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Das ist hier nicht der Fall

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Handbuch Kriegstheorien. Hrsg. von Thomas Jäger und Rasmus Beckmann, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2011, 610 S., EUR 49,95 [ISBN 978-3-531-17933-9]

Es gibt Handbücher, die den Forschungsstand systematisch erfassen und auch er- weitern. Das ist hier nicht der Fall. Die 50 Artikel von 49 Autoren, davon 3 Frauen – Krieg gilt offensichtlich immer noch als Männersache –, fügen sich nicht in ein Gesamtkonzept. Die Herausgeber schreiben zwar im Vorwort, man biete eine »sys- tematische und umfassende Zusammenstellung verschiedener disziplinärer Bei- träge zur Erklärung und Beschreibung von Kriegen« (S. 11). Doch was heißt syste- matisch und umfassend? Das Kriegsrecht wird man dazu rechnen müssen. Ein eigener Artikel dazu fehlt. Aber etliche Artikel gehen darauf ein, und im Eröff- nungsbeitrag »Anthropologische Kriegstheorien: Theorie des intrakulturellen Krieges. Der Halbfeind« (Heiner Mühlmann) kommt ihm eine zentrale Bedeutung zu: »Durch das Kriegsrecht entsteht der westliche intrakulturelle Krieg« (S. 19).

Um diese Kernaussage zu verstehen, bedürfte es rechtsgeschichtlicher Hilfe. Man erhält sie nicht. Es ist schwer nachzuvollziehen, wie ein »Handbuch Kriegstheo- rien« auf einen rechtsgeschichtlichen Beitrag verzichten kann.

Der Eingangsartikel lässt auch erkennen, dass die Herausgeber die Beiträge nicht hinreichend aufeinander abgestimmt haben. So erfährt man, dass die »letz- ten intrakulturellen Kriege der westlichen Kultur« die Weltkriege waren und sie – die westliche Kultur als Akteur – erst nach dem Fall der Berliner Mauer wieder da- mit begonnen habe, »interkulturelle Kriege zu führen« (S. 22 f.). Dekolonisierungskriege werden in dem Buch behandelt, allerdings nicht in einem eigenen Artikel, doch ausgerechnet im Beitrag zur Anthropologie sind sie nicht präsent. Auch was über

»Krieg als kulturelle Eigenselektion« (S. 19–21) oder über den »intrakulturellen Krieg als Technologie-Lernmaschine« (S. 21 f.) zu lesen ist, wird bei dem, der nicht schon informiert ist, bestenfalls eine nützliche Verunsicherung hinterlassen, der die wenigen Literaturangaben nicht weiterhelfen. Alle wichtigen ethnologischen Studien fehlen, und die Ergebnisse der ethnologischen Kriegsforschung werden nicht referiert. Es wäre unfair, dieses Buch an dem Anthropologieartikel zu mes- sen, doch mit ihm beginnt es.

Da nicht 50 Artikel vorgestellt werden können, wird im Folgenden versucht, die Beiträge in den drei Themenblöcken, in die das Buch gegliedert ist – Kriegs- theorien (10 Beiträge), Klassiker der Kriegstheorien (15), Empirische Fallstudien zu Kriegstheorien (25) – aufeinander zu beziehen.

Im Teil I geht es in den Artikeln zu biologischen (Peter Meyer), psychoanaly- tischen (Gerhard Vinnai) und sozialpsychologischen (Rolf Pohl/Marco Roock) Kriegs- theorien um kollektive und individuelle Phänomene. Dass biologische Ansätze die Funktionalität von Aggressivität in tribalen und in modernen Gesellschaften un- terschiedlich bewerten, arbeitet Meyer sorgfältig heraus, während die beiden an- deren Artikel der Aggressivität generell eine zentrale Bedeutung in der »Soziali- sation zum Töten« (S. 49) zuschreiben.

Der Artikel »Politische Kriegstheorien« (Irene Etzersdorfer) geht von einem nor- mativen, staatsbezogenen Kriegsbegriff aus, sodass andere Formen von Krieg bei- seite gerückt oder sogar als »Verbrechen« begrifflich ausgeschlossen werden; dieses Verdikt trifft auch die Fehde (S. 57). Hier tritt das Fehlen eines zusammenfassenden

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Artikels zu irregulären Formen des Krieges in Geschichte und Gegenwart hervor.

Durch den Artikel »Counterinsurgency«, in dem Jochen Hippler u.a. Callwells Klas- siker »Small Wars« kurz vorstellt, durch häufigere Verweise auf die sogenannten Neuen Kriege und durch empirische Fallstudien in Teil III kann diese Lücke nicht geschlossen werden. Ausgerechnet der Krieg, der seit dem Ende des Zweiten Welt- krieges global weitaus überwiegt, der Krieg zwischen einem Staat und nichtstaat- lichen Gruppen, wird in dem Handbuch nicht in einem eigenen Artikel dargestellt.

Sein Hintergrund wird in Tobias ten Brinks Artikel zu geopolitischen Kriegstheo- rien sichtbar und auch in Gunnar Heinsohns Ausführungen über »Gesellschaftliche Kriegstheorien«, die er durch die Demografie bestimmt sieht: Gesellschaften mit überzähligen Söhnen (youth bulge) machen Krieg, lautet seine Geschichtsbilanz.

Gegen sie im Namen der Menschenrechte Krieg zu führen, erzwinge geradezu Menschenrechtsverletzungen, ist seine Botschaft an die Gegenwart. Wer sich diese Ursachenerklärung zu eigen macht, muss die anderen Theorieartikel nicht lesen.

Es lohnt sich jedoch, die Einführungen in ökonomische (Michael Brzoska), ökolo- gische (Hans Günter Brauch) und theologische (Andreas Holzem) Kriegstheorien gründlich zu studieren. Sie führen in Bereiche mit unterschiedlichen Logiken, die nicht gegeneinander ausgespielt werden können, sonst verlören sie ihre jeweils be- grenzte Erklärungskraft.

Teil II umfasst präzis informierende Artikel zu bekannten, dicht erforschten Autoren – Thukydides (Holger Sonnabend), Sun Tzu (Albert A. Stahel), Machiavelli (Herfried Münkler), Hobbes (Franz Hespe), Clausewitz (Thomas Jäger/Rasmus Beck- mann), Marx, Engels und Lenin (Benno Teschke), Mao Zedong (Hermann Halbeisen), Carl Schmitt (Reinhard Mehring) – und zu wenig bekannten: Santa Cruz de Marce- nado, Jacques Antoine Hippolyte Guibert und August Rühle von Lilienstein, die Beatrice Heuser porträtiert. Alle diese Artikel verorten ihre Autoren in der Zeit, in der sie gewirkt haben, und fragen nach der Bedeutung ihrer Kriegsdeutungen heute. Letzteres steht im Zentrum von drei Beiträgen zu Denkschulen, die nicht in einzelnen Personen repräsentiert sind: der schon erwähnte Artikel über »Counter- insurgency« sowie »Nuklearstrategie im Kalten Krieg« (Wilfried von Bredow) und zur Vorstellung einer »Revolution in Military Affairs« (Mischa Hansel), die eine

»veränderte Natur des Krieges« (S. 298) infolge neuer Informations- und Kommu- nikationstechnologien bewirke. An dem Schweizer Offizier Hans von Dachs, der 1958 eine »Kleinkriegsanleitung für Jedermann« veröffentlichte, um sein Land wi- derstandsfähig zu machen, sollte Europa erneut zum Kriegsschauplatz werden, und an dem Brasilianer Carlos Marighella, der seine Revolutionserfahrung 1969 in dem »Minihandbuch des Stadtguerilleros« in Handlungsanleitungen umzuset- zen suchte, skizziert Dirk Freudenberg »Die Universalität der Methoden Irregu- lärer Kräfte«. Das ist aufschlussreich, doch »Universalität« greift zu hoch.

Am umfangreichsten ist Teil III. Gleichwohl kann auch diese plausible Auswahl an »Empirischen Fallstudien zu Kriegstheorien« über informierte Willkür nicht hi- nausgehen. Die ersten elf Artikel sind Kriegen seit dem Spätmittelalter bis in die 1970er Jahre gewidmet. Martin Clauss erläutert wirtschaftliche Aspekte spätmittel- alterlicher Kriege und betont, dass sie darauf nicht verkürzt werden dürfen. Ver- mutlich wäre ein Artikel über die Besonderheiten mittelalterlicher Kriege und wo- rin Kontinuitäten bis heute zu sehen sind, für den Nutzer eines Handbuchs angemessener. Johannes Burkhardt erläutert am Dreißigjährigen Krieg das Modell des frühneuzeitlichen Staatsbildungskrieges und fragt abschließend nach seiner Erklärungskraft über die Epoche hinaus. Am Siebenjährigen Krieg zeigt Sven Ex-

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ternbrink, warum dieser Weltkrieg nicht mehr als Kabinettskrieg verstanden wer- den kann. Den Schritt zum »Volkskrieg« im napoleonischen Zeitalter und die zwei Pole dieses Konzepts, Guerilla und Allgemeine Wehrpflicht, analysiert Martin Rink an der militärischen und politischen Semantik. Das für die Entstehung von Nati- onalstaaten grundlegende Phänomen des Sezessionskrieges stellt Georg Schild am Amerikanischen Bürgerkrieg vor. Ein ergänzender Beitrag zu den Gründungskrie- gen europäischer Nationalstaaten im 19. Jahrhundert fehlt. Am Ersten Weltkrieg, insbesondere an der Isonzooffensive 1917, demonstriert Johann Schmid »die Unver- einbarkeit der Clausewitz‘schen Theorie von der Verteidigung als der ›stärkeren Form des Kriegsführens‹ mit der Wirklichkeit des Krieges« (S. 385). Ralf Raths er- gänzt dies mit einem kurzen Beitrag zum Defensivkonzept des Grabenkriegs. Ei- nen umfassenderen Artikel zur Bedeutung des Ersten Weltkrieges für die Ge- schichte des Krieges und der Kriegstheorien gibt es hingegen nicht.

