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Sherlock Holmes in Louisiana

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Wieland Schwanebeck

Im Zentrum von True Detective steht die bewährteste Charakterkonstellation, die es im Krimigenre überhaupt gibt: Zwei gegensätzliche Partner werden per Zufall zusammengeführt und engagieren sich gemeinsam für die gute Sache; einer von ihnen (Marty Hart) ist der Watson, d. h. der domestizierte Familienmensch, der die Gemeinschaft beschützt, weil er sich in ihr arrangiert hat, und einer (Rust Cohle) der Holmes, d. h. der exzentrische Außenseiter, der etablierte Formen sozialen Umgangs ablehnt und unkonventionelle Methoden aufbietet. Diese For- mel prägt nicht nur zeitgenössische Krimiserien wie Broadchurch (ITV 2013 ff.), sondern auch das mit dem Genre eng verwandte Buddy-Movie vom Schlage von Lethal Weapon (Richard Donner, 1987) oder Men in Black (Barry Sonnenfeld, 1997). True Detective weist jedoch noch mehr Parallelen zum Erzähluniversum Arthur Conan Doyles auf und kann durchaus als sekundäre Adaption des Holmes- Stoffs – der die bekannte Formel zwar nicht erfunden,1 aber als Apotheose des Genres (vgl. Knight 2004, S. 55) am nachhaltigsten geprägt hat – eingeordnet werden.2 Dies suggeriert nicht zuletzt der immense Fan-Diskurs, der sich um den von Matthew McConaughey gespielten, kryptisch philosophierenden Ermittler

1Die Konstellation kam vor dem sensationellen Erfolg von Sherlock Holmes bereits in Edgar Allan Poes Dupin-Geschichten (bspw. The Purloined Letter, 1844) zur Anwendung.

2So bezeichnet Thomas Leitch Narrative, die bekannte Prätexte in anderen Medienkontex- ten weiterspinnen, „generat[ing] continuing adventures, especially if those adventures fol- low the same narrative formulas over and over again“ (2007, S. 120).

© Springer Fachmedien Wiesbaden 2017 M. Arenhövel et al. (Hrsg.), Wissenssümpfe, DOI 10.1007/978-3-658-13590-4_13 W. Schwanebeck (*)

Institut für Anglistik und Amerikanistik, TU Dresden, 01062 Dresden, Deutschland E-Mail: wieland.schwanebeck@tu-dresden.de

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rankt – eine Verehrung, die in ihrer Zitierfreude und ihrer ikonografischen Dimen- sion durchaus Parallelen zum Sherlock-Holmes-Kult in der Zeit des Fin-de-Siècle aufweist und im Einklang mit Holmes’ Fernseh-Renaissance im neuen Jahrtau- send steht.3

Inwieweit Sherlock Holmes und die kulturelle Topografie der Zeit um 1900 für True Detective Pate gestanden haben, soll im Folgenden untersucht werden.

Dabei wird es nicht nur um intertextuelle Berührungspunkte, sondern auch um eine Verhandlung der ideologischen Rolle des Detektivs sowie die Frage gehen, inwiefern die Serie trotz ihrem im Titel geleisteten Bekenntnis zur generischen Tradition Genre-Topoi weiterdenkt bzw. negiert.

1 1895/1995

Der asoziale Übermensch Cohle zählt ohne Zweifel zum Lager der Holmes-Epi- gonen (zu denen auch der genial-exzentrische Mediziner Gregory House in der Erfolgsserie House, M.D. [2004–2012] gehört): Der von seinem Partner spöttisch als „Mr. Charisma“ titulierte Außenseiter Cohle zieht es vor, allein zu arbeiten, gilt als nicht gesellschaftsfähig bzw. „bad at parties“, zieht Inspiration aus seinen Experimenten mit bewusstseinserweiternden Drogen (so wie Holmes auf die intellektuell stimulierenden Effekte seiner Kokainlösung schwört: „so transcen- dently stimulating and clarifying to the mind“, Conan Doyle 2008, S. 68), er schläft kaum und ist ähnlich widerstandsfähig wie der große Detektiv: „You’re unkillable“, bemerkt sein Partner Marty Hart anerkennend, nachdem Cohle seine Konfrontation mit Errol Childress wundersamerweise überlebt hat (S1E8), so wie Holmes im Kampf mit Professor Moriarty zwar die Reichenbach-Fälle hinabstür- zen (The Final Problem, 1893), aber trotzdem quicklebendig wieder auftauchen sollte (The Empty House, 1903). Cohle scheint einen persönlichen Gedächtnispa- last à la Holmes zu pflegen, und er steht als asexuell lebender Eremit wie sein Vorgänger im Verdacht, queer zu sein: Ab einem gewissen Alter, warnt man ihn, sieht ein alleinstehender Mann einfach suspekt aus. Mehrere Szenen in der Serie verdeutlichen zudem, dass Cohle der wortwörtliche sleuth, also ein Spürhund ist.

Arthur Conan Doyle mag die Figur des pfeiferauchenden armchair detective nicht selbst erfunden haben (Holmes ist bereits selbst eine aus populären

3Sowohl das britische (Sherlock, 2010 ff.) als auch das amerikanische Fernsehen (Elemen- tary, 2013 ff.) haben in der Gegenwart angesiedelte Neuverfilmungen des Stoffs in Serie geschickt, mit House, M.D. (2004–2012) und The Mentalist (2008–2015) haben sich andere erfolgreiche Formate intertextuell deutlich an ihn angelehnt.

