ökonomischer und moralischer Kommodifizierung zu differenzieren gilt.

2.2 Ö

KONOMISCHE

K

OMMODIFIZIERUNG

Überwiegend ist mit Kommodifizierung die ökonomische Kommodifizierung gemeint, die in weiterer Folge die moralische bedingt. Ausgehend von Michael Walzers Liste der blockierten Tauschgeschäfte87 identifiziert Borgmann im Speziellen drei Güter bzw. Berei- che, die immer mehr in die Marktsphäre hineingezogen werden: öffentliche Güter, intime Güter und die Schenkökonomie. Borgmann nennt jeweils zentrale Hauptargumente gegen die Kommodifizierung ebendieser Bereiche. Die Kommodifizierung öffentlicher Güter führe zu sozialer Ungerechtigkeit (z. B. Privatisierung der Bildung oder Gesundheit), die Kommodifizierung intimer Güter entwerte etwas, dass uns lieb oder heilig ist (z. B.

Schwangerschaft und Geburt), und die Kommodifizierung der Schenkökonomie verarme,

86 Vgl. ebd.

87 Siehe dazu Abschnitt III, Kapitel 1.2.

(28)

und gefährde womöglich, die Gemeinschaft.88 Offenkundig ist, dass die komplette Ver- marktlichung dieser Bereiche zwangsläufig zu Ungerechtigkeit führt. Im Folgenden wird nun je ein Beispiel für die verschiedenen Bereiche zur Illustration dargelegt und diskutiert.

2.2.1 Kommodifizierung öffentlicher Güter ‒ Gesundheitswesen

Öffentliche Güter zeichnen sich bekanntermaßen dadurch aus, dass das Ausschlussprin- zip nicht anwendbar ist, d. h. dass ihre Nutzung von keiner entgeltlichen Zahlung abhän- gig ist, dass der Konsum nicht rivalisierend ist, also unabhängig von der Anzahl der Nut- zerInnen ist und gleichzeitig von mehreren in Anspruch genommen werden kann, und dass sie aufgrund einer kollektiven Entscheidung (zumeist durch Wahlen) hergestellt wer- den und nicht über den Markt alloziert werden. Nicht alle öffentlichen Güter erfüllen die Kriterien gleichermaßen. Deshalb handelt es sich beispielsweise bei Luft oder Straßenbe- leuchtung genauso um öffentliche Güter wie bei Bildung, Umwelt und Gesundheitswe- sen.89 Gerade das Gesundheitswesen ist immer wieder Brennpunkt öffentlicher Diskussi- onen, besonders wenn es um die sog. Zwei-Klassen-Medizin geht, bei der PrivatpatientIn- nen augenscheinlich eine bessere Behandlung zukommt als PatientInnen, die ‚nur‘ über die gesetzliche Pflichtversicherung verfügen.

Managed care ist ein u. a. von Edmund Pellegrino diskutiertes Schlagwort für Anstöße, die eine (teilweise) Kommodifizierung des Gesundheitswesens befürworten, weil davon aus- gegangen wird, dass durch Wettbewerb eine Qualitätssteigerung erreicht werden kann, indem die AnbieterInnen in Sachen Preis, Qualität und KundInnenzufriedenheit konkur- rieren, um Marktanteile sowie Profite zu erhalten. Die damit verbundene Idee ist, dass

‚KundInnen‘ bzw. ‚KäuferInnen‘ unter den AnbieterInnen den für ihre Bedürfnisse geeig-

88 Vgl. Borgmann 2017, S. 196.

89 Zu diesen Themenbereichen siehe z. B. auch Andreas Fejes und Henning Salling Olesen (2016): Editorial:

marketization and commodification of adult education. In: European Journal for Research on the Education and Learning of Adults 7/2, S. 146–150; Alexander O. Karpov (2013): The Commodification of Education. In:

Russian Social Science Review 54/5, S. 22–37; Allen Buchanan (1987): Justice and Charity. In: Ethics 97/3, S.

558–575; Susan Leubuscher (2004): The Displacement of International Obligations: BITs and the Commodifi- cation of the Environment. In: Proceedings of the Annual Meeting (American Society of International Law) 98, S. 280–283.