Warum man den Zweiten Weltkrieg trotz seiner »Totalisierung« (S. 411) nicht einen Totalen Krieg nennen sollte, begründet Markus Pöhlmann. Den Artikel von Joachim Krause »Nach Hiroshima: Die Entwicklung der Theorie des Nuklearkrieges«

sollte man zusammen mit dem schon erwähnten von Bredows zur Nuklearstrate- gie lesen. Der große Bereich der Kolonial- und Dekolonisierungskriege ist in die- sem Handbuch nur durch zwei Fallstudien präsent: Vietnamkrieg, von Rolf Stei- ninger ereignisgeschichtlich angelegt, während Hartmut Elsenhans am Algerienkrieg generelle Fragen revolutionärer Dekolonisierungskriege erörtert. Die folgenden Artikel haben die Aufgabe, Kriegstypen an Kriegen der Gegenwart zu erörtern: an Jugoslawien der ethno-nationalistische Krieg (Marie-Janine Calic), der Staatszerfall- krieg an Somalia (Alexander Straßner) und mit Bezug auf »Gewaltökonomie« an der Republik Kongo (Peter Molt), der mediale Krieg am Golfkrieg 1991 (Hans-Joa- chim Reeb).

Den Abschluss bilden Artikel, die den Blick auf die gegenwärtige Diskussion um die Kriege der Gegenwart richten. Ein Beitrag zum Sinn (oder auch nicht) des Begriffs Neue Kriege gibt es allerdings nicht. Alex Veit skizziert die Rolle von Warlords, konkretisiert an zwei Beispielen aus dem Kongo, Kai Hirschmann legt dar, warum der Terrorismus von Dschihad-Extremisten nicht als Krieg bezeichnet werden sollte – einen allgemeinen Beitrag zum Dschihad bietet das Handbuch nicht –, Rasmus Beckmann diskutiert die »Theorie der Volksbewaffnung« an Afgha- nistan, während Conrad Schetter und Janosch Prinz fragen, ob die Gegenseite in ih- rer Interventionspolitik eine neue Strategie entwickelt hat, die sich auf die Eigen- heiten der afghanischen Gesellschaft einstellt. Ähnlich fragt Martin Quack nach dem Konzept »zivil-militärischer Interventionen« am Beispiel des Kosovo. Zwi- schen diese Artikel haben die Herausgeber einen »Zur Rolle von Privaten Sicher- heits- und Militärunternehmen bei militärischen Einsätzen« (Gerhard Kümmel) pla- ziert.

In die Zukunft des Krieges versuchen schließlich Mischa Hansel (»Stuxnet und die Sabotage des iranischen Atomprogramms: Ein neuer Kriegsschauplatz im Cy- berspace?«) und Benedikt Korf (»Klimakriege: Zur Politischen Ökologie der ›Kriege der Zukunft‹«) – ihn überzeugt die Klimakriegshypothese nicht – zu blicken.

Abgeschlossen wird das Werk durch zwei Beiträge, die in unterschiedlicher Weise Asymmetrien thematisieren. Erich Vad (»Asymmetrischer Krieg als Mittel der Politik«) betont die Bedeutung von Counterinsurgency-Strategien für den künf- tigen Krieg, der »eher von Terroristen, Guerillas und irregulären Kämpfern in Bür- gerkriegslagen bestimmt sein wird als von Auseinandersetzungen zwischen Streit-

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kräften von Staaten« (S. 586), während Ralph Thiele nach einem umfassenden neuen Konzept für die »Sicherheitsherausforderungen« (S. 605) der Zukunft verlangt:

»Sicherheit vernetzt und integriert«. Was immer das konkret bedeuten mag.

Kein Zweifel, dieses Werk bietet eine Fülle informativer Artikel zum Themen- feld Krieg, und viele fügen ihre empirischen Darlegungen in theoretische Konzepte ein. Die Herausgeber nennen das einen »Beitrag leisten« zur »Arbeit am Begriff des Krieges sowie seinen Teilbegriffen« (S. 10). Das ist gelungen. Doch sollte man dies ein »Handbuch Kriegstheorien« nennen? Dagegen spricht auch Formales, das für ein Handbuch nicht nebensächlich ist. Es gibt kein Sach- oder Personenregis- ter, ein zusammenfassendes Literaturverzeichnis auch nicht. Nutzerfreundlich ist das Handbuch also nicht. Vor allem aber verzichten die Herausgeber darauf, den Lesern ein Konzept an die Hand zu geben, was man unter Kriegstheorie verstehen kann bzw. bislang verstanden hat, um einschätzen zu können, wie sich dieses Handbuch darin verortet, was es bietet und was nicht.

Dieter Langewiesche

The Changing Character of War. Ed. by Hew Strachan and Sibylle Scheipers, Ox- ford: Oxford University Press 2011, X, 564 S., £ 60.00 [ISBN 978-0-19-959673-7]

Im Rahmen des 2003 an der Universität Oxford etablierten »Changing Character of War Programme« (CCW) haben Sibylle Scheipers und Hew Strachan einen bemer- kenswerten Band über den Wandel des Krieges herausgegeben. Die Frage der He- rausgeber ist einfach und anspruchsvoll: »the question of what is war and what is not war«. Für die Untersuchung legen sie fünf Kriterien zugrunde, nach denen sich die Sektionen des Bandes gliedern: die historische Perspektive von Kontinuität und Wandel; das »Warum« der Kriege; die Identitäten der Kämpfer; die Identitäten der Nicht-Kämpfer; die ideelle Dimension.

Azar Gat untersucht »Modernisierung« und lange Trends in der historischen Gesamtschau: Letztlich führten zunehmender Wohlstand und Demokratie auch zu mehr Frieden. Allerdings scheitere die typisch liberal-demokratische Art der Konfliktaustragung wegen ihrer humanitären Rücksichten oft bei Einsätzen zur Aufstandsbekämpfung (Counterinsurgency) (S. 35–37). Freilich bewerten Verfas- ser anderer Beiträge im Band die für Gat zentrale These vom demokratischen Frie- den skeptisch. David Parrott fragt, ob bereits vor der manifesten europäischen Do- minanz ab dem Jahr 1800 ein spezifischer Western Way of War existierte. Hier greife der auf technische Innovation gegründete Erklärungsansatz der »military revolu- tion« zu kurz. Vielmehr existierte zwischen 1750 und 1950 eine spezifische insti- tutionell-organisatorische Kopplung von Staat und Militär. Indessen sollten auch für diese Zeit die nicht-staatlichen Gewaltakteure stärker berücksichtigt werden (S. 56–60). Michael Broers’ Beitrag zum Militärwesen im Zeitalter der französischen Revolution und Napoleons betont vorrevolutionäre Kontinuitäten. Entscheidend innovativ wirkten die Ideologien zur Mobilisierung von Personal und Ressourcen;

das brachte runderneuerte Führungsmethoden für die neuen Massenheere hervor.

Am Beispiel der deutschen Militärkultur im Zeitalter der Weltkriege untersucht Gil-li Vardi die Kultivierung des Kampfgeistes trotz ständigem Missverhältnis zwi- schen Ziel und Mitteln. Entgegen anderer Erfahrungen aus dem Ersten Weltkrieg blieb das Dogma der Offensive dominant, Technologieverständnis untergeordnet.

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Wie Gerard J. DeGroot zeigt, fiel mit den ersten deutschen Bomber-Raids im Ers- ten Weltkrieg die konzeptionelle Unterscheidung zwischen militärischen und zi- vilen Zielen fort. Diesbezüglich bereitete der italienische Luftkriegstheoretiker Gi- ulio Douhet die britische Bombenkriegsdoktrin vor. Sie bestimmte zu Beginn des Kalten Krieges das Grundkonzept der U.S. Joint Chiefs of Staff vom pre-emptiven Einsatz. Und noch beim Irakkrieg von 2003 überdauere, so DeGroot, diese tech- nik-gestützte Arroganz der Macht (S. 104 f.). Für Mats Berdal vernebelt der in den 1990er Jahren popularisierte Begriff der »neuen Kriege« mehr als er erhellt (S. 110).

Dieses Konzept löse gegenwärtige Konflikte aus ihrem jeweils spezifischen histo- rischen und kulturellen Kontext, wodurch langfristige und strukturelle Konflikt- ursachen unterschätzt würden (S. 112 f.). Auch seien westliche politisch-juristische Konzepte kritisch zu hinterfragen (S. 126 f.). Demgegenüber urteilt Audrey Kurth Cronin, dass der ahistorische und »amnesische« Ansatz der Post-9/11-Ära mittler- weile durch ein durchdachteres Verständnis über Wandel und Kontinuität abge- löst worden sei (S. 134). Der Konflikt um den globalen Terrorismus habe das ma- nichäische Gedankengut des Kalten Krieges auf die neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen übertragen (S. 135). Dabei sei der islamische Terrorismus mehrfachen Transformationsprozessen unterworfen, die den Kategorisierungsbe- mühen von Politologie und Soziologie enge Grenzen setzten. So sei die Dichoto- mie von staatlichen gegenüber nichtstaatlichen Konflikten irreführend: Entschei- dend sei deren Verknüpfung (S. 139).

D.J.B. Trims Betrachtungen zur humanitären Intervention zeigen, wie der frühneuzeitliche Diskurs zum Widerstand gegen tyrannische Herrscher das ge- genwärtige Konzept der »responsibility to protect« vorwegnahm. Das 1648 eta- blierte Westfälische Normgefüge von Staatssouveränität und Nicht-Intervention kennzeichnet er nicht als zeitlose Normalität, sondern als Neuerung (S. 155 f.). Ge- genüber dem ahistorischen linearen Fortschrittsdenken in Politik und Politikwis- senschaft verweist Trim auf historische Wellenbewegungen: Konzepte zur huma- nitären Intervention im konfessionellen Zeitalter wichen der Idee der Staatssouveränität. Von 1820 bis 1920 folgte ein Zeitalter humanitärer Intervention, bis die UN-Charta 1945 eine Phase der Nicht-Intervention dekretierte – für 45 Jahre, bis zum Ende des Kalten Krieges, das ein erneutes Interventionszeitalter einleitete (S. 161).

Der ebenfalls exzellente Beitrag von Thomas Hippler über den Zusammenhang von Demokratie und Krieg zeigt, dass die ersten Überlegungen des Luftmachtthe- oretiker Giulio Douhet zu Beginn des Ersten Weltkrieges eher pazifistisch ausge- richtet waren: Er forderte den Schutz der Zivilbevölkerung ein (S. 170 f.). Ange- sichts deutscher Luftangriffe auf England 1915 erweiterte er die Zielkategorien im nationalen Rahmen: Da der deutsche Militarismus als »internationales Banditen- tum« erschien, geriet die regimekonforme Bevölkerung als »Komplizin« und da- her zum legitimen Ziel. Diese Denkfigur wirke, so Hippler, bedenklich in die Ge- genwart: Obwohl offiziell als Doktrin verworfen, stehe der Douhetismus faktisch derzeit höher im Kurs als je zuvor (S. 180).