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Erzähltrends des späten 19. Jahrhunderts amalgamierte, intertextuelle Sekundär- stufe), die sprichwörtliche Spürnase haben er und sein Illustrator Sidney Paget jedoch zweifelsohne entscheidend geprägt. Watsons erste Beschreibung von Hol- mes in A Study in Scarlet (1887) betont die markante Adlernase des Detektivs;4 noch deutlicher tritt sie hervor, wenn sich Holmes mit seinem treuen Hund Toby in The Sign of Four (1890) auf die Spur des Mörders Jonathan Small begibt oder er selbst gar mit dem Hund von Baskerville überblendet wird (vgl. Bayard 2008, S. 140–143). Der sprichwörtlich gewordene Satz „The game is afoot“, Holmes’

häufig falsch übersetztes Bekenntnis zur (Verbrecher-)Jagd – game bezeichnet hier kein Spiel, sondern das Wild –, klingt in Cohles Erinnerung an gemeinsame Jagden mit seinem Vater an, und leitmotivisch hebt die Serie wiederholt seine Nase hervor. Cohle erschnuppert nicht nur den Alkoholkonsum seiner Kollegen („You guys canvas the bars pretty good today?“, S1E1), sondern auch Martys Ehebruch („Wash up, you got some pussy on you“, S1E2), und er riecht immer wieder rats, d. h. den sprichwörtlichen Braten (S1E4). Durch seine Nase konsu- miert Cohle das Kokain, das ihn zu seiner immensen Energieleistung im Under- cover-Einsatz beflügelt, und aus den beiden intensiv geführten Prügeleien, die er im Verlauf der Serie absolvieren muss (mit Marty in Folge 6, mit Errol Childress im Staffelfinale), geht er zwar derangiert, jedoch – im Unterschied zu seinen Kon- trahenten – mit vollkommen intakter Nase hervor (Abb. 1 und 2).

Darüber hinaus ist auch True Detective eine serielle Erzählung vom Ende des Jahrhunderts, die sich hinsichtlich der in ihr verhandelten Ängste in die kulturellen Koordinaten des Fin-de-Siècle einpasst. Indem sie zwischen den Zeitebenen 1995 und 2012 changiert, spannt die Serie in etwa die identische Klammer wie Conan Doyles Holmes-Geschichten auf: 1895 (also genau 100 Jahre zuvor) wird sowohl von Fans als auch Forschern als das quintessenzielle Holmes-Jahr angesetzt, das dem mit den Storys assoziierten soziokulturellen Klima am nächsten kommt. Vincent Starrett hat diesen Chronotopos in seinem bekannten Sonett 221B (1942) eingefangen: „Here, though the world explode, these two survive, / And it is always eighteen ninety-five“ (zit. nach Redmond 2009, S. 260). Eine Idee von Vergänglichkeit liegt über diesem imaginierten 1895, eine Ahnung, dass es im Ausklingen des Jahrhunderts eines wahrhaf- tigen Übermenschen (wie des genialen Detektivs, der ja v. a. eine restaura- tive Figur ist) bedarf, um sich gegen die Veränderung zu stemmen. Königin

4„His eyes were sharp and piercing, save during those intervals of torpor to which I have alluded; and his thin, hawk-like nose gave his whole expression an air of alertness and decision“ (Conan Doyle 2001, S. 16).

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Victoria vereidigt 1895 mit Robert Gascoyne-Cecil ihren letzten Premierminis- ter, imperiale Konflikte und technische Neuerungen sind emergent vorhanden, brechen aber noch nicht hervor, der Oscar-Wilde-Prozess wird zur letzten gro- ßen Bewährungsprobe eines überholten Wertesystems.

In einer einzigen kanonischen Geschichte (His Last Bow, 1917) bricht Conan Doyle mit seiner starren Zeitrechnung und lässt Holmes und Watson als gealterte Abb. 2 Cohles Spürnase bleibt unversehrt. Standbild aus True Detective (USA 2014) (DVD, Warner Home Video) S1E8 Minute 42

Abb. 1 Cohles Spürnase bleibt unversehrt. Standbild aus True Detective (USA 2014) (DVD, Warner Home Video) S1E6 Minute 52

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Patrioten auftreten, die zu Beginn des Ersten Weltkriegs (die Story spielt 1914) einen deutschen Spion enttarnen: „Good old Watson!“, würdigt Holmes seinen Kompagnon, „[y]ou are the one fixed point in a changing age“ (Conan Doyle 2008, S. 435). In den folgenden, bis 1927 folgenden Storys bewegen sich die Charaktere wieder in ihrer vertrauten zeitlichen Umgebung, die nach der Zäsur des Krieges mehr und mehr in die Distanz rückt bzw. aus der Perspektive des gealterten, sein Archiv sichtenden Dr. Watson mit immer unverhohlenerer Nost- algie gezeichnet wird. Holmes avanciert graduell zum Sinnbild einer vermeintlich intakteren Ära, zur letzten Bastion des alten Jahrhunderts: vor dem Ersten Welt- krieg, vor dem Bedeutungsverlust des britischen Empires.

So, wie sich die Holmes-Geschichten ihr verklärtes 1895 erfinden, so konstru- iert auch True Detective das Jahr 1995 als einen Fixpunkt in der Vergangenheit, den das Publikum (bedingt durch die Rückblendenstruktur) als eine Art Latenz- jahr zu lesen animiert wird, als ein erzählerisches „noch nicht (ganz)“. Bezogen auf den Erzählkontext ist dieses 1995 das Jahr, in dem Hart noch nicht die Polizei verlassen hat, in dem Cohle noch nicht zum abgemagerten sozialen Außenseiter mit Vollbart avanciert ist und die Ermittlungen gegen Hart und Cohle noch nicht eingeleitet worden sind. In einem größeren Zusammenhang denken wir uns die- ses 1995 von heute aus, ähnlich wie das Jahr 1895 bei Holmes, natürlich auch als ein Jahr vor historischen Zäsuren (wie dem 11. September und dem Hurri- kan Katrina) und technischen Neuerungen (wie der digitalen Revolution, die in True Detective das an Jorge Luis Borges’ babylonische Bibliothek erinnernde Archiv ablöst). Retrospektiv lesen wir auch Sherlock Holmes im Lichte dieses

„noch nicht“ und ergänzen ein „vielleicht ja schon“, suchen nach Brüchen in den Geschichten, die eigentlich einen funktionierenden Heilmechanismus der Gesell- schaft abbilden, aber dennoch mit jeder epistemischen Grenzerfahrung auf das unvermeidliche Ende der Epoche vorausdeuten. Brüche dieser Art fallen v. a. auf das fragile zivilisatorische Selbstverständnis zurück.

