von S. Noja, Turin
Ismä'il ^j^J\ in seiner Schrift cjjj y >^j öoJVI j- J. Diese letzt¬
genannte Schrift ist wohl nicht identisch mit dem Mosesbuche, und wir
erfahren hiermit noch von einem andern Werke des Mannes, wenn auch
der Titel ,, Erklärung der 72 Lehren (mTin) unklar bleibt (etwa der 72
nach der Annahme der Mohammedaner bestehenden Secten?)". Mit
diesen Worten fragte sich A. Geiger in dieser Zeitschrift vor fast
100 Jahren*, was diese 72 Ojj^; der Samaritaner, welche den Titel des
Werks zum Gegenstand hatten, Js^W wohl sein könnten. Diese
Frage stellte Geiger nicht nur sich selbst, sondern natürlich auch
allen anderen Fachgenossen.
Es soll hier nicht unterlassen werden festzustellen, daß wir von der
Existenz dieses Werkes sozusagen nur aus zweiter Hand Kenntnis
erhalten haben, weil es lediglich zitiert worden war. In der europäischen
sich mit den Samaritanem befassenden Literatur wird das Werk als
zum samaritanisehen Schrifttum gehörig nur in zweien der drei vor¬
handenen, diesen Namen überhaupt verdienenden Geschichten oder
Verzeichnissen desselben genannt, ausgenommen natürlich die oben
erwähnte Anführang Geigers.
Die Schrift wurde nämlich im Jahre 1875 von Nutt erwähnt, welcher
sich darauf beschränkte, in einer Anmerkung über diesen Autor folgendes
zu sagen: ,,the same author also wrote a book termed i>i«-«<j ir^H\ -^j^
Cjjjy or an explanation of the 72 laws"*, wobei er sich auf den Artikel
Geigers bezog. Auf dieses Zitat von Nutt hin folgte denn auch im Jahre
1902 die regelrechte Aufnahme in das Verzeichnis der samaritanisehen
Autoren und Werke (lediglich in Arabisch) durch Steinschneider, jenen
großen Manuskript-Verschlinger, mit der Eintragung: ,, Erklämng der
72 Doctrinen-Secten ?" und stets unter Angabe der ZDMG». Die Schrift
ist hingegen nicht in der ,, Samaritan Literature" Gasters* erwähnt.
* A. Geiger Neuere Mittheilungen üher die Samaritaner, VII, in ZDMG
XXn (1868) s. 531.
» J. W. Nutt, A sketch of Samaritan History, Dogma and Literature (pub¬
lished as an introduction to "Fragments of a Samaritan Targum edited from a Bodleian Ms."), London, 1874, s. 133.
' M. Steinschneider, Die Arabische Literatur ..., Frankfurt a. M. 1902,
8. 327.
* M. Gaster, The Samaritan Literature in the Encyclopaedia of Islam,
Leyden, 1925.
Erklärung der 72 Lehren der Samaritaner 271
Hier sollte wohl auch noch eine dritte Nennung durch Rosenberg,
1901 *, hinzugefügt werden, aber in dieser kommt es nur zu einer Er¬
wähnung, ganz ohne Quellenangabe und nicht einmal mit Angabe des
Autors.
Im Jahre 1875 wurde die Frage von Harkavy in den zusätzlichen
Anmerkungen zu seinem Katalog» angeführt. Auch er fragte sich, immer
aus Geiger den Titel dieses Werks anführend, um was es sich wohl
handeln mochte, dabei die Mutmaßung vorbringend, es könne da eine
Unterteilung des Pentateuchs nach einem besonderen, unbekannten
System vorliegen.
Nach diesen Vorbemerkungen möchte ich nicht unterlassen noch zu
erwähnen, daß der Titel des Werkes von Anfang an meine Aufmerksam¬
keit erregt hatte, seit ich bei Durchsicht der sich auf Samaritaner
beziehenden europäischen Manuskript- und Schriften-Kataloge nach
Material für die Zusammenstellung eines Corpus Iuris der Samaritaner
suchte'.
Als ich den Text des Kitäb al-käfl vorbereitete und übersetzte,
fand ich im XVIII. Abschnitt „De voto religioso" folgenden Satz:
C««aS>-l ^CJjy li-UI J)C tJ^>-Ü J jjL:JI Ui jMXi JbtjO ^li <.VI iyr J ü* J
.^j~ßi ojjA tjj^ iSji^ J^*^' fjH. j-'' jjj' irf^J ij^' H
Er machte mir den Zusammenhang zwischen den ,,72 Lehren" und
den berühmten Verfluchungen des Deuteronomiums* klar. Wie leicht
festgestellt werden kann, war es natürlich nicht möglich, die Zahl 72
unter jenen Verfluchungen, wie sie in der Heiligen Schrift gebracht
werden, angeführt zu finden.