Alia Brahimi kennzeichnet die Terror-Propaganda Osama bin Ladens als ein

»grundlegend modernes« Phänomen: Gerade islamistische Kreise verwarfen die al Qaida-Rhetorik zunächst, bis ihr just der Irakkrieg der USA von 2003 zur Plau- sibilität verhalf. Sowohl die US-Regierung unter George W. Bush als auch al Qaida verwandten religiös verbrämte defensive Argumente als Bemäntelung für offen- sive Akte (S. 197). In seinem Beitrag über Bürgerkriege zwischen 1800 und 2009

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unterscheidet Stathis N. Kalyvas drei historische Phasen: Nach den »konventio- nellen Bürgerkriegen« des 19. Jahrhunderts dominierten nach dem Zweiten Welt- krieg irreguläre Kriege (»insurgencies«). Seit 1990 würden »symmetrische und kon- ventionelle« »low-tech«-Kriege ausgefochten. Die Kopplung von Bürgerkrieg und Revolution sieht er als Phänomen des 20. Jahrhunderts (S. 202 f.). Freilich bleibt aber der Begriff »guerilla« undifferenziert. William Renos Beitrag zum Zuammen- hang von Verbrechen und Krieg problematisiert das Staats-zentrierte Vokabular, das zur Erklärung vieler Gewaltformen nur begrenzten Wert besitze: Schon die Be- zeichnung »Krieg« oder »Verbrechen« hänge von zuvor beantworteten Legitimi- tätsfragen ab.

Ganz im Gegensatz zum vorherrschenden Alarmismus betont Pascal Vennesson den Rückgang von Konflikten und Opferzahlen seit 1989 (S. 242 f.). Trotz des

»Krieges gegen den Terror« oder des Genozids in Ruanda sei daher der begrenzte Krieg zurückgekommen. Sarah Percy zeigt bei den Wandlungsprozessen von »pri- vate force« das Spektrum der Akteure auf. Trotz realisierter Einsparungen gerate der Leistungseinkauf von Sicherheitsfirmen infolge mangelhafter Vertragserfül- lung oft zum Minusgeschäft für die Auftraggeber (S. 269). Gleichwohl sei der Ein- satz von Private Security Companies (PSC) mittlerweile ein Zeichen für Groß- machtstatus (S. 264, 270, 274). Bruce Hoffman vertritt die These, dass Terrorismus viel weniger auf Armut zurückzuführen sei, sondern auf demografische Daten und soziale Netzwerke: vom Sportclub zur Terrorzelle; von Irland des frühen 20. Jahr- hunderts zu den arabischen Ländern ein Jahrhundert später.

Ihren Beitrag über »Warlords« leitet Kimberly Marten mit der Kritik am Begriff ein: Es sei ein vages Konzept, das sich mit dem anderen unklaren Begriff von »state failure« verknüpfe (S. 302). Als »stationary bandits« richte sich der Fokus von Warlords auf wirtschaftliche Kurzfrist-Bereicherung. Dabei perpetuieren die stets nur persönlich geprägten Gefolgschaftsverbindungen eine fortwährende Instabi- lität. Dennoch seien Warlords auf Staaten angewiesen: auf auswärtige Anlehnungs- mächte. Das modifiziert die These vom Krieg im (gänzlich) staatfreien Raum (S. 309 f.).

Anne Deighton erörtert die multilaterale Gewaltanwendung der Europäischen Union (EU) und deren Möglichkeiten eines »international policing« (S. 315). Ob- wohl sie die fatale Ähnlichkeit zum »imperial policing« nicht anspricht, zeigt sie, dass eine »Versicherheitlichung« (securitization) der Politik die Regierungen zu Handlungen außerhalb politischer und rechtlicher Normen veranlassen kann. Na- mentlich im Zuge der Überreaktion auf »9/11« hätten Sicherheitsexperten sich ihre

»new missions« selbst herbei analysiert (S. 327). Peter W. Singer verweist auf die ra- sante Beschaffung von »robotic units« seit dem Irakkrieg von 2003. Roboter über- nehmen zunehmend Aufgaben, die langweilig, dreckig oder gefährlich sind: »dull, dirty or dangerous« (S. 338). Eine Frage sei dagegen tabuisiert: Was passiert mit den Menschen? Indem Roboter intelligenter, also Menschen-ähnlicher werden, würden die Menschen nicht vom Schlachtfeld verdrängt, sondern vielmehr in Mensch-Maschine-Teams eingebunden – wie beim Duo Polizeihund-Polizist (S. 345).

Doch wer bleibt letzlich Hund, wer Halter?

Wie Vennesson hält Adam Roberts es schlicht für falsch, dass Zivilpersonen heute intensiver in Mitleidenschaft von Kriegen gerieten als früher. Auch sei die Unter- scheidung von »Zivilisten« und »Soldaten« ungeeignet, um die Varietät der Rol- len zu erfassen: Nichtkämpfer treten in Konflikten als Handelnde und Opfer, als Mitspieler und Zielgruppen von Propaganda, als Nutznießer der Kriegsökonomie und als zu schützende Personen in Erscheinung. Die völkerrechtlichen Definiti-

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onen ließen viele Grenzphänomene unberücksichtigt. So aber erschienen viele Dinge als neu, die es nicht sind. Zwischen »Zivilist« und »Soldat« sollte mindes- tens die Kategorie des »unprivilegierten« Kämpfers erfasst werden (S. 375). In sei- nen Ausführungen zur Tötung von Zivilpersonen verurteilt Uwe Steinhoff den Be- griff »Kollateralschaden«. Das »begleitende Abschlachten« (»concomitant slaughter«) von Zivilpersonen hält er für nicht besser als den dadurch zu bekämp- fenden Terrorismus. Sowohl die USA, Großbritannien und die al Qaida folgten da- her derselben Logik von Terrorismus respektive »Staatsterrorismus« (S. 390 f.).

Freilich können wir als Wissenschaftler unbehelligt urteilen; über welchen Grad von Information und Abgewogenheit verfügen jedoch militärische Entscheidungs- träger im Einsatz?

Sibylle Scheipers identifiziert die unterschiedlichen Kategorien von Kämpfern anhand des Umgangs mit Kriegsgefangenen. In der Vormoderne reichten die Al- ternativen von der Freilassung gegen Lösegeld oder auf Ehrenwort bis zur Einglie- derung in die siegreiche Armee. Die Französische Revolution führte, trotz der De- klaration, »keine Gefangenen« machen zu wollen, zu einer weiteren Alternative, der »Nationalisierung«. Soldaten galten nun als Teil der miteinander kämpfenden politischen Körper, der Nationen (S. 398). Das verknüpfte sich mit dem anderen Trend, der Professionalisierung der Armeen. Während reguläre Soldaten als »echte«

Kriegsgefangene galten, wurden irreguläre Kämpfer doppelt ausgegrenzt: natio- nal als »Verräter«, professionell als »Verbrecher«. Auf dieser Unterscheidung er- folgten gegen Ende des 19. Jahrhunderts Rechtskodifikationen (S. 400 f.), die in die Haager Landkriegsordnung 1907 und das Zusatzprotokoll zu den Genfer Konven- tionen 1977 mündeten. Freilich verfestigte sich die Grenze zwischen »regulär« und

»irregulär« auch im imperialen Kontext europäischer Dominanz. Somit ist die Un- terscheidung zwischen legitimen, illegitimen und illegalen Kämpfern keineswegs selbstverständlich, sondern »menschengemacht« (S. 405 f.). Auch Guy S. Goodwin- Gills Beitrag zu Kindersoldaten verweist auf das Konzeptualisierungsproblem:

Schließlich gelten (kämpfende) Personen unter 18 Jahren erst seit 1999 als »Kin- der« (S. 411). Der Beitrag von Antulio J. Echevarria II zur amerikanischen strate- gischen Kultur beleuchtet die schwierige Konzeptualisierung von »Strategie« und

»Kultur«. In ihrer Vorliebe für das Kämpfen in großen Schlachten und geprägt durch »technological romanticism« vollzogen die US-Streitkräfte den Wandel zur Informations-basierten Kriegführung: zum Einsatz von Präzisionswaffen, von Spe- zialkräften sowie von psychologischen und Streitkräfte-übergreifenden Operati- onen (S. 438). Jedoch zeige der Irakkrieg von 2003, dass ein groß angelegter Auf- stand damit nicht zu bekämpfen war. Gerade im Kontext der anderen Beiträge zum Sammelband stellt sich freilich die Frage, ob das Wort »insurgency« nicht diskus- sionswürdig ist.

Wie Hippler kritisiert David Rodin, im Rahmen militärischer Aktionen jene Nor- men zu überschreiten, deren Einhaltung doch das Ziel des Krieges sind. Besonders eindringlich zeigt dies Henry Shue anhand des heiklen Themenkomplexes von Folternormen und der Zielselektion von Bombenangriffen. Letztere beruhen auf der problematischen Annahme, die gegnerische Bevölkerung könne in den Wider- stand gegen ihre Regierung »gebombt« werden. Diese Annahme beruhe aber nicht auf Erfahrungswerten, sondern entspringe den »fantasies of air power advocates«

(S. 472). Noch problematischer sei das durch »definitorische Schwindeleien« (»de- finitional shenanigans«) aufgeweichte Folterverbot. Dieser Weg war in den USA, trotz mehrmaligen Regierungswechsels, bereits seit 1988 beschritten worden –

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lange bevor sich in den Jahren seit 2001/03 dessen inakzeptable und kontraproduk- tive Folgen zeigten (S. 473 f.). Der Beitrag von Patricia Owens zum machtpolitischen Realismus parallelisiert die bedenklichen Theorien Carl Schmitts mit gegenwär- tigen Sicherheitskonzeptionen. Die Autorin zeigt, dass eine Kennzeichnung gegen- wärtiger Sicherheitsbedrohungen als »neu« und »beispiellos« für sich nichts Neues darstellt.

Hew Strachans Abriss zum strategischen Denken im 21. Jahrhundert kritisiert den Schwund historischer Kompetenz als Folge der Strategic Studies, die das stra- tegische Denken des Kalten Krieges dominierten. Hier hätten statische, ahistorische Annahmen jedes Gefühl für dynamische (und also kontingente) Prozesse verdrängt (S. 508 f.). In ihrem Resümee über Krieg, Erkenntnis und Kritik erweitern Tarak Bar- kawi und Shane Brighton diesen Gedankengang. Der Krieg als per se kontingentes Phänomen sei sogar von der systematischen Wissenschaft insgesamt ausgeblen- det worden: Die (Sozial-)Wissenschaftler operierten in einem friedlichen Univer- sum – mit fatalen Folgen (S. 526, 529, 539). Denn das Wissen über den Krieg be- schränke sich auf die für die Produktion von Sicherheit selbst verantwortlichen Institutionen. Deren Konzepte und Begriffe seien aber kritisch zu bewerten (S. 528, 538 f.). Diese wissenschaftstheoretischen Erwägungen um den »war/truth-nexus«

verbinden sich mit Strachans Apologie für die Geschichte: Gerade Historiker seien in der Lage, Kontinuitäten und Wandlungsprozesse des Krieges zu durchmessen.