2 Das zivilisatorische Unbehagen

Dass Holmes seine Spürnase zum Wohle der Gemeinschaft einsetzt, verdeckt nur notdürftig, dass diese von einem Außenseiter beschützt werden muss, der nicht nur den Wissenschaftsoptimismus des vermeintlich kultivierten Zeitalters verkörpert, sondern auch Gemeinsamkeiten mit dem Tier aufweist. In diesen Momenten (ganz deutlich im Hound of the Baskervilles, 1902) schreibt sich der zeitgenössische Diskurs um Degeneration und Regress in die Geschichten ein, und beschleicht die im Bann von Charles Darwin stehenden Viktorianer eine

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Ahnung, dass sich der Mensch lediglich als evolutionärer Glücksfall über das Tier erhoben hat. In einer der meistzitierten Stellen der viktorianischen Literatur räso- niert William Hale Whites autodiegetischer Erzähler Mark Rutherford: „Our civi- lization seemed nothing but a thin film or crust lying over a volcanic pit“ (1899, S. 65); Sigmund Freud wird später mit seinem Unbehagen in der Kultur (1930) hieran anschließen und erörtern, wie sich die vermeintliche Krone der Schöpfung zum größten Massenmord der Geschichte aufschwingen kann. Freuds Ahnung, der Mensch sei kein „sanftes, liebebedürftiges Wesen“, sondern ein triebgesteuer- tes Wesen mit einer durch die Kultur (sowie durch die christliche Moral) lediglich gebremsten „Aggressionsneigung“, wird historisch bestätigt; der Nächste ist dem Subjekt

eine Versuchung, seine Aggression an ihm zu befriedigen, seine Arbeitskraft ohne Entschädigung auszunützen, ihn ohne seine Einwilligung sexuell zu gebrauchen, sich in den Besitz seiner Habe zu setzen, ihn zu demütigen, ihm Schmerzen zu bereiten, ihn zu martern und zu töten. […] Wer die Greuel der Völkerwanderung, der Einbrüche der Hunnen, der sogenannten Mongolen unter Dschengis Khan und Timurlenk, der Eroberung Jerusalems durch die frommen Kreuzfahrer, ja selbst noch die Schrecken des letzten Weltkrieges in seine Erinnerung ruft, wird sich vor der Tatsächlichkeit dieser Auffassung demütig beugen müssen (Freud 1993b, S. 102).

Wenn Freud angesichts dieses Destruktionstriebs von der „unleugbare[n] Exis- tenz des Bösen“ (ebd., S. 108) spricht, wird nachvollziehbar, wieso um 1900 im Schatten des emphatischen Bekenntnisses zur Ratio und zum kollektiven Wissen- schafts- und Fortschrittsoptimismus auch das Okkulte und der Spiritismus florie- ren. Arthur Conan Doyle besuchte Séancen und widmete sich der spirituellen Fotografie; viele seiner Leser dürften auch dem in True Detective verewigten King in Yellow aus der Feder von Robert W. Chambers (ebenfalls 1895 publi- ziert), dieser exzentrischen Mischung aus Weltverschwörung, okkulter Geheim- bündelei und Alchemie im Geist der schwarzen Romantik, zu Bestsellerweihen verholfen haben.5 An der Schnittstelle zwischen beiden Bewegungen sind diejeni- gen Disziplinen angesiedelt, die nach ihrem Boom um 1900 heute allenfalls noch als Kuriosa in der Wissenschaftsgeschichte verzeichnet werden, allerdings in populären Stoffen wie True Detective noch unterbewusst vorhanden sind: die

5Mit dem Motiv der fatalen Lektüre, das Chambers einigen Skandalbestsellern seiner Zeit wie Joris-Karl Huysmans’ A Rebours (1884) und Oscar Wildes The Picture of Dorian Gray (1891) abgelauscht hat (ersteres taucht in letzterem als mysteriöses „yellow book“ auf), schreibt sich eine weitere Signatur der Fin-de-Siècle-Zeit in Pizzolattos Serie ein.

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Ausläufer der Kriminalanthropologie, die Darwins Axiome aufgreifen. Postuliert die von Benedict Morel um 1850 geprägte Degenerationslehre zunächst, dass Organismen v. a. ihre nützlichen und produktiven Charakteristika an die nächste Generation weitergeben und dass daher von einer progressiven Entwicklung aus- zugehen ist, so geht die Milieutheorie Ende des Jahrhunderts noch um einiges weiter. Durch verderbende Einflüsse des Milieus oder eine vererbbare Anfällig- keit könne es auch zu einem Atavismus, d. h. zu einem evolutionären Rückschritt kommen, der das Tierische im Menschen wieder ausbrechen lässt – vom Biologi- schen abstrahiert man ins Soziale; in der Empfehlung, den bedrohten Stamm durch Kreuzung mit besserem Blut zu heilen und eine unheilbare „Entartung“ zu verhindern, durchmischen sich beide Kategorien mit fatalen Konsequenzen. Der Kriminalanthropologe Cesare Lombroso knüpft mit seiner Delinquententheorie hieran an, bei der er auf der physiognomischen Ebene argumentiert und eine Kör- persemiotik des Kriminellen entwirft. In seiner berühmten Studie des Banditen Giuseppe Vilella schlussfolgert Lombroso, bei Vilella handle es sich um ein ata- vistisches Wesen, dessen Physiognomie (Schädel, Haaransatz, Zähne) die niede- ren Instinkte einer primitiveren Stufe der Menschheit und der Tiere spiegle.

True Detective zehrt noch von diesem Geist, wenn sich die Serie an die Peri- pherie der Zivilisation begibt und den hillbilly- bzw. backwoods-Horror anzitiert.

In Filmen wie Deliverance (John Boorman, 1972) oder The Texas Chain Saw Massacre (Tobe Hooper, 1974) stranden zivilisatorisch ,verweichlichte‘ Städter jenseits des urbanen Raums in einer gesetzlosen Wildnis, um dort von degene- rierten, im Inzest lebenden Kannibalen-Clans nach allen Regeln des survival of the fittest massakriert zu werden. Diesen Monstern ist ihr atavistisches Naturell regelrecht ins Gesicht geschrieben – durch archaische Praktiken und Inzucht über Generationen haben sie entmenschlichte Formen angenommen. Die Gewaltdar- stellung in diesen Filmen geht an die Grenzen des Zumutbaren; nicht umsonst wird das Videoband mit dem Mitschnitt des heidnischen Ritualmords an Marie Fontenot in True Detective dem Zuschauer größtenteils vorenthalten (S1E7).

