Monatsthema
20 Die VolkswirtschaftDas Magazin für Wirtschaftspolitik 5-2010
Am 2. April 2008 formulierte der Bundes
rat seine Wachstumspolitik für die Legisla
turperiode 2008–2011.1 Diese besteht aus 20 Massnahmen, wobei die Revision des Kon
kursrechts an zehnter Stelle steht. Im Bericht werden die wirtschaftlichen Auswirkungen als bedeutend und kurzfristig realisierbar be
zeichnet. Durch die jüngste Wirtschaftskrise ist diese Reform noch relevanter und dring
licher geworden. Verschiedene Gründe spre
chen dafür, dass eine Revision des Schuldbe
treibungs und Konkursrechts in der Schweiz das strukturelle Wachstum positiv beeinflus
sen wird.
Zuerst besteht bei den Konkursen ein Auf
wärtstrend: 2008 kam es trotz hervorra
gender Konjunkturlage zu 10 592 Konkurser
öffnungen, womit beinahe der Rekordwert von 10 715 aus dem Jahr 2006 erreicht wurde (siehe Grafik 1). Die direkten Kosten solcher Verfahren sind in der Schweiz keineswegs vernachläs sigbar: Zwischen 1988 und 2008 beliefen sie sich auf rund 0,77% des BIP, 1997 nach der wirtschaftlichen Durststrecke in der ersten Hälfte der 1990erJahre sogar auf 1,1%
des BIP. Dabei sind diese offiziell ausgewie
senen Verluste als Mindestwert zu betrach
ten. Die Gesamtkosten für die Wirtschaft sind wesentlich höher, da nicht erfasste An
passungskosten von Mitarbeitenden, Liefe
ranten und Kunden hinzukommen. Ebenfalls zu berücksichtigen ist, dass in einer entwi
ckelten Volkswirtschaft der Anteil der imma
teriellen, auf dem Markt nicht handelbaren Vermögenswerte (Wahlfreiheit der Konsu
menten, Netzwerk und Markeneffekte, fir
menspezifisches Knowhow usw.) zunimmt, vor allem in innovativen Unternehmen.
Wenn hingegen die Produktionsfaktoren eines Unternehmens, das mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten kämpft, an ein anderes über
gehen, wirkt sich dies positiv auf das Wirt
schaftswachstum aus. Es kann sogar Aus
druck einer gewissen Dynamik sein, wenn die
Revision des Konkursrechts als integraler Bestandteil der Wachstumspolitik des Bundesrats
Marc Surchat Ressort Wachstum und Wettbewerbspolitik, Staatssekretariat für Wirt- schaft SECO, Bern
Es ist seit Langem bekannt, dass die industrielle Erneuerung zu einem dynamischen Wirtschafts- wachstum beiträgt. Dieser Artikel zeigt, dass der Zusammenhang zwischen Wachstumspolitik und effizientem Konkursrecht enger ist als gemeinhin angenommen.
So hatte die OECD der Schweiz im Jahr 2006 empfohlen, ihr Kon- kursrecht zu revidieren. Zwei Jah- re später nahm der Bundesrat die- sen Vorschlag in seinem Bericht
«Wachstumspolitik 2008–2011:
Massnahmen zur weiteren Stär- kung des Schweizer Wirtschafts- wachstums» auf. Für die Schweiz besteht vor allem in zwei Be- reichen Handlungsbedarf: Erstens muss sie das Konkursverfahren beschleunigen und zweitens die Verfahrenskosten senken.
1 Siehe Seco (2008).
2 Beispielsweise: Becchetti und Sierra (2003).
3 In Schwellenländern, die noch weit weg von der globalen Technologiegrenze sind, ist dies hingegen nicht immer der Fall.
4 Berechnung für ein fiktives, aber international ver- gleichbares Hotel.
Im Ausland ist es einfacher, ein Unternehmen zu schliessen. Im internationalen Vergleich liegt die Schweiz in der Rang- liste der Datenbank DoingBusiness der Weltbank bei den Unternehmensschliessungen lediglich auf dem 38. Rang.