(29)

netsten wählen können. In weiterer Folge sollten so Kosten sinken und die Qualität ver- bessert werden, weshalb die medizinische Versorgung dann auf die Ansprüche der Kun- dInnen zugeschnitten sein sollte.90

Bei der Frage nach der Kommodifizierung des Gesundheitswesens geht es um die Bereit- stellung von Betreuung für Menschen, die Pflege, Heilung, präventive Maßnahmen, Bil- dung und Hilfe bei psychologischen Erkrankungen, Krankheiten, Behinderungen, Fehl- funktionen usw. benötigen.91 Im Mittelpunkt der medizinischen Versorgung steht die Be- ziehung zwischen Arzt bzw. Ärztin und PatientIn. Die Kommodifizierung des Gesund- heitswesens und der medizinischen Versorgung würde ethische Konsequenzen für die Beziehung von ÄrztInnen und ihren PatientInnen, für die Beziehungen der ÄrztInnen zu- einander, die um KundInnen rivalisierende Parteien wären, sowie für die Beziehung des gesamten Berufsstands der ÄrztInnen zur ganzen Gesellschaft mit sich bringen.92 Dadurch besteht laut Pellegrino die Gefahr, dass sich das Verhältnis von Arzt bzw. Ärztin und Pa- tientIn ähnlich gestaltet wie beim Handel von Waren, bei dem weder KäuferInnen noch VerkäuferInnen ein persönliches Interesse aneinander oder ein Verhältnis zueinander ha- ben, das über die Transaktion hinausgeht. Das Verhältnis hingegen, das man bei einer medizinischen Behandlung eingeht, ist besonders persönlich und von Vertrauen geprägt.

Pellegrino unterstreicht, dass ÄrztInnen und Pflegepersonal ein über mehrere Jahre er- worbenes Fachwissen haben, das sie nicht einfach verkaufen können – schon deswegen, weil sie sozusagen nicht alleinige BesitzerInnen dieses Wissens sind. Die medizinische Ausbildung und das darin vermittelte und darüber hinaus erworbene Fachwissen stam- men aus langer Forschung sowie Erfahrung und sollte ihm zufolge deshalb nicht wie ein produziertes Gut behandelt werden.93

Darüber hinaus steht eine medizinische Behandlung immer im Zusammenhang mit dem Treffen von Entscheidungen. „Here the major issues are divided loyalty, conflicts of inter-

90 Vgl. Edmund D. Pellegrino (1999): The Commodification of Medical and Health Care: The Moral Conse- quences of a Paradigm Shift from a Professional to a Market Ethic. In: Journal of Medicine and Philosophy 24/3, S. 243–266, hier S. 244.

91 Vgl. ebd., S. 247.

92 Vgl. ebd., S. 244.

93 Vgl. ebd., S. 249f.

(30)

est, conflicts with the traditional ethic of medicine, and challenges to the personal integrity of physicians and nurses.“94 Das Zur-Ware-Werden des Gesundheitswesens bedeutet Pel- legrino zufolge, dass die Beziehung von ÄrztInnen und PatientInnen eine kommerzielle ist und durch die Mechanismen des Marktes, Schadensersatzregelungen und andere ver- tragliche Abmachungen reguliert wird. Profitorientierung und Selbstinteresse, Ungleich- heiten bei der Verteilung medizinischer Serviceleistungen und Behandlungen sind manchmal Folgen daraus. Eine Eingliederung des Medizinalwesens in den Markt hätte zur Folge, dass manche Menschen massiv unter zuvor schlecht getroffenen Vorsorgeent- scheidungen (z. B. Versicherungsvarianten mit niedriger Deckung oder gar keine Versi- cherung) leiden würden – diese Benachteiligung wäre dann zwar unglücklich, aber nicht ungerecht, weil selbstverschuldet.95 „The market ethos does not per se foreclose altruism, but neither does it impose moral duty to help, especially if helping impinges on the pro- prietary rights of others without their consent.“96 Im freien Spiel der Kräfte ist kein Platz für Personen, die nicht ‚mitspielen‘, also Menschen, die arm, nicht versichert oder nicht versicherbar sind; chronisch Kranke, Menschen mit Behinderung, Pflegebedürftige, alte Menschen oder Menschen mit psychischem Leiden hätten keinen Anspruch mehr auf ge- sonderte Behandlung.

Business ethics accepts health care as a commodity, its primary principle is non-ma- leficence, it is investor- or corporate-oriented, its attitude is pragmatic, and it legitimates self-interest, competitive edge, and unequal treatment based on unequal ability to pay. Pro- fessional ethics, on the other hand, sees health care not as a commodity but as a necessary human good, its primary principle is beneficence, and it is patient-oriented. It requires a certain degree of altruism and even effacement of self-interest.97

Gerade wenn Menschen besonders verletzlich und ausbeutbar sind, bedürfen sie beson- deren Schutzes – wenn medizinische Versorgung eine Ware ist und wie jede andere ge- handelt wird, wird nach Pellegrino zur großen Benachteiligung anderer eine Nachfrage bei jenen generiert, die es sich leisten können, während für einkommensschwache Schich- ten kein bzw. nur ein wesentlich schlechteres Angebot besteht.98 Ein Gesundheitssystem,

94 Ebd., S. 251f.

95 Vgl. ebd., S. 252.

96 Ebd. Kursivsetzung im Original.

97 Ebd., S. 254.

98 Vgl. ebd., S. 255.

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