Dass Rust Cohle als Einziger dem Wahnsinn beikommen kann, steht eben- falls ganz in der Tradition Lombrosos. In seiner Studie über Genie und Entartung (1872) zieht er Parallelen zwischen dem Genie und dem degenerierten Indivi- duum: Beide seien anfällig für Alkoholismus, Epilepsie, Missbildung und Geis- teskrankheit, und beide zeichneten sich durch gesteigerte Sinnesempfänglichkeit auf – Cohles als „hypersensitivity“ ausgewiesene synästhetische Erfahrungen durchziehen die Serie als Leitmotiv. Aus Biografien großer Individuen schlussfol- gert Lombroso,

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daß der in so vielen Beziehungen in der Entwicklung vorauseilende Genius sowohl in manchen Richtungen überhaupt, wie auch an dem Organ, das Sitz und Ursprung der Genialität selbst ist, mit einer Entwicklungshemmung oder einer Rückbildung behaftet sein kann. So erklärt es sich auch, wenn häufig körperliche und seelische Abnormitäten […] vom Genie mitgebracht werden oder sich bei ihm festsetzen kön- nen, ein schmerzlicher Tribut, mit dem der große Vorzug oft bezahlt werden muß (1910, S. 22).

Die Beschützer der Zivilisation, die Pioniere der Höherentwicklung sind also im Grunde aus demselben Holz geschnitzt wie die Wilden, die Troglodyten. Tatsäch- lich suggerieren zahlreiche Stellen in True Detective, dass der zwischen Feingeist und Monster oszillierende Errol Childress die Inversion von Rust Cohle darstellt.

Beide sind auf dem Rasenmäher unterwegs; ähnlich dem Propheten Cohle rech- net sich Childress in seinem Wahn einer höheren Sphäre zu („Some mornings I can see the infernal plane“, S1E8). Hinsichtlich der Heilands-Analogien sind die Sympathien der Serie freilich klar verteilt: Dem an einem Märtyrerkomplex laborierenden Serienmörder (der im selben Atemzug auch von seiner „ascension“, also seiner Himmelfahrt fantasiert) kaufen wir seine messianischen Anwandlun- gen nicht ab, weil sie nur Lippenbekenntnisse bleiben, wohingegen Cohle auch im Mise-en-scène wiederholt als Jesus-Wiedergänger akzentuiert wird (vgl. den Beitrag von Christian Schwarke in diesem Band).

Die Kriminal- und Horrorliteratur um 1900 macht sich einen Spaß daraus, mit dem schmalen Grat zwischen Kultur und Bestialität zu spielen und die betreffen- den Ängste zu schüren. Eine Gesellschaft, der eingeimpft worden ist, sie stelle den Höhepunkt der Evolution und des Fortschritts dar, die sich im imperialisti- schen Projekt eine Zivilisierungsmission für die restliche Welt verordnet, aber zugleich den Fall Jack the Ripper verarbeiten muss, liest Geschichten wie Robert Louis Stevensons Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde (1886), in denen sug- geriert wird, das Böse tarne sich in unserer Mitte erfolgreich als zivilisiert. Bei Stevenson posiert es unter der Maske eines angesehenen Arztes, in True Detective kommt es uns als hilfsbereiter Gärtner auf dem motorisierten Rasenmäher entge- gen (Abb. 3).

Auch wenn Detektivgeschichten nicht immer Symbiosen mit dem Horrorgenre eingehen (Conan Doyles Hound of the Baskervilles tut es, unter Aufbietung aller Regressions-Ängste der zeitgenössischen Diskussion), handeln sie unterschwellig immer von der drohenden Gefahr eines zivilisatorischen Rückschritts. Die Ermitt- lung dreht sich um das Problem einer „blutige[n] Rückkehr des Verdrängten“, wie Dieter Wellershoff in seiner Studie zum Kriminalroman resümiert. „Da ist jemand den direkten, den kurzschlüssigen Weg gegangen und hat damit den kulturellen Schein verletzt, daß alle das sind, was sie zu sein vorgeben, brave, angepaßte

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Bürger“ (1975, S. 67). Der Tuttle-Clan ist die dynastische Personifizierung dieser Janusköpfigkeit – das unverbindliche Lächeln des bigotten Politikers verbirgt die Fratze des Troglodyten.

3 Symptomatologie

Zum Sherlock-Holmes-Mythos zählt auch das fälschlicherweise als Deduktion bezeichnete Schlussverfahren, für das Conan Doyles Erzählungen stilprägend gewirkt haben und das programmatisch in zwei frühen Holmes-Romanen for- muliert wird. Sowohl A Study in Scarlet als auch The Sign Four beinhalten ein mit „The Science of Deduction“ überschriebenes Kapitel, in dem Holmes Proben seiner Kunst gibt und den Publikumsstellvertreter Watson über seine Methoden belehrt. Bei der Detektion, so doziert Holmes, handle es sich um eine exakte Wis- senschaft, die mit logischer Genauigkeit zu betreiben ist:

From a drop of water […] a logician could infer the possibility of an Atlantic or a Niagara without having seen or heard of one or the other. […] Like all other arts, the Science of Deduction and Analysis is one which can only be acquired by long and patient study nor is life long enough to allow any mortal to attain the highest possi- ble perfection in it. By a man’s finger-nails, by his coat-sleeve, by his boot, by his trouser-knees, by the callosities of his forefinger and thumb, by his expression, by his shirt-cuffs – by each of these things a man’s calling is plainly revealed (Conan Doyle 2001, S. 20, Hervorhebung W.S.).