Bild: Keystone
Monatsthema
21 Die VolkswirtschaftDas Magazin für Wirtschaftspolitik 5-2010
zienz grenze ist, die dem Durchschnitt aller Unternehmen entspricht.2 Bartelsmann, Hal- tiwanger und Scarpetta (2004) kommen – ebenso wie vergleichbare Studien – zum Schluss, dass der Prozess der Gründung und Schliessung ein wichtiges Element für das Produktivitätswachstum darstellt. Umgekehrt sind gemäss Studien alle staatlichen Strate
gien, die den Prozess der industriellen Erneu
erung bremsen (Hürden für Unternehmens
gründungen, Arbeitsplatzsicherung usw.), für das Wachstum in entwickelten Ländern fatal.3 Besonders lehrreich war dabei die Erfahrung Japans mit den «Zombie Firms» in den 1990erJahren. Das Ziel einer Konkursgesetz
gebung darf deshalb auf keinen Fall darin be
stehen, die Zahl der Konkurse zu verringern.
Vielmehr geht es darum, die frei werdenden wirtschaftlichen Ressourcen möglichst schnell und effizient neu zu verteilen.
In der Schweiz spielen die Prozesse der in
dustriellen Erneuerung und der Unterneh
mensschliessungen eine wichtige Rolle: Ge
mäss Bundesamt für Statistik (BFS) existiert die Hälfte aller Unternehmen fünf Jahre nach der Gründung nicht mehr (siehe Grafik 2).
Im Ausland ist es einfacher, ein Unternehmen zu schliessen
Im internationalen Vergleich gehört die Schweiz nicht zu den Musterschülern: Sie liegt in der Rangliste der Datenbank Doing
Business der Weltbank bei den Unterneh
mensschliessungen lediglich auf dem 38.
Rang. Ungenügend ist dabei insbesondere der Anteil der sichergestellten Ansprüche (Re- covery Rate) mit lediglich 46,8%.4 Von den Industrieländern schneiden nur noch Frank
reich und Luxemburg schlechter ab, während die Quoten der Besten bei 90% liegen. Noch bedenklicher ist der 84. und von den entwi
ckelten Ländern letzte Rang der Schweiz bei der Dauer der Konkursverfahren. Die vom Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) und vom Bundesamt für Justiz (BJ) bei Ernst&Young (2010) in Auftrag gegebene Studie konnte keine höheren durchschnitt
lichen Entschädigungsquoten für die Dritt
klassgläubiger nachweisen, was die Zahlen der Weltbank indirekt bestätigt.
Dies wirft ernsthafte Fragen zur Attrakti
vität des Wirtschaftsstandorts Schweiz auf.
Denn verschiedene europäische Länder ha
ben umfangreiche Strukturreformen ihres Konkursrechts in Angriff genommen, häufig auf Empfehlung der Europäischen Kommis
sion. Besonders beispielhaft ist der Fall Dä
nemark: Mit einer Reform gelang es dem Land gemäss Angaben der Datenbank Do
ingBusiness, den Anteil der sichergestellten Ansprüche von 63,1% im Jahr 2005 auf 87%
am wenigsten produktiven Unternehmen von ihren Konkurrenten verdrängt werden und verschwinden. Das ist häufig der Fall. Es hat sich gezeigt, dass der aussagekräftigste In
dika tor für die Konkurswahrscheinlichkeit eines Unternehmens die Distanz zur Effi
Quelle: BFS / Die Volkswirtschaft
Quelle: BFS / Die Volkswirtschaft Grafik 1
Anzahl Konkurseröffnungen in der Schweiz, 1998–2008
Grafik 2
Überlebensrate neu gegründeter Unternehmen nach Sektor für einzelne Wirtschaftszweige, 2008
Anmerkung: «Nach 1 Jahr» bezieht sich auf die Über lebens- rate der 2007 gegründeten Unternehmen, «Nach 2 Jahren»
auf die Unternehmensgründungen von 2006 usw.
in %
Gesundheits- und Sozialwesen Sonstige öffentl. und pers.Dienstleistungen Immobilienwesen, Dienstleistungen
f. Untern. Informatikdienstleistungen Unterrichtswesen
Gastgewerbe Verkehr und Nachrichten-
übermittlung Kredit- und Versicherungsgewerbe
Baugewerbe Tertiärer Sektor Handel
Insgesamt Sekundärer Sektor Industrie
40 45 50 55 60 65 70 75 80 85 90
Nach 1 Jahr Nach 2 Jahren Nach 3 Jahren Nach 4 Jahren Nach 5 Jahren
In 1000
1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008
0 2 4 6 8 10 12
Monatsthema
22 Die VolkswirtschaftDas Magazin für Wirtschaftspolitik 5-2010
chergestellten Ansprüche um fast 8% stei
gern. Alles spricht dafür, dass dieser Effekt auch in der Schweiz in einer ähnlichen Grös
senordnung auftreten würde.