Sie sollten es auch; zumal, weil sich Konflikte auch als »Wandel zurück« darstel- len könnten (S. 519 f.). Die Annahme vom Verschwinden des klassischen Krieges könne sich als genauso vorschnell erweisen wie das vermutete Verschwinden des Staates aus der Weltpolitik (S. 512 f.). Dieser doppelte Ansatz ist ein Merkmal des gesamten Sammelbandes: Der Begriff des Krieges macht nur im historischen Kon- text Sinn; aber auch nur dann, wenn er sozial- und politikwissenschaftlich konzep- tionell geklärt wird. Somit relativieren die im Band versammelten Beiträge eine in den vergangenen Jahren dominante Erzählung von Forschung und Feuilleton:

Wohl gibt es »neue Kriege«, doch für die Zeitgenossen war und ist dies nichts Neues. Auch künftig werden Gewaltphänomene und ihre Akteure zeitgebunden und veränderlich bleiben; ein Grund mehr, militärisch-strategisches Wissen zu er- forschen und in Frage zu stellen – gerne so kontrovers und so luzide wie in die- sem Band.

Martin Rink

Niall Ferguson, Der Westen und der Rest der Welt. Die Geschichte vom Wett- streit der Kulturen. Aus dem Engl. von Michael Bayer und Stephan Gebauer, 3. Aufl., Berlin: Propyläen 2011, 559 S., EUR 24,99 [ISBN 978-3-549-07411-4]

Nur zwei Dekaden nach dem unblutigen Triumph des sogenannten freien Westens im Kalten Krieg und dem von Francis Fukojama verkündeten Endes der Geschichte steht die globalisierte Welt offenbar vor einem erneuten Wachwechsel. Vielleicht liegt darin nun eine besondere Art der Dialektik, wenn die USA als zunächst un- bestrittene globale Hegemonialmacht nicht einmal eine Generation nach dem ge- spenstisch geräuschlosen Untergang des Sowjetimperiums ihren maroden Staats- haushalt von China, dem überlebenden zweiten kommunistischen Vielvölkerreich finanzieren lassen müssen.

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Doch unabhängig von dieser selbst verschuldeten Demütigung werden sich die Amerikaner wohl darauf einstellen müssen, schon innerhalb des nächsten Jahr- zehnts auch ökonomisch vom dynamischen Reich der Mitte überrundet zu wer- den. Nach Ansicht der meisten Auguren ist der Eintritt der USA und ihrer in einer Dauerkrise steckenden europäischen Appendix ins zweite Glied der Weltordnung bereits eine ausgemachte Sache.

Für die Mehrheit der postheroischen Gesellschaften des »Alten Kontinents«

wäre dies nicht unbedingt eine Schreckensbotschaft. Blickt man doch in der kul- turrelativistischen europäischen Öffentlichkeit inzwischen mit wachsenden Unbe- hagen und sogar Schuldgefühlen auf jene 500 Jahre zurück, in denen der westliche Ausläufer der eurasischen Landmasse einen Großteil der bekannten Welt direkt oder indirekt beherrschte. Genau diese wachsende Distanz vieler Europäer zur ei- genen Geschichte und den prägenden Elementen ihrer Kultur kritisiert der schot- tische Historiker Niall Ferguson in seiner beim Berliner Propyläen-Verlag erschie- nenen Monografie über den Westen und den Rest der Welt.

Auf- und Abstieg von Zivilisationen sieht der renommierte Harvardprofessor als Folge einer zweiseitigen Entwicklung: Nicht nur die Stärke der Newcomer spielt dabei eine Rolle, sondern in diesem konkreten Fall auch das erodierende Bewusst- sein der Europäer für jene Traditionen und mühsam erarbeiteten Fähigkeiten, die es ihnen überhaupt erst ermöglichten, aus den prekären Lebensbedingungen spät- mittelalterlicher Gesellschaften zu einem in der Weltgeschichte einmaligen Wohl- stand zu gelangen. Mit einem heftigen Seitenhieb auf die aktuelle Geschichtswis- senschaft und ihrer demonstrativen Abkehr von der klassischen Meisternarration des »Guten und Wahren« (»Die Frage, warum Zivilisationen untergehen, ist viel zu bedeutsam, um sie den Anhängern der zusammen gestückelten Geschichte zu überlassen.«) entwickelt Ferguson ein Panorama von sechs Parametern (er nennt sie eigenartigerweise Killerapplikationen), aus denen er die bisherige Überlegen- heit des Westens gegenüber den übrigen Weltkulturen erläutert.

Folgt man dem Autor auf seiner nicht immer zielstrebigen Tour d’horizon durch die Weltgeschichte, so waren es zunächst Wettbewerb, Wissenschaft, Medizin, Rechtssicherheit und Arbeit, die dem Westen auf lange Sicht einen entscheidenden Vorteil gegenüber den anfangs so überlegen wirkenden Zivilisationen des Ostens verschafften. Dabei bietet Ferguson jedoch kaum neue Gesichtspunkte. Dass in Westeuropa aufgrund seiner geografischen, politischen und zuletzt konfessionellen Zersplitterung eine besondere und Innovationen geradezu begünstigende Wettbe- werbssituation herrschte, ist zwar richtig, aber nicht unbedingt eine neue Erkennt- nis. Schon David Landes hat in seiner viel beachtenden Monografie »Wohlstand und Armut der Nationen« darauf hingewiesen, dass keiner der einander argwöh- nisch beäugenden Potentaten des Barockzeitalters auf die Idee verfallen wäre, wie etwa ihre osmanischen Rivalen die Buchdruckerei unter Androhung der Todes- strafe zu verbieten oder gar die Seefahrt, wie es tatsächlich zu Beginn des 16. Jahr- hunderts in China geschah. In Europa war dagegen Wissensvermehrung ein Wert an sich und jede Monarchie, die etwas auf sich hielt, gründete eine Akademie der Wissenschaften. Dem aus einfachen Verhältnissen stammenden Isaac Newton wurde 1731 sogar ein Staatsbegräbnis zuteil, bei dem leibhaftige Herzöge und Lords seinen Sarg trugen.

Ein zweischneidiges Schwert für die Rolle einer dominanten Kultur des Wes- tens war allerdings die sechste Kategorie: Der Konsum. Zwar hat er lange den öko- nomischen Aufschwung im Westen befeuert und der immer billiger produzie-

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renden Industrie einen wachsenden Absatz garantiert. Zugleich aber war und ist der private und öffentliche Verbrauch einer der wesentlichen Ursachen für die an- schwellende und kaum noch zu beherrschende Verschuldung der westlichen Öko- nomien. Ferguson vermutet als Ursache hierfür vor allem ein spirituelles Defizit:

»Wir laufen Gefahr, am Ende nur noch eine hohle Konsumgesellschaft und eine Kultur des Relativismus zu sein, eine Kultur die behauptet, dass jede Theorie oder Meinung, so obskur und befremdlich sie auch sein mag, genauso gut und gültig sei, wie alles, woran wir früher geglaubt haben.«

Eine besondere Rolle beim Aufschwung Europas und der USA misst er daher der christlichen Religion zu – und zwar vor allem dem Protestantismus. So be- hauptet er in seinem Kapitel über die Arbeit, dass alle Arten echten religiösen Glau- bens mit einem Wachstum der Wirtschaft einhergehen und resümiert forsch: »Der vielleicht größte Beitrag der Religion zur Geschichte der westlichen Zivilisation war jedoch, dass der Protestantismus den Westen nicht nur arbeiten, sondern auch sparen lehrte.«

Ganz abgesehen davon, dass Ferguson damit Max Webers Protestantismus- These, von der er sich zunächst distanziert hatte, wieder aufgreift, könnte man noch fragen, wie es sich denn mit den anderen Religionen verhält? Gab es nicht auch im katholischen Frankreich und in Belgien, im Rheinland und in den letzten Dekaden sogar in Bayern, im Heimatland des jetzigen Papstes, einen beeindru- ckenden wirtschaftlichen Aufschwung? Was aber ist wiederum mit den eher schwierigen Ökonomien der südeuropäischen Staaten, wo der Katholizismus seit jeher eine starke Position besitzt? Ganz zu schweigen vom Islam und den Ökono- mien des Nahen Ostens, die ohne ihren Erdölreichtum längst zu Dauersanierungs- fällen geworden wären.

Zugleich aber charakterisiert Ferguson die erstaunliche Lebendigkeit der Reli- gion in den USA als »Konsum-Christentum«, das man sich wie in einem Super- markt auswählen könne. Eine wirkliche Erklärung für die uneingeschränkte Wert- schätzung der Amerikaner für das Geschäftsleben lässt sich also aus der zeitgenössischen Religion im Land der auch hierin unbegrenzten Möglichkeiten kaum destillieren. Ferguson konstatiert dazu nüchtern: »Allein die Tatsache, dass 40 Prozent der weißen Amerikaner irgendwann in ihrem Leben die Religion wech- seln, zeigt, dass der Glaube auf paradoxe Weise unbeständig und wankelmütig ge- worden ist.« Wenn es sich tatsächlich so verhält, hätten wir dann wirklich noch mit einer Form von echter Religiosität zu tun und was würde sie dann erklären?