Abb. 3 Der Mörder ist (manchmal) der Gärtner. Standbild aus True Detective (USA 2014) (DVD, Warner Home Video) S1E7 Minute 49

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Aufgabe des Detektivs ist es also, aus vereinzelten Indizien eine hypothetische Erzählung abzuleiten, die alle relevanten Spuren berücksichtigt – ein grundlegen- der Mechanismus des Krimigenres, das dem Ermittler in letzter Instanz die Rolle eines privilegierten intradiegetischen Erzählers zuweist, der über die ihm zugetra- genen Narrative Gericht hält und sie in einer sinnstiftenden Meta-Erzählung syn- thetisiert. „You’re looking for a narrative“, weiß auch Marty Hart von der Arbeit der Ermittler zu berichten. „Interrogate witnesses. Parcel evidence. Establish a timeline. Build a story – day after day“ (S1E2). Der Holmes-Epigone Rust Cohle ist ganz bei seinem Vorbild, wenn er diesen Prozess abkürzt und in Sekunden- schnelle die Geschichte rekonstruiert: „Look into their eyes, the story’s right there“ (S1E3). Und noch zugespitzter in der zweiten, „Seeing Things“ betitelten Folge: „Vision is meaning“ (S1E2).6

Was dabei zur Anwendung gelangt, ist freilich keine Deduktion, denn bei letz- terer wird per Syllogismus aus gesicherten Prämissen eine Konklusion abgeleitet, ohne dass das im Kern tautologische Verfahren einen Erkenntnisgewinn produ- ziert – bei der Holmes-Methode handelt es sich vielmehr um eine Abduktion. Als Vorreiter dieses Ende des 19. Jahrhunderts popularisierten und von Charles San- ders Peirce umfassend beschriebenen Verfahrens gilt der Kunsthistoriker Giovanni Morelli, der (was kein Zufall ist) ebenso wie Sigmund Freud oder Arthur Conan Doyle eigentlich Medizin studiert hatte. Alle drei übertragen die klassische Symp- tomatologie auf ihre jeweiligen Arbeitsfelder – so verwendet Morelli den morpho- logischen Detailvergleich im Kontext der kunstwissenschaftlichen Stilattribution, um jenseits einschlägiger Paradigmen wie Farbgebung oder Bildkomposition die Echtheit von Bildern aus vermeintlich nebensächlichen Details wie Augen, Haaren oder Händen abzulesen (vgl. Bohde 2012, S. 51–56). Was Morelli in den 1870er- Jahren unter dem Pseudonym Ivan Lermolieff behauptet und praktiziert, kam einer Provokation der Kunstgeschichte gleich, die zur Echtheitsfeststellung von Kunstwerken bis dato v. a. dem Archiv und der historischen Dokumentation, nicht dem Formvergleich selbst vertraut hatte (vgl. Pfisterer 2007, S. 94–98). Obwohl die Methode strittig und in ihrem Vertrauen auf die Intuition des Interpreten letzt- lich begrenzt aussagefähig ist, wurde sie bald auch in anderen Disziplinen wie der Archäologie praktiziert. Freud wird später zugeben, Morelli sei ein wichtiger Vor- läufer der Psychoanalyse gewesen, denn auch diese errät „aus geringgeschätzten oder nicht beachteten Zügen, aus dem Abhub – dem ,refuse‘ – der Beobachtung,

6Paradigmatisch wird dies hier vorgeführt, als erst die derangierten Hände und Fingernägel von Dora Langes Mutter per Close-up ins Bild gerückt werden und dann die biografische Erzählung folgt.

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Geheimes und Verborgenes“ (Freud 1993a, S. 68 f.). Das führt uns freilich zu Sherlock Holmes zurück, der sich u. a. rühmt, 140 verschiedene Arten von Tabak- asche unterscheiden zu können (Conan Doyle 2008, S. 71), und der auf Finger- abdrücke sowie umfangreiche Datenarchivierung schwört. Hier wie da ist „das Modell der medizinischen Semiotik“ am Werk, „die es erlaubt, die durch direkte Beobachtung nicht erreichbaren Krankheiten anhand von Oberflächensymptomen zu diagnostizieren, die in den Augen eines Laien – etwa Dr. Watsons – manchmal irrelevant erscheinen“ (Ginzburg 1995, S. 14 f.).

Somit bedienen sich Detektive, Kunstwissenschaftler und Psychoanalytiker analoger symptomatologischer Denkfiguren. In Krimis wie True Detective ist von diesem interdisziplinären Zauber noch viel vorhanden. Rust Cohle personifiziert ihn, wenn er, der für sein großes Registerbuch von den Kollegen als „tax man“

verspottet wird, am Tatort wie ein Kunststudent operiert (Abb. 4). Der Forensi- ker hat kurz zuvor das Handtuch geworfen und seine Kollegen mit der Bemer- kung zurückgelassen, angesichts der Vielzahl heidnischer Symbole sei hier wohl eher ein Anthropologe gefragt (S1E1) – Cohle wird im Interview später darü- ber sinnieren, er hätte auch Historiker oder Maler werden können („Old scenes, new details“, S1E7); sein methodologisches Programm ist der reine Morelli: „Of course, I’d always taken a lot of notes. I mean, you never know what the thing’s gonna be, do you? The little detail, somewhere way down the line […] [that]

breaks the case“ (S1E1). Indem er Spuren sammelt, anatomische Details studiert und Skizzen anfertigt, bezeugt Cohle den Tatort auch als Stätte einer ästhetischen

Abb. 4 Cohle als Ästhet. Standbild aus True Detective (USA 2014) (DVD, Warner Home Video) S1E1 Minute 8

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Erfahrung: „The cane fields are his stage“, mutmaßt er über den Täter (S1E3).

Die Verknüpfung von crimen und ästhetischer Erfahrung lässt ebenfalls das ausgehende 19. Jahrhundert anklingen: Oscar Wildes satirische Würdigung des Giftmischers Thomas Wainewright (Pen, Pencil, and Poison, 1889) ist der bekannteste zeitgenössische Text zur Verbrechenskunst, und postmoderne Psy- chothriller wie The Silence of the Lambs, (Jonathan Demme, 1991) oder Copycat (Jon Amiel, 1995) haben mit ihren u. a. auf die Geschichte der abendländischen Malerei anspielenden Tatorten diesen Topos geradezu fetischisiert.