Zwecks Ausfindigmachung von etwaigen juristischen, wenn auch mu:
indirekten Erwänungen kam ich beim Lesen von Marqah's Buch" auf
einen Absatz, welcher die vorerwähnten Verfluchungen zum Gegenstand
hatte. Alle oder besser gesagt, fast alle diese Verfluchungen bildeten den
Anlaß zu Unterteilungen, die wieder in einer bestiounten Weise zusam¬
mengezählt die Zahl 72 ergeben konnten.
• RoSBNBEBG, Lehrbuch der samaritanisehen, Sprache und Literatur, Wien,
1901, 8. 84.
' Vgl. A. fl. FapKaBH - Onncame caMapHTancKHXT. pyKonnceft xpanamaxca wh
HunepaTopcKoö nyöjinqnofl ÖiiömorsKi, CanKTnerepöyprB 1875 s. V, 50.
' G. Galbiati, I "Materiali per un Corpus Iuris dei Samaritani" nei
Fontes Ambrosiani Kitäb al-Käfi in Milanges Eugene Tisserant, Vol. I,
(Studi e Testi, 231), Cittä del Vaticano, 1964.
» Die überstrichenen Wörter sind im Original mit samaritanisehen Buch¬
staben geschrieben.
» Deut. 27, 15—26.
»0 In der Manuskript-Ausgabe (Offset ?): Sefer pSlVatah Holon 3602/1962, in parallelen Spalten, Samaritanisch und Arabisch.
Inzwischen ist das gesamte Werk Marqah's endhch, von J. Mao¬
donald glänzend übersetzt und herausgegeben, imd mit einer Einleitung
von P. Kahle, versehen erschienen. Geme nehme ich diese Gelegen¬
heit wahr, die Arbeit Macdonald's rückhaltlos zu loben, nicht nur,
weil das Werk Marqah's es mehr als verdient, vollständig übersetzt und
ediert zu werden, sondern auch besonders in Anerkermung des Mutes,
sich an eine solche Arbeit heranzuwagen und dazu auch noch die Fähig¬
keit zu besitzen, sie voll zum Abschluß zu bringen.
Hinzu kommt, daß nun davon abgesehen werden kann, eine Ver¬
öffentUchung hier vorzunehmen, da das Werk ja jetzt im Originaltext
und in Übersetzung vorliegt und somit den sich mit dem Gregenstand
Befassenden ganz zugänghch ist**.
Hier möchte ich aber doch noch die Hypothese vorbringen, daß der
Autor der ,, Erklärung der 72 Lehren" sich auf die von Marqah erwähnten
„72 Cjjjy", bezieht.
Ob man mm sagen darf, daß bereits vor Marqah die genannten ,,72"
mit den 72 Lehren identifiziert worden waren, oder daß Marqah der
erste gewesen ist, der die ,,72" über einen Erweiterungsvorgang aus
den wenigen im bekannten Absatz des Deuteronomiums genannten
Verfluchungen ableitet, oder daß es gar andere nach Marqah, gewesen
sind, denen es gelungen war, auf Grund des Textes die ,,72" zu identi¬
fizieren, weiß ich nicht. Was mir aber ohne weiteres wahrscheinhch
dünkt, ist, daß der Satz des Kitäb al-käfi an diesen Absatz Marqah's
gebunden sein dürfte.
Ganz abzulehnen hingegen ist die Vermutung, in den ,,72" die „mo¬
hammedanischen Sekten" zu erkennen, etwas, was wohl zu anerkannt
sein dürfte, als daß man hier noch davon sprechen müsste. Es steht ja
fest, daß diese Zahl 72 im Orient von Tradition zu Tradition immer
wieder auftaucht. Man findet sie bei den Mohammedanem und den
Christen, und sie ist, um auf unserem Gebiete zu bleiben, eine Zahl,
die den Samaritanem ganz besonders teuer war, wie es z.B. die Zahl 7**
war. Darüber schrieb auch Geigek, wobei er einige Beispiele anführte**,
zu welchen man bei dieser Gelegenheit auch jene hinzufügen kann, die
Gasteb betreffs des Namen Gottes angeführt hat**.