In dieses ambivalente Bild passen auch Fergusons Bemerkungen über die ra- sante Ausbreitung des protestantischen Christentums in China: Christ zu sein sei im Reich der Mitte schick geworden, so Ferguson, und spricht von der 8 Mio.-Me- tropole Wenzhou mit ihren über 1300 offiziellen Kirchen sogar als einem »chine- sischen Jerusalem«. Das offiziell immer noch kommunistische Land könnte, und das wäre allerdings paradox, mit seinen geschätzten 120 Mio. praktizierenden Gläubigen schon jetzt ein christlicheres Land sein als das alte Europa. Ob aber der chinesische Arbeits- und Unternehmensgeist sich gerade dieser erstaunlichen Ent- wicklung verdankt, oder doch eher der blanken Not breiter Schichten der Bevöl- kerung, wäre noch zu klären. Ferguson macht es sich jedenfalls zu einfach, wenn er den Europäern ihre scheinbar zu geringen Arbeitszeiten im internationalen Ver- gleich vorhält, zugleich aber die stetig gestiegene Produktivität europäischer Un- ternehmen gar nicht erwähnt. Es ist schon eine ungewöhnliche Provokation, wenn er die Europäer im Zeitalter von Strukturwandel, unternehmerischem Jugendwahn

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und erzwungener Frühverrentung als »Faulpelze« bezeichnet. Vollends aber ins Absurde gleitet Ferguson ab, wenn er den Europäern ihre religiöse Indifferenz vor- wirft: Eine Londonerin hatte sich offenbar mehrmals unbefangen mit ihrem Nach- barn unterhalten, jenem Muktar Said Ibrahim, der sich im Juli 2005 als Djihadist und Sprengstoffattentäter entpuppte. Dabei hatte die gebürtige Irin ihm erklärt, dass sie an gar nichts glaube, worauf der Moslem, der sie wohl als Katholikin ein- geschätzt hatte, geantwortet habe, dass sie lieber an etwas glauben solle. Das fin- det offenbar auch Ferguson, der über die Episode anschließend urteilt: Es sei na- türlich die einfachste Sache der Welt, über die anscheinend von allen Djihadisten geteilte Ansicht zu spotten, man erhielte als Märtyrer im Himmel 80 Jungfrauen als Belohnung dafür zugeteilt, dass man Christen in die Luft gesprengt habe. Aber ist es nicht beinahe genau so seltsam, so fragt Ferguson im Ernst, wie die Frau aus London an gar nichts zu glauben?

Vielleicht führt der europäische Glaube an gar nichts tatsächlich zum politisch- ökonomischen Abstieg oder gar in den Untergang. Jedenfalls aber dürfte religiöse Indifferenz wohl umgekehrt kaum jemanden veranlassen, unschuldige Menschen in die Luft zu sprengen.

Wenn Religion tatsächlich eine Lösung der Probleme des Westens enthielte, würde dies vielleicht unseren Wohlstand retten, kaum aber unsere Freiheit. Fer- guson, der zum Schluss mit allerlei Vergleichen und Wirtschaftsdaten über die Möglichkeit eines Untergangs der westlichen Zivilisation spekuliert, gelangt zu dem Resultat, dass sich Untergänge oder Umbrüche meist sehr rasch vollzogen hätten. Wie die Ereignisse von 1989 bis 1991 gezeigt haben, nehme die Geschichte mitunter bedrohlich an Fahrt auf. Darauf ließe sich allerdings entgegnen, dass sich auch Comebacks mit atemberaubender Geschwindigkeit vollziehen können. China ist nach seinem dramatischen Abstieg im letzten Jahrhundert der wohl schlagende Beweis.

Klaus-Jürgen Bremm

Lexikon der Vertreibungen. Deportation, Zwangsaussiedlung und ethnische Säuberung im Europa des 20. Jahrhunderts. Hrsg. von Detlef Brandes, Holm Sundhaussen und Stefan Troebst in Verb. mit Kristina Kaiserová und Krzy- sztof Ruchniewicz. Red.: Dmytro Myeshkov, Wien [u.a.]: Böhlau 2010, 801 S., EUR 99,00 [ISBN 978-3-205-78407-4]

Hilfsmittel und Handbücher zum Themenbereich »Vertreibung« gibt es en masse, viele im deutschsprachigen Bereich, etliche im englischen. Dieses Lexikon will den- noch Neues erreichen, und das mit guten Erfolg. Es ist entstanden als Reaktion auf das seit 2000 betriebene Zentrum gegen Vertreibungen aus dem Umkreis des Bundes der Vertriebenen. Dagegen bildete sich eine Initiative für ein Europäisches Netzwerk Erinnerung und Solidarität, das durch mehrere Kultusminister 2005 ge- gründet wurde. Dem intellektuellen Umfeld dieser Initiative – genauer: bei Holm Sundhaussen – entsprang schon 2002 die Idee zu einem solchen Handbuch, des- sen sechs Herausgeber aus Deutschland, Tschechien und Polen stammen. Das sind neben den im Titel genannten drei Deutschen Hauptherausgebern noch Kristina Kaiserová, Krzysztof Ruchniewicz und Dmytro Myeshkov (der von Düsseldorf aus redigierte). Sie haben ihrerseits ein bewundernswert breites Netzwerk an ca. 120

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Autoren aus noch wesentlich mehr Ländern gefunden. Sicher stammen die meis- ten von ihnen aus Deutschland, aber der internationale Ansatz auch im intellektu- ellen Duktus und analytischen Zugriff ist bemerkenswert. Im Übrigen fielen zahl- reiche Übersetzungen für Beiträge durch nicht-deutsche Autoren an. Den jeweils mit Namenskürzeln (die natürlich eingangs aufgelistet und aufgelöst sind) gezeich- neten Artikeln merkt man jedenfalls nationale Provenienz nicht an. Entstanden sind so insgesamt 308 Lemmata Eintragungen, die Sachkenner in einer wahrhaft europäischen Art erschließen. Schon das ist eine beachtliche Leistung, bei der die Herausgeber betonen, der Forschungsstand zu den Themenbereichen und den aus- gewählten Stichwörtern sei sehr unterschiedlich, zum Teil auch schlecht. Das ma- che dieses Lexikon zu einem work in progress. Auch diese Ehrlichkeit des Nicht-De- finitiven ehrt das Werk, lässt aber auch fragen, ob man so etwas nicht gleich in einer Version 1.0 Online stellen sollte. Staatliche Finanzierung aus mehreren deut- schen und österreichischen Töpfen hätte so etwas wohl möglich machen können.

Die Herausgeber selbst benennen vier Kategorien für die Auswahl der Stich- wörter: Ethnien in ihren Heimat- und Aufnahmegebieten; Zentrale Maßnahmen und Beschlüsse; Akteure und zentrale Begriffe; Ausblicke auf Erinnerungskultur etc.

Schwierig ist schon die Auswahl und die Verwendung des zentralen Begriffs der Vertreibungen, der bereits im Untertitel des Lexikons in weitere Kategorien aufgefächert wird. Im einschlägigen Sachartikel betonen die beiden Autoren Karl Erik Franzen und Stefan Troebst dann auch, dass dies »formal weder juristisch noch historisch unvermissverständlich [zu] beschreiben« sei. Sie fächern vielfältige Er- scheinungsformen auf und halten in einem gleichsam reifizierten Nationalismus des 19. Jahrhunderts eine zentrale Ursache für das Phänomen. Das lässt sich mit Blick auf Vertreibungen vor-nationaler Zeiten allerdings relativieren. Jedenfalls wollen die Autoren die eher freiwillige Flucht als Phänomen nicht behandeln, ge- ben aber zu, dass die Übergänge dazu fließend bzw. subjektiv sind. Viele Artikel (etwa: Deutsche in Jugoslawien; ethnische Migration aus Bulgarien) widerspre- chen ausdrücklich der Bezeichnung Vertreibung. Doch sollte gerade diese Freiheit der Autoren, eine angemessene Wortwahl zu finden, als Stärke und nicht als Kri- tik angesehen werden.

Die Beschränkung auf das 20. Jahrhundert ist geboten, um so ein Werk nicht ausarten zu lassen – wo nötig holt das Lexikon weiter aus und hat auch die jüngste Entwicklung des 21. Jahrhunderts im Blick. In geografischer Hinsicht werden auch das Zarenreich, die Sowjetunion und das Osmanische Reich einbezogen, ein gleich- falls einleuchtender Europabegriff.

Der erste Artikel ist den Ägyptern gewidmet – nein, nicht dem arabischen Land, sondern einer weniger als 10 000 Personen umfassenden Ethnie im Kosovo. Hier und auch sonst gibt es für den Nicht-Spezialisten manche verfolgte Minderheit zu entdecken: Wer weiß schon etwas über die Gargausen aus Bessarabien? Die Arme- nier erhalten drei Artikel: Die A. von der Krim, A. im Osmanischen Reich, A. in der Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten. Die mittlere Gruppe von ca. drei Mil- lionen Menschen erlitt den Genozid im Ersten Weltkrieg mit ca. einer Million To- ten – war aber eben auch Zwangsislamisierungen ausgesetzt, wie es im Artikel heißt. Proportional stimmt hier die Gewichtung allerdings kaum. Ein Überblicks- artikel »Genozid« (Boris Barth) bündelt alle einschlägigen definitorischen Probleme und gibt eine Übersicht über die Grenzen gerade dieses Begriffs.

Abgabe- und Aufnahmegebiete werden sehr häufig zum Thema eines Artikels gemacht. Für »Deutsche aus...« zähle ich 25 Artikel – von den Baltendeutschen bis

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zu denen aus Wolhynien im Zweiten Weltkrieg. Je nach Deportationsgebiet und Zeitraum (Erster oder Zweiter Weltkrieg bzw. deren Nachwirken) finden sich auch zwei Artikel für jeweils eine dieser Gruppen. Da hätte man doch gut zusammen- fassen können. Ein Artikel »Deutschland« fasst einige Charakteristika für diese Untergruppen der Vertreibungen zusammen. Unter »Juden« finden sich nur drei recht knappe Artikel, wobei zwei Juden und Polen im Ersten Weltkrieg bzw. pol- nischen Antisemitismus 1968 betreffen. Wesentlich knapper, nur eine Seite lang, ist der Artikel von Dieter Pohl »Juden: Deportation und Vernichtung« (Ein weiterer Artikel heißt Polen und Juden). Das scheint vom geringen Umfang nicht angemes- sen, auch wenn man in sehr vielen Artikeln weitere Hinweise auf den Genozid fin- det.

Für Vertreibungen von Polen gibt es eine ganze Reihe kleinerer und größerer Artikel, viele von Malgorzata Ruchniewicz verfasst. Hier fällt der Wechsel von der Makro- zur Mikroperspektive besonders auf, der durch einen sehr langen zusam- menfassenden Artikel über Polen insgesamt aufgewogen wird. Hinzu kommen Artikel über den Reichsgau Danzig-Westpreußen und Wartheland(gau), welche durch Querverweise erschlossen werden.

Eine solche Komposition bildet den Kern jedes Lexikons oder jener Enzyklo- pädie. Dennoch ist das Auffinden von bestimmten Sachverhalten und Artikeln nicht leicht. Ein kombiniertes Personen-, Orts- und Sachregister hilft da zwar ein Stück weiter – mit Fettdruck von Lemmata-Artikeln. Als der Rezensent etwa nach der Lektüre des Bandes nochmals die korrekte Bezeichnung der eingangs genann- ten Initiativen zur Vertreibungsproblematik nachschlagen wollte, fand er dies nur mühsam wieder.