True Detective geht noch einen Schritt weiter und inszeniert seine Spuren- funde als regelrecht sublim-religiöse Erfahrungen. Cohles Fund im verlassenen Schulgebäude evoziert die Elevation der Heiligen Messe, das Erheben der Zeleb- rationshostie und des Messweins (Abb. 5 und 6). Freilich deutet schon das Setting

Abb. 5 Der Detektiv als Hohepriester. Messe mit Wandlungskerze (Beuron 1910) (Wikimedia Commons, https://commons.wikimedia.

org/wiki/File:Messe_mit_

Wandlungskerze_Beuron.jpg)

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an, dass es hier zu einer Profanisierung ikonografischer Tradition kommt: Über eine Gemeinde verfügt Cohle als Zelebrant ebenso wenig wie über göttliche Erleuchtung; die illuminatio bleibt auf eine natürliche Lichtquelle angewiesen.7 Nicht nur an dieser Stelle wird True Detective auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt: Cohle, der wie ein Kunstsachverständiger über die Signatur des Täters räsoniert, muss am Ende erkennen, dass er (im Unterschied zu Morelli) keinem Kunstmaler, sondern einem Anstreicher auf der Spur ist.

Augenscheinlich ist True Detective auch methodisch noch ganz bei Sherlock Holmes und den Symptomatologen des Fin-de-Siècle – ein genauer Blick ent- hüllt jedoch, dass die Serie auf der detektivischen Metaebene deutlich über die Grenzen des Krimigenres und tradierte Formeln hinausgeht. Marty Hart ist ein

7Für seine hilfreichen Kommentare zur Ikonografie dieser Szene danke ich Jürgen Müller (TU Dresden).

Abb. 6 Der Detektiv als Hohepriester. Standbild aus True Detective (USA 2014) (DVD, Warner Home Video) S1E5 Minute 54

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deutlich kritischerer, komplexerer Watson, als wir es von der traditionellen Kri- miformel gewohnt sind. Gegenüber dem philosophisch bewanderten Bücherwurm an seiner Seite zeigt er sich von Anfang an skeptisch und kritisiert dessen vorei- lige Hypothesenbildung: „You got a chapter in those books on jumping to con- clusions? You attach an assumption to a piece of evidence. You start to bend the narrative to support it. Prejudice yourself“ (S1E1). Hart kritisiert, dass Cohle die Spuren seiner Geschichte anpasst (nicht die Geschichte den Spuren), und bekräf- tigt damit, dass Spurenlesen bereits einen Akt der Interpretation impliziert – es kommt einem Schreibakt gleich, im Zuge dessen Gegenstände als Spuren (und nicht als bloße Hinterlassenschaften) codiert werden (vgl. Kessler 2012, S. 98).

Um darüber zu entscheiden, was Spuren sind, muss der Detektiv bereits ein sinn- stiftendes Narrativ aufwenden (vgl. Reichertz 2007, S. 324). Eben weil die Aus- wahl der Details willkürlich und im Licht der gefassten Hypothese erfolgt, besitzt die Abduktion kreatives Potenzial, was zwangsläufig nach sich zieht, dass das Ergebnis auf deutlich wackligeren Füßen steht als beim Syllogismus. Zur wahr- scheinlichsten Erklärung gelangt der Detektiv, indem er kreative Imagination aufbietet, d. h. „Inspiration, Intuition oder Spekulation“ (Klein und Keller 1998, S. 433). Mit anderen Worten: Der Detektiv nennt das, was er praktiziert, eine Deduktion, um seinem Gedankenfluss einen Anstrich von Sicherheit zu verlei- hen, der eigentlich nicht gerechtfertigt ist. Das spricht nicht gegen die Abduktion als Methode – für Peirce ist sie sogar die wissenschaftliche Methode schlechthin, obwohl sie letztlich ein Ratespiel („nothing but guessing“, Peirce 1979, S. 137) bleibt. Der Erkenntnisfortschritt bedarf freilich dieser kreativen Hypothesenbil- dung, die in den meisten Fällen in die Irre führen mag. Kritisch zu hinterfragen ist die absolute Sicherheit, mit der die Kriminalerzählung Abduktion als Deduk- tion und ihre spekulative Interpretationsarbeit als logische Schlussfolgerung camoufliert, während sich abduktive Schlüsse de facto „einer Kontrolle durch die Gesetzmäßigkeiten der Logik [entziehen]“ (Kessler 2012, S. 113). Sherlock Hol- mes, dem die kurze Inspektion einer Uhr genügt, die komplette Biografie ihres Besitzers korrekt zu erschließen (Conan Doyle 2008, S. 73–75), wird so zum Zauberkünstler von messianischer Strahlkraft.

4 Jenseits der Krimiformel

Vor diesem Hintergrund ist die Szene in der Folge „The Locked Room“ (S1E3), in der Cohle und Hart einen evangelikalischen Gottesdienst besuchen, auch die ironischste der ganzen Serie. Aus einer abfälligen Bemerkung Cohles über den

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beschränkten Horizont der frommen Gemeinde entspinnt sich ein Zwist zwischen beiden Ermittlern, der in folgendem Monolog Cohles über die intensive Perfor- mance des Priesters Joel Theriot kulminiert:

Transference of fear and self-loathing to an authoritarian vessel. It’s catharsis. He absorbs their dread with his narrative. Because of this, he’s effective at proportion to the amount of certainty he can project. Certain linguistic anthropologists think that religion is a language virus that rewrites pathways in the brain. Dulls critical thinking.

Cohle kritisiert den Geistlichen also dafür, dass dieser seiner Gemeinde eine kathartische Erfahrung gestattet, indem diese ihre Ängste und Selbstzweifel auf seine Autorität projiziert, durch seine Erzählung ihrer Ängste enthoben und zugleich ihrer Fähigkeit zum kritischen Denken beraubt wird. Damit beschreibt er aber natürlich nicht (nur) den religiösen Ritus, sondern auch die ideologische Funktion seiner eigenen Rolle: der des Detektivs, der Sicherheiten vermittelt, wo es keine gibt. Es ist nämlich weder in der Detektiverzählung des ausgehenden 19.

Jahrhunderts noch in der zeitgenössischen Krimiserie allein der Priester, der (wie Cohle abfällig über Theriot bemerkt) für eine autoritätshörige Horde von Verun- sicherten als „light at the end of the tunnel“ herhalten muss (S1E3). Cohle selbst tritt in True Detective nicht nur als Christus-Wiedergänger, sondern auch als pro- phetisches Sprachrohr auf und spricht sich in derselben Folge die Fähigkeit zu,

„[to] mainlin[e] the secret truth of the universe.“ Seine Semantisierung als Pro- phet und Hohepriester wird nicht nur in der bereits zitierten Anspielung auf die Eucharistiefeier, sondern auch in Harts sarkastischem Kommentar deutlich, sein Kollege halte sich für unfehlbar und sein Notizbuch für eine Steintafel (S1E3).