Zweitwichtigste Variable für eine niedrige Recovery Rate ist aus empirischer Sicht der Anteil der Vermögenswerte, den das Konkurs
verfahren in Anspruch nimmt. Bei der Re
form ist daher der Effizienz des Konkursver
fahrens grosses Gewicht beizumessen. Die beiden wichtigsten Variablen erklären allein rund zwei Drittel der Unterschiede beim An
teil der sichergestellten Ansprüche.
Die Recovery Rate steigt, wenn Informa
tionsstellen die Schuldnerqualität genauer er
fassen; wenn hohe Entlassungskosten pro Mitarbeiter anfallen, sinkt sie (siehe Tabelle 1). Diese empirischen Beobachtungen decken sich mit unseren Vermutungen. Überra
schender ist die Erkenntnis, dass gemäss öko
nometrischen Schätzungen sowohl die Zahl der Verfahren zum Erhalt einer Baubewilli
gung als auch die Zahl der Dokumente, die für den Import eines Produkts erforderlich sind, die Recovery Rate stärker negativ beein
flussen als viele andere Faktoren. Zwar leuch
tet es ein, dass in einem Land mit hoher ad
ministrativer Belastung in der Regel auch das Konkursverfahren nicht effizient abläuft. Das ist eine mögliche Interpretation, gegen diese Annahme spricht allerdings, dass die Daten
bank DoingBusiness zahlreiche andere Indi
katoren zu administrativen Hürden enthält, die nicht signifikant sind. Deshalb ist auch ei
ne andere Interpretation denkbar: Diese bei
den Variablen könnten am repräsentativsten für die Kosten sein, die mit dem Eintritt in ei
nen kompetitiven Markt entstehen. Diese Annahme stützt die in der Fachliteratur verbreitete These, wonach höhere Markt
eintrittskosten mit höheren kalkulatorischen Konkurskosten korrelieren – zusätzlich zu ih
rer direkten negativen Wirkung auf das Wachstum und die Produktivität. Im Falle eines einfachen Markteintritts behalten näm
lich konkursite Unternehmen einen Options
wert für ein allfälliges Konkurrenzunter
nehmen, was deren Restwert erhöht. Diese Beobachtung bestätigt ebenfalls, dass die Re
vision des Konkursrechtes eine grössere Wir
kung erzielen wird, wenn sie mit Reformen zur Senkung der Markteintrittskosten einher
geht. Ein effizientes Konkursrecht ist somit nicht nur der Wachstumspolitik zuträglich, sondern das Umgekehrte gilt ebenfalls.
Auf nationaler Ebene ist es ebenfalls mög
lich, den Anteil der sichergestellten Ansprü
che je nach Konkursverfahren ökonome
trisch zu vergleichen. Dabei zeigt sich, das in entwickelten Ländern die Gläubiger bei Sa
nierungsverfahren besser fahren als bei Kon
kursen. In die gleiche Richtung geht die Fol
im Jahr 2008 zu steigern. Gleichzeitig wurde die durchschnittliche Verfahrensdauer mit einem Rückgang von 3,3 auf 1,1 Jahre auf ein Drittel reduziert. Es erstaunt deshalb nicht, dass die OECD (2006) im Rahmen einer Analyse zur Innovationspolitik der Schweiz empfahl, das Konkursrecht zu revidieren. Sie bestätigte damit auch dessen Bedeutung für die industrielle Erneuerung und die Wachs
tumspolitik.
Verschiedene Faktoren erklären hohe Recovery Rates
Eine Analyse aller Indikatoren der Daten
bank DoingBusiness liefert Anhaltspunkte dazu, unter welchen Voraussetzungen der Anteil an sichergestellten Ansprüchen hoch ist. Wichtigster Erklärungsfaktor ist dabei – unabhängig von der gewählten Berechnungs
methode – ganz klar die Dauer des Konkurs- verfahrens (siehe Grafik 3). Mit einer durchschnittlichen Verkürzung des Verfah
rens um ein Jahr liesse sich der Anteil der si
Erklärende Variablen Koeffizient Student-t
Konstante 85.1 21.5
Jahre bis zum Abschluss eines Konkursverfahrens –7.88 –11.2
Konkurskosten in % der Vermögenswerte –0.65 –7.1
Abdeckung durch private Informationsstellen 0.13 4.4
Entlassungskosten –0.06 –3.0
Anzahl Verfahren zum Import eines Produkts –1.32 –2.9
Anzahl Verfahren für eine Baubewilligung –0.32 –2.3
Tabelle 1
Erklärende Faktoren zum Anteil der sichergestellten Ansprüche
Quelle: Surchat / Die Volkswirtschaft Quelle: Weltbank (DoingBusiness) / Die Volkswirtschaft Grafik 3
Sichergestellte Ansprüche und Dauer des Konkursverfahrens, 2010
Anmerkung: R2: 0.757; Methode: OLS;
Anzahl Beobachtungen: 153.