Länderartikel unterschiedlicher Art geben oft gute Zusammenfassungen über das dortige Geschehen als Aufnahme- und Ausweisungsland. Hier hätte man sich oft ein stärkeres Eingehen auf die allgemeinen politischen, sozialen und kulturellen Verhältnisse im Wandel wünschen können. Im Hinblick auf Deutschland gibt es gesonderte Artikel für die vier Besatzungszonen nach 1945 und damit den unter- schiedlichen Umgang der Siegermächte mit den deutschen Flüchtlingen und Ver- triebenen.

Personenartikel sind sparsam gesetzt und suchen meist das ganze Leben der Pro- tagonisten in den Blick zu nehmen. Meist sind es – salopp gesagt – die großen Verbre- cher: vom osmanischen Innenminister Mehmet Talat Pascha über Adolf Hitler und Io- sif Stalin bis zu Slobodan Milosević und Radko Mladić, wobei die berühmteren relativ knapp abgehandelt werden. Aber auch der »Erfinder« der Genozid-Konvention Ra- phale Lemkin wird mit einem Beitrag geehrt. Dass ein eigener Artikel Winston S. Chur- chill gewidmet ist (Detlef Brandes), hängt mit seinem Eintreten für unterschiedliche »Be- völkerungsverschiebungen« im Zweiten Weltkrieg zusammen. Aber Franklin D.

Roosevelt fehlt als einer der »Großen Drei«.

Die großen NS-Vernichtungslager kommen im Zusammenhang von Sachtiteln knapp vor; korrekt wird etwa berichtet, dass Chelmno nur ein Vernichtungslager ge- wesen sei. Aber das Lager Lamsdorf für Deutsche nach 1945 erhält einen eigenen Arti- kel. Dafür gibt es einen umfänglichen Artikel über Lager als Kategorie, der aber zu we- nig einen zentralen Ort des 20. Jahrhunderts benennt, stattdessen primär typisiert.

Besonders instruktiv, weil eher analytisch und kulturhistorisch orientiert, finde ich viele Artikel zur Geschichtspolitik und Erinnerungskultur in verschiedenen Ländern bzw. zu unterschiedlichen Vertreibungen. Stefan Troebst sticht hier als Autor hervor.

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Die Diktion ist in dem Lexikon durchweg nüchtern, benennt Sachverhalte und Zah- len, schafft gerade bei den Vertreibungen der Deutschen aus der Tschechoslowakei 1945 f. so weit wie heute möglich Klarheit über Motive und Umfang (Aussiger Brücke u.a.). Dass einmal ein Begriff wie »Elendsgestalten« (S. 86) vorkommt, ist ebenso sel- ten wie der Begriff »Rache« (z.B. S. 150).

Die kritische Frage: »wenn a) vorkommt, warum dann nicht auch b)?«, ist bei einem solchen Band immer bis zu einem gewissen Grade wohlfeil, aber schwerwiegend ist es schon, wenn zwar der Völkerbund, die – ungleich kompliziertere – UNO aber nicht mit einem eigenen Artikel vertreten ist. Dafür stehen dann mehrere einschlägige Resoluti- onen im Text.

Die Autoren umfassen neben Historikern manche Vertreter einschlägiger Nachbar- wissenschaften. Gut ist es, dass auch Völkerrechtler wie Hans-Joachim Heintze oder Otto Luchterhandt schreiben. Doch wäre in deren fachlich zupackend-kategorisie- renden Artikeln gelegentlich eine Ergänzung durch die oder Ko-Autorschaft eines His- torikers wünschenswert gewesen, wie sich z.B. bei »Selbstbestimmungsrecht der Völ- ker« zeigt, wo nur eine normierende Diskussion gezeichnet wird, statt dass auch die soziale Praxis und die entstehenden Probleme berücksichtigt werden.

Dies alles sind Lesefrüchte, die dem kritischen Rezensenten auffallen. Wichtiger aber ist das Fazit: Hier ist ein genuin europäisches Werk entstanden, das weg kommt von allen nationalen Emotionen und Schuldzuweisungen und daher mit gebotener wis- senschaftlicher Nüchternheit und Akribie Themen recherchiert, die immer noch in der breiteren Öffentlichkeit aus nostalgischen oder schlicht interessengeleiteten Gesichts- punkten Emotionen wachhalten und schüren. Dagegen hilft Aufklärung: vielleicht durch ein europäisches Netzwerk der Erinnerungen – und dazu ist dieses Werk als Ba- sis glänzend geeignet. Ein Klassiker also, aber ein Klassiker »in the making«.

Jost Dülffer

Gerhard Krebs, Das Moderne Japan 1868–1952. Von der Meiji-Restauration bis zum Friedensvertrag von San Francisco, München: Oldenbourg 2009, XII, 249 S. (= Oldenbourg Grundriss der Geschichte, 36), EUR 29,80 [ISBN 978-3-486-55894-4]

Lange überfällig und von Japaninteressierten im deutschen Sprachraum sehnlichst erwartet, liegt nun der Band zur neueren japanischen Geschichte in der renom- mierten Reihe »Grundriss der Geschichte« des Oldenbourg Verlages vor. Wie in dieser Reihe üblich, findet der Leser hier auf knapp 250 Seiten zunächst eine Dar- stellung der Geschichte des behandelten Zeitraumes und sodann in jeweils eigenen Abschnitten eine Einführung in Grundprobleme und Tendenzen der Forschung sowie den Quellen- und Literaturstand zum Dargestellten. Mit Gerhard Krebs hat der Verlag dabei einen der nach wie vor im deutschen Sprachraum ganz wenigen Historiker als Autor gewonnen, die auch den Vergleich mit entsprechenden führen- den Spezialisten angelsächsischer Herkunft keineswegs zu scheuen brauchen.

Im darstellenden Teil des Buches gibt der Autor zunächst einen Abriss der Er- eignisse des behandelten Zeitraums. Hier stehen die Geschehnisse am Anfang, die zum Sturz des Tokugawashogunats und zur anschließenden Meiji-Restauration führten. Offiziell war diese »Restauration« die Rückgabe der Macht an den Kaiser (Tennô), tatsächlich aber wurde diese weiterhin »in seinem Namen« ausgeübt, al-

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lerdings nunmehr von einer Gruppe von Oligarchen, die sich primär aus der Füh- rerschaft der Territorien (Daimyate, Han) Chôshû und Satsuma rekrutierten, wel- che die entscheidende Rolle beim Sturz der Tokugawa gespielt hatten. Der Anstoß zu diesem Umsturz war davon ausgegangen, dass Japan, ebenso wie andere fern- östliche Staaten wie z.B. China, von westlichen Staaten in das System der unglei- chen Verträge einbezogen worden war. Damit drohte die Gefahr, dass das Land dauerhaft in einen halbkolonialen Status geriet, und um diese Gefahr abzuwen- den, unternahmen die neuen Machthaber größte Modernisierungsanstrengungen, mit dem Ziel Japan die Anerkennung durch die westlichen Staaten als gleichbe- rechtigtes Mitglied des internationalem Mächtekonzerts zu verschaffen. Die anste- hende Reformaufgabe war gewaltig, insbesondere weil das Land unter der Herr- schaft der Tokugawa zwei Jahrhunderte lang von der Außenwelt weitgehend abgeschlossen gewesen war. Da fremde Einflüsse, insbesondere die Missionstätig- keit jesuitischer Geistlicher als politische Bedrohung angesehen worden waren, hatte das Shogunat die westlichen Ausländer des Landes verwiesen, Auslandsrei- sen unter Androhung der Todesstrafe untersagt und Kontakte zum Ausland der- art unter seine Kontrolle gestellt, dass ausschließlich Holländer auf der künstlichen Insel Deshima eine Handelsniederlassung unterhalten durften. Die hier einge- führten Waren und Informationen wurden strikt überwacht. Allerdings wurde das Verbot von Auslandsreisen und –kontakten gegen Ende der Shogunatsherrschaft zunehmend von einigen Daimyaten heimlich unterlaufen und auch das Shogunat selbst entsandte angesichts der sich abzeichnenden Krise seiner Herrschaft Perso- nal ins Ausland, um den offensichtlichen Kenntnisrückstand des Landes gegen- über den westlichen Staaten abzubauen.

Diese Bemühungen wurden durch die neuen Machthaber des Landes nach dem Sturz der Tokugawa noch verstärkt, obwohl sie ursprünglich gerade aufgrund der als schwächlich empfundenen Abwehr der ausländischen Einflüsse gegen die Re- gierung des Shogun (bakufu) rebelliert hatten. Allerdings wurden die nun herr- schenden Oligarchen rasch von den Realitäten eingeholt und sie verstärkten nun noch die Bemühungen, vom Ausland zu lernen. Von den durch die neue Regie- rung ins Ausland entsandten Missionen waren die von dem Hofadeligen Iwakura Tomomi zu Beginn der 1870er Jahre, noch mehr aber die zehn Jahre später folgende unter Itô Hirobumi von besonderer Bedeutung, denn nun riefen oppositionelle Kräfte in der »Bewegung für Freiheit und Volksrechte« (jiyû minken undô), teil- weise beeinflusst von westlichen liberalen Vorstellungen, nach einer Verfassung und begannen, Ideen wie Volkssouveränität und Gewaltenteilung zu propagier- ten. Auf solche Forderungen war zunächst ein Versprechen des Tennô erfolgt, dem Land eine Verfassung zu geben. Die herrschenden Oligarchen (Genrô) dachten je- doch keineswegs daran, ihre Machtposition etwa durch ein wirklich einflussreiches Parlament gefährden zu lassen und daher war es die Hauptaufgabe von Itôs Mis- sion, bei seiner Studienreise nach Europa und in die USA eine »passende«, d.h. die bestehende Herrschaft »im Namen« des Kaisers erhaltende Verfassung ausfindig zu machen, und als eine solche wurde rasch die preußische ausgemacht, die als Vorlage für die vom Tennô 1889 seinem Volk »geschenkte« Verfassung diente, wo- bei die Rechte des japanischen Parlaments im Vergleich zum preußischen noch zu- sätzlich eingeschränkt wurden. Aber selbst ein entsprechend »entschärftes« Parla- ment war den Machthabern noch nicht »sicher« genug: Das zusammen mit der Verfassung implementierte Wahlrecht ermöglichte es bei den ersten Wahlen nur gut einem Prozent der Bevölkerung, ein Stimmrecht auszuüben.