Seine Hybris gegenüber dem Geistlichen holt Cohle am Schluss beinahe wie- der ein, als er nach seiner persönlichen epiphany doch noch seinen sprichwörtli- chen Platz unterm Himmelszelt einnimmt – Cohles mit steinernem Gesichtsausdruck vermittelter Bierdosen-Nihilismus scheint einem wörtlichen Evangelium, d. h. einer ,frohen Botschaft‘ gewichen. Conan Doyle verzichtet in seinen Holmes-Geschichten auf eine solch transzendentale Schlussvolte, woge- gen sie etwa der in True Detective verewigte Robert W. Chambers in seiner spiri- tuellen Weiterentwicklung der Detektivgeschichte vollführt. In Chambers’ auf The King in Yellow folgenden Erzählungen wie The Tracer of Lost Persons (1906) avanciert der Detektiv Westrel Keen zum Mystiker, der als gottgleicher Allüber- wacher mit einem Netzwerk aus Helfern die irdischen Geschicke lenkt und die

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Abduktion dermaßen perfektioniert hat, dass er – auf ,wissenschaftlicher‘ Grund- lage – sogar Ehen stiftet.8

Es wäre aber falsch, True Detective in dieser Tradition als eine Art spirituellen ,Übererfüller‘ der Krimitradition zu lesen, der den Detektiv bruchlos zur messia- nischen Lichtgestalt überhöht. Dafür ist die Serie auf der story- wie auch auf der discourse-Ebene zu komplex und verweigern sich die Figuren einer bloßen Rolle- nattribution im Sinne funktionaler flat characters. Wie die Serie über ihre beiden Zeitebenen die Charaktere entwickelt, geht weit über die konventionelle Erschei- nungsform der Gattung hinaus. Im Finale stellt True Detective die Watson/Hol- mes-Formel gar völlig auf den Kopf: Auf die Spur des Täters gelangen die Ermittler nicht allein durch Cohles Geschick, sondern durch eine Inspiration Harts, der anhand einer Kinderzeichnung die richtige Abduktion vollführt.9 Die- ses Kunststück ist noch einmal ein Gruß aus dem Krimiarchiv, wenn auch ein ver- gifteter: Hier wird Friedrich Dürrenmatts zynisches, als „Requiem auf den Kriminalroman“ untertiteltes Versprechen (1958) zitiert, wo Kommissar Matthäi in einer Zeichnung der kleinen Gritli Moser den entscheidenden Hinweis erkennt – allerdings führt ihn seine Ermittlung nicht zum Erfolg, sondern aufgrund eines bizarren Zufalls in den Wahnsinn, und Dürrenmatts Erzähler kann nur noch kons- tatieren, nichts sei „grausamer als ein Genie, das über etwas Idiotisches stolpert“

(Dürrenmatt 1997, S. 136). True Detective endet da deutlich versöhnlicher, löst sich allerdings ebenfalls aus der Umklammerung generischer Prätexte – galt das Interesse zunächst stark dem von Roland Barthes in S/Z (1970) beschriebenen hermeneutischen Rätselcode, der v. a. semantische Leerstellen füllen und Fragen beantwortet sehen möchte, bekennt sich die Erzählung am Schluss zur Nichtver- stehbarkeit: Weder werden der heidnische Kult und das Täternetzwerk der Tuttles

8So belehrt Keen seinen Klienten darüber, er könne wissenschaftlich belegen, dass dieser verliebt sei: „,I have reduced the superficial muscular phenomena and facial symptoma- tic aspect of such people to an exact science founded upon a schedule approximating the Bertillon system of records. And,’ he added, smiling, ,out of the twenty-seven known vocal variations your voice betrays twenty-five unmistakable symptoms; and out of the sixteen reflex muscular symptoms your face has furnished six, your hands three, your limbs and feet six‘“ (Chambers 2004, Pos. 944–946).

9Eine Inversion des klassischen Holmes/Watson-Paradigmas findet auch beim Casting statt – nicht nur, weil hier zwei Filmstars mit ihrem Bekenntnis zum seriellen Fernsehfor- mat das Primat der sog. „Qualitätsserie“ bezeugen, sondern weil beide gegen ihren übli- chen Rollentypus (und gegen die ursprüngliche Absicht der Produzenten) gecastet werden.

Der mit Rollen als womanizer assoziierte Matthew McConaughey gibt den unangepassten Exzentriker mit Mut zur Hässlichkeit, der Nebenrollen-Charismatiker Woody Harrelson dagegen den Frauenhelden.

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aufgelöst (Abb. 7), noch bietet die Serie ein psychologisches Erklärungsnarrativ des Täters an. Damit verschiebt sich der Fokus auf den proaïretischen Handlungs- code, der auf die reine Vollendung einer Sequenz abzielt (vgl. Barthes 1976, S. 23–26). Diesem Code wird im Sinne der Auge-um-Auge-Moral des Thrillers mit der Bestrafung (d. h. in der Regel Eliminierung) der Täter Genüge getan.10 Wäre True Detective ein klassischer Krimi, würde die Serie den proaïretischen dem hermeneutischen Code unterordnen.11

Einen verspielt-intertextuellen Hinweis auf diesen Paradigmenwechsel gibt es kurz vor dem Showdown, denn auf den ersten Blick scheint im Haus von Errol Childress der falsche Hitchcock-Film zu laufen. Betrachtet man die Kulisse (eine von Wildwuchs umrankte Bruchbude, vor deren Toren sämtliche Signifikate der Sinnstiftung kapitulieren) und das Inzestdrama, das sich in ihr abspielt, dann lebt der Hausherr eigentlich die white trash-Version von Psycho (1960): Das

10Wellershoff verortet diese Entwicklung hin zu einer „irritierende[n], am Ende nicht mehr auflösbare[n] Komplexität“ am Übergang von der klassischen Detektiverzählung hin zum psychologischen Thriller, wo sich das Interesse vom Detektiv auf den Täter verlagert (1975, S. 87).