Anzahl Jahre bis zur Unternehmensschliessung
Sichergestellte Ansprüche in % 0
1 2 3 4 5 6 7 8 9
0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100
Schweiz
Monatsthema
23 Die VolkswirtschaftDas Magazin für Wirtschaftspolitik 5-2010
Zum Beispiel ist bisher nicht vorgesehen, dass Jungunternehmer, die ohne eigenes Verschulden Konkurs gehen, eine zweite Chance erhalten. Auch gewisse Bestand
teile des Gesellschaftsrechts müssen noch überprüft werden. Wie der Bundesrat an seiner Sitzung vom 17. Februar 2010 be
stätigt hat, ist deshalb eine zweite Reform unumgänglich, wenn das Ziel eines wachs
tumsfördernden Konkursrechts erreicht
werden soll.
gerung von Thornburn (2000), wonach Versteigerungen für kleine und mittlere Un
ternehmen (KMU) in Schwierigkeiten inte
ressanter sind als herkömmliche Verfahren.
Revision des Konkursrechts mit Wachstumspolitik kombinieren
Zusammenfassend gilt somit, dass ein wachstumsstimulierendes Konkursrecht zwei Realitäten berücksichtigt:
– Zur Wahrung der Gläubigerrechte ist ein hoher Anteil an sichergestellten Ansprü
chen anzustreben. Dies erfordert kurze, effiziente Verfahren, die von kompetenten und motivierten Akteuren vollzogen wer
den und eine Restrukturierung der kon
kursiten Unternehmen fördern, weil es für den Staat von Vorteil ist, wenn er die Entscheidungen der Gläubiger rasch ko
ordiniert. Dieses Ziel kann der Bund al
lein nicht erreichen, sondern die Kantone spielen dabei eine zentrale Rolle. Dieser Ansatz hängt im Übrigen nicht vom Um
fang und der Komplexität der Konkurse ab, da neu auftretende Unternehmen häu
fig klein, produktiv und riskant sind, aus
tretende Unternehmen hingegen häufiger alt und gross.
– Ein revidiertes Konkursrechts zeigt mehr Wirkung, wenn es Teil eines umfassenden Programms ist, das Unternehmensgrün
dungen fördert und die Markteintritts
kosten senkt. Das Wachstumsprogramm des Bundesrates für die Schweiz geht in diese Richtung. Allerdings ist anzumer
ken, dass mit der laufenden Reform nicht alle vorgesehenen Ziele erreicht werden.
Kasten 1
Literatur
– Bartelsman E., Haltiwanger J. und Scar- petta S., Microeconomic Evidence of Crea- tive Destruction in Industrial and Develo- ping Countries, Iza Discussion Paper Series Nr. 1374, Bonn, Oktober 2004.
– Becchetti L. und Sierra J., Bankruptcy Risk and Productive Efficiency in Manufacturing Firms, Journal of Banking and Finance, Band 27, Nr. 11, S. 2209–2120, November 2003.
– Ernst&Young, Eco’Diagnostic, Trois études sur la révision du droit des faillites, Grund- lagen der Wirtschaftspolitik, Nr. 19, Seco, Bern, 2010.
– OECD, Economic Survey of Switzerland, Band 2006/1, Paris, Januar 2006.
– Seco, Wachstumspolitik 2008–2011: Mass- nahmen zur weiteren Stärkung des Schwei- zer Wirtschaftswachstums, Bericht des Bundesrates vom 2. April 2008, Grund- lagen der Wirtschaftspolitik, Nr. 15F, Bern, 2008.
– Thorburn K., Bankruptcy Auctions: Costs, Debt Recovery and Firm Survival, Journal of Financial Economics, Band 58, Nr. 3, S. 337–368, Dezember 2000.