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Nach dem militärischen Sieg über Frankreich im Krieg von 1870/71 schien Preu- ßen-Deutschland auch als geeignetes Vorbild für die Reform des Heeres und deut- sche Offiziere und Juristen wurden hinfort verstärkt von der Regierung für die Modernisierung von Militär und Justizwesen herangezogen. Mit dem »Import«

des preußischen Verfassungsmodells wurden allerdings zugleich dessen Schwä- chen, insbesondere Immediatrechte der Spitzen von Heer und Marine bei deren gleichzeitiger weitgehender Unabhängigkeit von Regierung und Parlament, mit übernommen. Europäischen feudalistischen Traditionen nicht unähnlich, diesen gegenüber aber pronouncierter, bildete künftig ein obskurantistischer Mythos von der göttlichen Abstammung des Tennô die Grundlage einer Staatsstruktur, in der die Genrô praktisch kaum gestört herrschten. Erst mit ihrem allmählichen Aus- sterben in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts setzte ein Tauziehen der nunmehr zunehmend »unkontrollierten« Machtzentren des Landes ein, bei dem es letztlich über die Gestaltung der täglichen Politik hinaus um die Interpretation der im Kern großenteils feudalistisch gebliebenen Staatsstruktur Japans (kokutai) ging. Selbst nach dem Abwurf der beiden Atombomben am Ende des Zweiten Weltkrieges verzögerten Sorgen in Kreisen japanischer militärischer und politischer Eliten vor einer möglichen Änderung der Kokutai die längst überfällige Entschei- dung zur Kapitulation des Landes. Herausbildung und Erhalt der im Kern, trotz aller Modernisierung, noch immer von feudalistischen Vorstellungen wesentlich geformten Herrschaftsstruktur sind im Prinzip der Hintergrund, vor dem sich die Geschichte des Landes entfaltete, die Gerhard Krebs dem Leser in seinem Buch durchaus griffig und übersichtlich nahebringt. Der Rezensent hätte sich dabei eine etwas prägnantere Akzentuierung dieses im Prinzip sozialgeschichtlichen Aspekts gewünscht, der im darstellenden Teil tendenziell eher »zwischen den Zeilen«, im zweiten, den Forschungsstand und die Probleme diskutierenden, dann aber in der wünschenswerten Klarheit thematisiert wird.

Das bedeutet keineswegs, dass der erste, darstellende Teil des Buches qualita- tiv schlechter als der zweite ist, der sich mit den Forschungsproblemen beschäf- tigt. Lediglich die Zielsetzung ist eine andere. Während der möglicherweise mit der Geschichte Japans noch nicht vertiefter vertraute Leser im darstellenden Teil präzise und aktuelle Information zu den grundlegenden Sachverhalten findet, wird der bereits etwas sachkundigere eher am Diskussionsstand interessierte im zwei- ten Teil des Bandes ausgezeichnet bedient. Hier geht das Buch auch über den ge- mäß Titel eigentlich zu erwartenden Zeitrahmen hinaus, denn während der Frie- densvertrag von San Francisco, der den diplomatischen Schlusspunkt hinter den fernöstlichen Teil des Zweiten Weltkrieges setzen sollte, 1952 in Kraft trat, kamen Diskussionen über dessen Interpretation und der dorthin führenden Vorgeschichte unter Fachwissenschaftlern, insbesondere auch Historikern, verstärkt nach diesem Zeitpunkt in Gang. Häufig spielten dabei politische Ereignisse eine Rolle, die als Katalysatoren hierfür wirkten, sowie natürlich das allmähliche Verfügbarwerden neuer Quellenbestände.

Ein Thema, das an dieser Stelle angesprochen werden soll, ist die Frage, ob das japanische Kaiserreich der Kriegszeit als »faschistisch« anzusehen ist und wie es im Vergleich zu seinen damaligen Verbündeten Deutschland und Italien einzuord- nen ist. Als einen besonders interessanten Interpretationsansatz nennt Krebs bei seinem Aufriss des Diskussionsspektrums Barrington Moores These von Deutsch- land, Italien und Japan als »industrialisierten Feudalgesellschaften«, in denen die alten Eliten und Denkweisen nicht völlig aus ihren Machtpositionen entfernt wor-

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den seien, sondern im Prinzip in einem modernisierten Staatsgehäuse unter ver- schärfter Anwendung von Machtmitteln und Repression ihre Vormachtstellung zu behaupten suchten.

Am Ende der Darstellung des Disskussionsstandes finden sich Ausführungen zum Koreakrieg und Japan, zu dessen Wiederbewaffnung und zum Abschluss des in Teilen der Öffentlichkeit heftig umstrittenen Sicherheitsvertrages mit den USA.

Der dritte Teil des Buches schließlich enthält ein thematisch gegliedertes Literatur- verzeichnis.

All das, was hier vorgestellt wird ist nicht neu und soll es auch gar nicht sein.

Neu ist vielmehr, dass die hier vorgelegte Arbeit es jedem Interessierten erlaubt, sich auf einer professionell hervorragenden Basis rasch über die wesentlichen Werke und Diskussionsfelder der japanischen Geschichte seit der Meiji-Restaura- tion zu informieren. Genau das macht das Buch für den Fachmann unverzichtbar.

Bleibt zu hoffen, dass alsbald für die japanische Zeitgeschichte nach 1952 ein ver- gleichbarer Band erscheint.

Dem gegenüber erscheint der einzige Kritikpunkt eher trivial, soll aber gleich- wohl nicht verschwiegen werden: Obgleich der Autor japanische Fachtermini in Klammern nennt und dann auch die im Japanischen unverzichtbaren Längungen kenntlich macht, wird genau dies im Text bei vielen japanischen Namen und Be- griffen unterlassen. Diese Inkonsistenz mag ein Zugeständnis an Gewohnheiten westlicher Leser sein, leuchtet m.E. jedoch nicht als wirklich notwendig ein. Die- ser formale Punkt kann jedoch nicht die Freude daran trüben, dass dieses Buch endlich vorliegt. Es gehört in die Hand jedes Japaninteressierten.

Johannes Berthold Sander-Nagashima

Militärgeschichte des pharaonischen Ägypten. Altägypten und seine Nachbar- kulturen im Spiegel aktueller Forschung. Hrsg. von Rolf Gundlach und Ca- rola Vogel, Paderborn [u.a.]: Schöningh 2009, 515 S. (= Krieg in der Ge- schichte, 34), EUR 68,00 [ISBN 978-3-506-71366-7]

Auf der Basis einer im Dezember 2003 in Mainz abgehaltenen Tagung präsentie- ren Rolf Gundlach und Claudia Vogel die Militärgeschichte des pharaonischen Ägyp- ten in einem Sammelband. Der erste Teil widmet sich den theoretischen Grundla- gen, der zweite den verschiedenen Quellengattungen; der dritte Nachbar- disziplinen der Ägyptologie.

Der Einleitungsaufsatz ist auch abseits der Altertumswissenschaften lesenswert – und mag zunächst erstaunen: Mit Bernhard R. Kroener zeichnet der Doyen der

»neuen« deutschen Militärgeschichte die methodische Entwicklung der Fachdis- ziplin seit ihrer Herausbildung zur wissenschaftlich ernst zu nehmenden Fachdis- ziplin nach. Waren gegenüber der traditionellen Operationsgeschichte seit den 1970er Jahren – und verstärkt seit den 1990ern – eine methodische und thematische Erweiterungen der Disziplin fällig, betont Kroener indessen, dass die Militärge- schichte auch vom Krieg sprechen müsse; natürlich eingebettet in die politischen, sozialen und kulturellen Bezüge. Dass eine Übertragung auf Ägypten möglich ist, zeigt Rolf Gundlachs Beitrag. Den ägyptischen König parallelisiert er als »roi de guerre« und »roi connétable« schon begrifflich mit Ludwig XIV. von Frankreich.

Anhand der überlieferten Inschriften tritt der ägyptische König nicht nur als Krie-

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gerkönig, sondern »als einzig handelnde[r] Krieger« hervor (S. 66). Ergänzend dazu geht Andrea M. Gnirs der militärischen Kultur- und Sozialgeschichte Altägyptens nach. Das plakativ verbreitete Bildthema, das den ägyptischen König beim Erschla- gen der Feinde zeigt, wurde auch im diplomatischen Verkehr genutzt. Im Altägyp- tischen existierten keine Begriffe für »Krieg« und »Frieden« (S. 67). Demnach galt Krieg als Normalzustand, Friede nur als Waffenruhe: »Kriegsgeschichte war und ist immer noch ein wesentlicher Teil der ägyptologischen Geschichtsforschung«, so Gnirs. Allerdings plädiert sie für die Berücksichtigung der »verschiedenen Fa- cetten des Phänomens Krieg im größerem kulturellen Kontext«. Dies aber sei »in der Ägyptologie bisher nur partiell unternommen« worden (S. 68 f.). Eine Erwei- terung des Forschungsspektrums verspricht der Genderaspekt. So zeigten sich Herrscherinnen der späten 18. Dynastie in Bilddarstellungen bei Feindvernich- tungsritualen oder als Bogenschützinnen (S. 106 f.).

Der Quellenteil beginnt mit den Bodendenkmälern. Stephan J. Seidlmayer erör- tert archäologische Befunde militärgeschichtlicher Aussagekraft, Carola Vogel zeigt das ägyptische Festungssystem bis zum Ende des Neuen Reiches. Wie immer stellt sich ein Darstellungsproblem: »Was stellt man vor, was lässt man weg?« Zur Le- benswelt der ägyptischen Soldaten einer entlegenen Festung an der Südgrenze des Reiches ist ein Selbstzeugnis überliefert: »Ich befinde mich am Ort der Verdamm- nis«. Das Ausbleiben von Nachschub; zudem Ödnis, Langeweile, Hitze und Stech- mücken plagten bereits die ägyptische Armee im Einsatz (S. 184 f.). Anja Herold rückt die technologische Hardware der drei, später vier Waffenklassen ins Bild: Hand- waffen, Wurfwaffen und »Langstreckenwaffen« (Bogenschützen) sowie später der Streitwagen. Letztere hielten mit dem Eindringen der Hyksos (1648–1536 v.Chr.) Ein- zug, die als »Vermittler oder besser Anlassgeber für die Veränderung des ägyptischen Waffenkanons« gelten können (S. 205). Neben der Metallurgie kam es hier auf die Technik des Holzbiegens und der Lederverarbeitung an. »Doch waren die Streit- wagen zu dieser Zeit überhaupt kriegsentscheidend? Waren sie es je?« Eigentlich hätte der – erst später im Band präsentierte und als »Exkurs« angesprochene – Kurzbeitrag von Oliver D. Langenbach zu Aufbau und Organisation und sogar Kar- rieremuster der ägyptischen Streitwagentruppe als Ergänzung dieses Beitrages hierher gepasst.