11Dass sich in der bekannten Holmes-Erzählung A Scandal in Bohemia (1890) Irene Adler ihren Verfolgern entzieht und Holmes überlistet, ist als Abweichung von der Formel ver- schmerzbar, solange dem Leser eine sinnstiftende Erzählung (,des Rätsels Lösung‘) unter- breitet wird.

Abb. 7 Der Detektiv und die Grenzen des Verstehens. Standbild aus True Detective (USA 2014) (DVD, Warner Home Video) S1E8 Minute 12

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räumliche Arrangement dieses biblischen Sündenpfuhls lehnt sich exakt an das Heim der Familie Bates an. Im Einklang mit der von Slavoj Žižek verfochtenen Psycho-Lesart (vgl. The Pervert’s Guide to Cinema, 2009) vegetiert im obersten Stockwerk das mumifizierte Über-Ich dahin, hat das Es diverse Leichen im Kel- ler (d. h. im Unterbewusstsein) vergraben, und sucht das in der Mitte hausende Ich zwischen beiden zu vermitteln. Kurz vor dem Eintreffen der Kavallerie läuft auf dem Fernseher der Familie Childress allerdings nicht Psycho, sondern North by Northwest (1959). Der Oger, der diesen Sumpf bewohnt, hat den Klassiker zweckentfremdet und benutzt ihn als eine Art Telekolleg, um an James Mason und Cary Grant seine sprachliche Mimikry zu üben (Abb. 8) – ein Mr. Hyde, der seinen Dr. Jekyll kultiviert. Ein größerer Kontrast als jener zwischen Hitchcocks selbstironischem Spionagespiel, das den Stil der frühen James-Bond-Filme vor- wegnimmt, und dem locus horribilis in den Sümpfen scheint kaum vorstellbar (nicht nur weil sich die Himmelsrichtung komplett dreht und North by Northwest nach deep down south verlagert wird).

Dennoch ist die Wahl des Intertexts kein Fehlgriff und auch nicht dem Zufall geschuldet. Ähnlich wie True Detective erzählt North by Northwest über weite Strecken von einer unmöglichen Detektivarbeit, von der Jagd auf ein Phantom bzw. – im Fall des Hitchcock-Films – auf einen personifizierten MacGuffin, der sich am Schluss nur als Strohmann (bei Hitchcock sogar als leerer Signifi- kant) für eine viel größere, im wahrsten Sinne des Wortes unfassbare Verschwö- rung herausstellt. Als gelte es, diese Absage an die epistemische Agenda der

Abb. 8 Errol Childress sieht den ‚falschen‘ Hitchcock-Film. Standbild aus True Detective (USA 2014) (DVD, Warner Home Video) S1E8 Minute 3

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klassischen Detektiverzählung noch einmal indirekt einzugestehen, lässt True Detective den Hitchcock-Film ausgerechnet mit einem Satz zu Wort kommen, der sich im Kontext wunderbar doppelbödig ausnimmt. „Not that I mind a slight case of abduction“, sagt Cary Grant hier zu seinen Kidnappern; auf Deutsch: Einer kleinen Entführung sei er ja nicht prinzipiell abgeneigt. Nur meint abduction im Englischen eben auch das mit dem Krimi assoziierte detektivische Schlussverfah- ren – gegen dieses, so lässt sich das Zitat folglich paraphrasieren, sei ja eigentlich nichts zu sagen, aber eben nicht hier, nicht jetzt.

Das Zitat ist damit auch eine Absage an den klassischen, erklärungswütigen Krimi, gegen dessen Rätselstruktur Hitchcock eine legendäre Abneigung pflegte.12 Dass das Ende von True Detective reichlich Kritik geerntet hat, mag auch hiermit zusammenhängen – der Kontrakt, den die Serie (die als Sherlock- Holmes-Epigone und damit als ,Bastard‘ eines ehrwürdigen Prätexts selbst ein kleiner Errol Childress ist) mit den Zuschauern eingeht und zunächst zu ehren scheint, wird zugunsten des Psychothrillers aufgekündigt. Damit widerspricht die Serie in letzter Instanz ihrem eigenen Titel: In dieser „Matrix aus Trugbildern und Zeichen“, in der „[d]ie Interpretation der Wirklichkeit […] nicht mehr dem Ein- zelnen [obliegt]“ (Haubner 2015, S. 730), wird die Ära der ,wahren Detektive‘ für beendet erklärt. Es spricht unbedingt für die Qualität von True Detective, dass Nic Pizzolatto (der für seine Arbeit u. a. mit einem Autorenpreis der Writers Guild of America geehrt wurde) diesem Kurs treu bleiben und sein Publikum weiter in unsicheres Terrain führen sollte: Während der Ausstrahlung der zweiten, noch komplexer erzählten Staffel die ganz in der Tradition des Verschwörungsthrillers der 1970er-Jahre steht und in der die Detektive durchweg mit ihrer Ermittlung scheitern beruhigte der britische Guardian seine Leser, dass es völlig in Ordnung sei, die Handlung nicht zu kapieren (vgl. Sampson 2015).13 Rust Cohle, Sherlock Holmes und Anti-Holmes in einer Person, hätte sich über diese Bestätigung sei- nes Weltbilds sicher gefreut: „This is a world where nothing is solved“ (S1E5).

12Hitchcocks Kino plädiert für den reinen Nervenkitzel des Thrillers, bei dem der Weg das Ziel ist, ohne dass jede semantische Leerstelle gefüllt werden muss. Allerdings wartet selbst Psycho, die Blaupause des modernen Psychothrillers, am Schluss mit einer sinnstif- tenden Erzählung aus dem Mund des Psychiaters auf.

13Der amerikanische Komiker Jason Saenz sorgte im selben Zeitraum mit einer Aktion in New York für Aufsehen: Auf einem Plakat, dessen Erscheinungsbild an typische Vermiss- tensuchposter angelehnt war, bat Saenz unter Angabe seiner Telefonnummer um Hinweise

„[i]f you have any info as to WTF is happening this season.“

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Literatur

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Zugegriffen: 30. Sept. 2015.

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Referenzen

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