** Memar Marqah, The Teaching of Marqah, edited and translated by
John Macdonald, Berlm, 1963. Volume I, The Text s. 67—77, Volume II
The Translation, s. 106—125.
*" Vgl. z. B. bezüglich der Genealogien: M. Gasteb, The Chain of Samari¬
tan High Priests (repr. from the, Joumal of the Royal Asiatic Society, April, 1909), passim.
*' Geigeb, op. cit. s. 532.
** M. Gasteb, Samaritan Phylacteries and Amulets, (Reprinted from the.
Proceedings of the Society of Biblical Archaeology) 1, March 1915, s. 100.
Erklärung der 72 Lehren der Samaritajier 273
Ob dies die Anwort auf die von Geiger vor fast 100 Jahren auf¬
geworfene Frage ist, bleibe dahingestellt, es drängt sich einem aber
lebhaft beim Betrachten dieser Zeitspanne die den Worten Seneca's
zugrundeUegende Erkenntnis auf: Multum adhuc restat operis multum-
que restabit, nec lüli nato post mille saecula praecludetur occasio aliqidd adhuc adiciendi.
Eine quellenkritische Studie
zur frühislamischen Historiographie
Von AiBEECHT Noth, Bonn
In Tabäei's Tärih ar-rusul wa 'l-mtdük finden sich nebeneinander zwei
voneinander grundverschiedene Berichte über den Kampf der Muslims
um die persische Stadt Isfahan*. Der zweite dieser Berichte soll hier ein¬
mal eingehend untersucht werden, nicht etwa weil er eine besonders gute
Quelle für die Eroberung der persischen Stadt ist, sondern weil sich an
ihm einige wichtige Beobachtungen zur firühen islamischen Greschichts-
schreibung machen lassen.
Mit unwesentlichen Varianten oder mehr oder weniger starken Kür¬
zungen überliefern den Bericht auch Abü Yüsuf*, Baläduei*, Mas'üdi*,
Abü Nu'aim* und Ibn Al-Atie»; er hat also eine einigermaßen große
Verbreitung gefunden. Seine Entstehimgszeit läßt sich annähernd genau
bestimmen. Da er schon bei Abü Yüsuf (st. 182/798) erscheint, gehört er
auf jeden Fall noch in die zweite Hälfte des 8. Jhs. Sein Isnäd erlaubt
noch eine nähere Eingrenzung. Das erste gemeinsame Güed in den ver¬
schiedenen Isnäd-Versionen' ist der basrische Traditionarier Hammäd
B. S at, AMA (st. 167/784)*. Diesen Hammäd — und nicht etwa den am
Ende des Isnäd stehenden Augenzeugen der Ereignisse® — haben wir
* Der erste Bericht a. 21 I (5) S. 2637, 14—2640, 12; der zweite ebd.
S. 2641, 17—2645, 4.
2 Kitäb al-harä^, Bd. Bulak 1302h. S. 18f.
» Futüh al-buldän, ed. de Goeje (Leiden 1866) S. 303f.
* Murü^ ad-dahab, ed. Baebieb de Meynabd (Paris 1865) IV, 230fF.
* Dikr ahbär I§bahän, ed. S. Dedebing (Leiden 1931fr.) I, 21ff.
' Kämil at-tawärih, ed. Tobnbebg (Leiden 1866ff.) HI, 14.
' Vollständige Isnäde bei Tabari, Baläduri und Abü Nu'aim.
' Er bleibt trotz der vielen biographischen Nachrichten, die über ihn exi¬
stieren (vgl. die Angaben bei Flügel, Fihrist H [Leipzig 1872] S. 95 imd 99
[= Anm. zu I S. 219, 10 und 227, 4] und ZibiqlI, Al-a'läm. Qämüs tarä^im
li-aShar ar-ri^äl wa'n-nisä' ... [2. Aufl. Kairo 1954ff.] II S. 302b + Anm. 1), wie viele seiner Zeitgenossen eine völlig schattenhafte Figur.
° Ma'qU b. Yasär. Zur geringen Vertrauenswürdigkeit solcher „schöner"
Augenzeugen-Isnäde (im Hadit und im Recht würde diesem ein Isnäd mit
dem Propheten als letztem Ghed entsprechen) vgl. J. Schacht, The Origins
of Muhammadan Jurisprudence (Oxford 1960) S. 163ff. und passim.