Marcus Müller präsentiert bildliche Quellen zur Militärgeschichte. Diese unver- zichtbaren Quellen sind freilich »teilweise tendenziös« und beleuchten »nur be- stimmte Aspekte«. Andrea M. Gnirs und Antonio Loprieno weisen auf den Zusam- menhang von Krieg und Literatur hin. Diese lässt die Kriegerkultur der mittleren Bronzezeit zutage treten. Lebensgeschichten der Spätbronzezeit trugen teils ho- merische Züge (S. 276). Meist blieb die Erzählung auf die Einzeltaten des Königs oder anderer Helden verdichtet. Mehr soziale Wirklichkeit vermitteln Berufssati- ren (S. 286–289), in denen etwa die Unvereinbarkeit von »Schreibern« und »Krie- gern« hervorgehoben wird.

Christine Raedlers Beitrag prosopografischer Zugriff auf Offiziere und höhere Beamte zeigt die »Arbeitsebene« unterhalb des Herrscherhauses (S. 341). Das Mi- litär gewinnt so Lebensnähe. Gleichwohl beginnt die Autorin mit etwas Polemik:

»Obwohl offensichtlich unverhältnismäßig mehr Tinte über Ramses II. und die Quadešschlacht aufs Papier als tatsächlich vor Ort vergossenes Blut geflossen ist«, zeigt sie die ägyptische Niederlage gegen die Hethiter (1274 v.Chr.) als diskursi- ves Ereignis (S. 336–340). Möglicherweise traten »Soldatencharakteristiken« mit

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ihrer Herausstellung typisch-negativer Eigenarten dieses Berufsstandes verstärkt in der Friedensphase nach Quadeš Verbreitung (S. 339).

Obwohl den »Nachbardisziplinen« gewidmet, vermittelt der dritte Teil wich- tige Facetten des altägyptischen Militärs. Der Beitrag von Andreas Fuchs zu einer Militärgeschichte in Vorderasien vermittelt einen »Überblick über die wichtigsten Epochen der altorientalischen Geschichte im Sinne ihrer Ergiebigkeit für die Mili- tär- bzw. Kriegsgeschichte« (S. 362–366). Trotz dieser etwas gewundenen Zwischen- überschrift hätte der interessante Aufsatz – gerade für Leser außerhalb der Fach- disziplin – auch gut in die Einleitungssektion gepasst. Doris Prechel zeichnet die rituelle Kriegstaktik im Hatti-Reich zwischen Rekrutierung, Eidesleistung und Kriegsbeginn nach. Obwohl »sehr facettenreiches Schrifttum zum Thema Krieg und Ritual« überliefert wurde (S. 381), schweigen sich die Quellen über Kriegsall- tag, über Rituale bei Niederlagen oder Sieg aus. Darüber hinaus aber traten ritua- lisierte Kriegshandlungen als Initiationsritus zutage: so die Kriegs-Spiele als Be- standteil des Staatsrituals. Parallelen sieht der Autor bis hin zu den späteren Olympischen Spielen (S. 386).

In seinen Anmerkungen zu einer Militärgeschichte Palästinas unterzieht Wolf- gang Zwickel die Überlieferung des Alten Testaments einer historisch-kritischen Untersuchung. Diesem werde »immer vorgeworfen, es sei so kriegerisch und blut- rünstig« (S. 389). Eine zutreffende Ereignisdarstellung habe die Verfassergruppe der Bücher Josua bis 2. Könige indessen nicht beabsichtigt; vielmehr verfolgten sie eine theologische Absicht (S. 389). Da diese alttestamentarischen Texte zudem deut- lich nach den Ereignissen verfasst wurden, sagen sie mehr aus über ihre Entste- hungs- als die Betrachtungszeit. Nach wie vor sei eine militärgeschichtliche Dar- stellung der alttestamentarischen Zeit lückenhaft; genauso wie die zur ägyptischen Spätbronzezeit. Zwickel unterscheidet »zwei völlig separate Bereiche«: Bis etwa 1200 v.Chr. bestand ägyptische Oberherrschaft über autonome Stadtstaaten, in der späten Bronzezeit existierten neben den Konflikten innerhalb der Stadtstaaten auch

»anomische« Gewaltakteure, die sogenannten Habiru (S. 397 f.). In der Zeit von 1000 bis 1200 v.Chr. erfolgte ein kultureller und gesellschaftlicher Umbruch. Im Zuge dieser »völlige[n] Neuordnung der Verhältnisse« nach Rückzug des Groß- reichs aus Palästina entstand aus einem losen Stämmebündnis ein Territorialstaat.

Diese Krisen- und Umbruchszeit knüpft sich an das Eintreffen der Philister. Ge- gen diese kämpfte David, ein Habiru-Führer, also irregulärer Gewaltakteur! Sein Aufstieg zum König Israels weist auf die Konsolidierung der Verhältnisse. Anstelle der zusammengebrochenen Handelsstädte entstanden Territorialstaaten; so das geeinte israelitische Königreich mit professionalisiertem Söldnerheer (S. 400–403).

Freilich bleibe, so Zwickel, die Militärgeschichte Palästinas »noch immer eine stark vernachlässigte Disziplin«. Insbesondere die deutlich friedensgestimmtere nach- exilische Zeit verdiene noch stärkere Berücksichtigung (S. 417).

Mit einem zeitlich großen Sprung in die römische Kaiserzeit von 30 v.Chr. bis 300 n.Chr. zeigt Oliver Stoll Ägypten als besondere römische Provinz. Sein Beitrag zu Integration und Religiosität des römischen Militärs verdeutlicht die Interaktion von ägyptischer Gesellschaft und römischer Provinzarmee. Letztere war insbeson- dere mit Polizei- und Sicherungsaufgaben betraut. Der Einsatz im Inneren erhielt die pax romana auch ideell. Religionsausübung vollzog sich doppelgleisig: einer- seits als offizielle Heeresreligion mit verbindlichem Kaiserkult und Verehrung der Staatsgötter; andererseits in Form privater Kulte, die aus den Herkunfts- wie aus den Einsatzregionen der Soldaten (S. 443) stammten. So wie der Kaiserkult als Bin-

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deglied zwischen Armee und Gesellschaft diente, spiegelte sich in Privatreligionen das zivile Umfeld der Soldaten. Ein 40-seitiger Bildteil sowie eine Zeittafel beschlie- ßen den Band.

Im Sammelband treten wertvolle Einsichten zutage – auch für Leser abseits der Ägyptologie. Zudem ergeben sich durchaus zeitnahe Bezüge: etwa, bei Gewalt- phänomenen, die durch unsere – »modernistisch« und »westlich« geprägten Kon- zeptionen von Staat und kollektiver Gewalt – nicht angemessen beschrieben wer- den. Andreas Fuchs betont: »Eine Begrenzung auf das Umfeld der organisierten Gewalt in dem Sinne, dass ausschließlich die Streitkräfte von Staaten bzw. staaten- ähnlicher Gebilde im Mittelpunkt des Interesses stünden, entsprechend der Defi- nition der modernen Militärgeschichte, ist für die Altorientalistik unbrauchbar, da in der altorientalischen Geschichte nicht-staatliche und nicht-sesshafte Gruppen eine viel zu wichtige Rolle gespielt haben und sich die Übergänge viel zu sehr ver- wischen, als dass man es sich leisten könnte, sie gleich von vornherein zu überge- hen« (S. 361). Das in den 1970er Jahren von Rainer Wohlfeil formulierte und von Kroe- ner paraphrasierte Konzept, den »Soldaten« und das »Militär« in alle Bezugsfelder einzubetten, ist eben eine »moderne« Konzeption, die – eigentlich contre coeur – die Existenz »moderner« Staatlichkeit verabsolutiert. Scheinbar brandaktuelle Phänomene wie »asymmetrische« oder »neue Kriege« sind nichts Neues: »Insofern könnten die Er- gebnisse auch einer Untersuchung, die sich Jahrhunderte oder gar Jahrtausende vor Christi Geburt bewegt, möglicherweise viel weniger weltfremd oder angestaubt ausfal- len, als dies aufgrund der langen zeitlichen Entfernung zu vermuten wäre« (S. 373 f.) Dem ist nichts hinzuzufügen.

Martin Rink

Medieval Warfare 1300–1450. Ed. by Kelly DeVries, Farnham [u.a.]: Ashgate 2010, XXIV, 509 S. (= The International Library of Essays on Military His- tory), £ 150.00 [ISBN 978-0-7546-2553-7]

Die vorliegende Sammlung von bereits erschienenen Essays beruht auf einer Aus- wahl des Waffenkundlers Kelly DeVries, der in seiner sonstigen Forschung dem Ein- fluss von Schießpulver und Feuerwaffen auf militärgeschichtliche Entwicklungen des ausgehenden Mittelalters und der Frühen Neuzeit nachgeht. Aufgrund der Ausrichtung der Reihe konzentriert sich der Herausgeber auf vorhandene eng- lischsprachige Beiträge. Der Band wird durch einen Überblick über diese Beiträge eingeleitet (S. XI–XXIV) und gibt dann der Einzelforschung unter den sieben Leit- motiven: Militärtheorie und Militärpraxis (Nr. 1–7), Spätmittelalterliche Armeen (Nr. 8–14), Krieg und spätmittelalterliche Gesellschaft (Nr. 15–19), Volksaufstände (Nr. 20 f.), Spätmittelalterliche Kreuzzüge und die Gefährdung durch die Osma- nen (Nr. 22 f.), Änderungen in der Waffentechnik (Nr. 24–26) bzw. Ausblick auf die Folgezeit (Nr. 27), das Wort.

Militärtheorie und Militärpraxis: Clifford J. Rogers stellt die chevauchées als er- folgreiche Taktik Eduards III. von England heraus, um seine französischen bzw.

schottischen Feinde durch gezielte und zeitlich begrenzte Reiterangriffe im eige- nen Land zur Schlacht zu zwingen (S. 3–22). Christopher Phillpotts ediert einen bis- lang weitgehend übersehenen Plan für die Schlacht bei Azincourt. Der Plan entstand wahrscheinlich zwischen dem 13. und 21. Oktober 1415 und geht auf den franzö-

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