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Die Emotionelle Erste Hilfe als Unterstützungsangebot für Mütter nach einem Kaiserschnitt

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Academic year: 2022

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Leopold- Franzens- Universität Innsbruck Institut für Psychologie

Fakultät für Psychologie und Sportwissenschaft

Die Emotionelle Erste Hilfe als Unterstützungsangebot für Mütter nach einem Kaiserschnitt

Masterarbeit

zur Erlangung des akademischen Grades Master of Science (M.Sc.)

im Fach Psychologie

eingereicht von Kathleen Ellmerer

01238082

Betreuer:

Dr. Gerhard Medicus Innsbruck, den 08.03.2021

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1 Einleitung ... 1

2 Theoretischer Hintergrund ... 4

2.1 Die Geburt ... 4

2.2 Der Kaiserschnitt aus unterschiedlichen Blickwinkeln ... 6

2.2.1 Entwicklung des Kaiserschnittes ... 6

2.2.2 Der Kaiserschnitt aus heutiger Sicht ... 8

2.2.3 Der Kaiserschnitt als psychische Herausforderung für die Mutter ... 9

2.3 Emotionelle Erste Hilfe (EEH) ... 11

2.3.1 Grundidee der EEH ... 12

2.3.2 Praktische Umsetzung der EEH ... 13

2.4 Anliegen und Unterstützungsbedarf von Müttern im Rahmen der EEH ... 17

2.4.1 Das Geburtserlebnis (Geburtsverarbeitung) ... 17

2.4.2 Mutter-Kind-Bindung (Einfinden in Mutterrolle und Bindungsförderung) ... 19

2.4.3 Krankheitswertige psychische Probleme und Traumaarbeit ... 22

2.4.4 Regulationsstörungen (Kindliche Probleme und Umgang mit dem Kind) ... 27

3 Forschungsfrage und Hypothesen ... 31

3.1 Fragestellung ... 31

3.2 Hypothesen ... 32

4 Methode ... 34

4.1 Experteninterview ... 34

4.1.1 Methode und Datenerhebung ... 34

4.1.2 Auswertung und Ergebnisse... 35

4.2 Quantitatives Studiendesign ... 38

4.3 Stichprobe ... 39

4.4 Instrumente zur Datenerhebung ... 39

4.4.1 Kindliche Schwierigkeiten und mütterliche Belastung ... 39

4.4.2 Geburt, Geburtserlebnis und negative Gefühle in Bezug auf die Geburt ... 40

4.4.3 Mutter-Kind-Bindung ... 41

4.4.4 Anliegen der Mütter ... 42

4.4.5 Evaluation der EEH-Angebote... 43

4.5 Auswertung ... 45

5 Ergebnisse ... 50

5.1 Deskriptive Statistik ... 50

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5.3 Ergebnisse der Hypothesenprüfung ... 59

5.3.1 Hypothese 1 ... 59

5.3.2 Hypothese 2 ... 60

5.3.3 Hypothese 3 ... 60

5.3.4 Hypothese 4 ... 60

5.4 Weiterführende Ergebnisse ... 61

5.4.1 Anliegen der Mütter ... 61

5.4.2 EEH-Intervention ... 63

6 Diskussion ... 64

6.1 Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse ... 64

6.2 Theoretische Implikationen ... 65

6.2.1 Anliegen/Unterstützungsbedarf ... 65

6.2.2 EEH-Intervention ... 68

6.3 Praktische Implikationen ... 69

6.4 Limitationen ... 70

Literatur ... 72

Tabellenverzeichnis ... 85

Abbildungsverzeichnis ... 85

Anhang ... 86

Interviewleitfaden ... 86

Transkript Experteninterview 22.04.20 ... 86

Auswertungstabellen ... 93

Fragebogen ... 100

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Eine Geburt per Kaiserschnitt kann eine große Herausforderung für die Mutter sein. Kommt es in der Zeit nach der Geburt zu Schwierigkeiten, stellt das Angebot der Emotionellen Ersten Hilfe eine Möglichkeit der frühen Intervention dar.

Diese Arbeit soll mithilfe eines Experteninterviews und einer quantitativen Befragung erheben, mit welchen Anliegen sich Mütter nach einem Kaiserschnitt an die Emotionelle Erste Hilfe wenden und ob es Unterschiede im Unterstützungsbedarf zu Müttern mit natürlicher Geburt gibt. Zusätzlich wird erhoben, ob die Intervention den Anliegen der Mütter nach einem Kaiser- schnitt gerecht wird. Insgesamt 126 Selbstauskunftsfragebögen von Müttern dienen als Grund- lage zur Testung von vier Hypothesen: (1 und 2) Fischer-Exact-Test zur Feststellung von Un- terschieden in den Anliegen je nach Art der Geburt, (3 und 4) Wilcoxon-Test für gepaarte Stich- proben, um die Wirkung der Intervention zu betrachten.

Die Auswertung zeigt elf unterschiedliche Anliegen, mit denen sich Mütter nach einem Kaiser- schnitt an die EEH wenden. Eine stochastische Abhängigkeit des Anliegens von der Art der Geburt wird nur für das Anliegen Geburtsverarbeitung gefunden. Dieses wird von Müttern mit Kaiserschnitt häufiger genannt. Es besteht kein Unterschied in der Zufriedenheit je nach Art der Geburt und die Mutter-Kind-Bindung nach Kaiserschnitt ist nach der Intervention besser als vorher. Auch sind nach der Intervention weniger negative Gefühle in Bezug auf die Geburt vorhanden.

Die vorliegende Arbeit unterstreicht die Emotionelle Erste Hilfe als wirksamen Interventions- ansatz und die Relevanz von Unterstützung der Mütter nach belastenden Geburtserfahrungen, insbesondere, wenn geburtshilfliche Eingriffe notwendig sind.

Schlagworte: Kaiserschnitt, Geburt, Emotionelle Erste Hilfe, Bindung, Regulationsstörungen

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1 Einleitung

Die Geburt eines Kindes stellt eine große Herausforderung für die werdende Mutter dar und auch für das Baby selbst, welches den geschützten Raum im Bauch der Mutter nun verlässt, bedeutet sie eine Extremsituation. Während eine Geburt früher mit der Gefahr für das Leben von Mutter und Kind verbunden war, hat es im vergangenen Jahrhundert große medizinische Fortschritte gegeben. Inzwischen kommt dem Sicherheitsaspekt eine so große Bedeutung zu, dass die Geburt als ein an sich natürlicher und gesunder Vorgang unter intensiver medizinischer Beobachtung steht (Neumann & Maier, 2019).

Mit dem Fortschritt der medizinischen Möglichkeiten hat sich auch der Entscheidungsfreiraum für werdende Eltern bezüglich der Geburt stark erweitert. Anfang des 20. Jahrhunderts waren Hausgeburten in Begleitung einer Hebamme üblich (Neumann & Maier, 2019). Heute finden die meisten Geburten im Krankenhaus statt (Statistik Austria, 2020b). Soweit es aus medizini- scher Sicht möglich ist, kann die werdende Mutter selbst entscheiden, wie und wo sie ihr Kind zur Welt bringen möchte. Stärker als je zuvor können sich Frauen heute auf ihr Geburtserlebnis konzentrieren.(Neumann & Maier, 2019).

Da viele Frauen in Österreich nur ein Kind bekommen (Durchschnittliche Kinderanzahl = 1,46, (Statistik Austria, 2020a)), ist nachvollziehbar, dass der einzelnen Geburt eine große Bedeutung zugeschrieben wird. Einerseits ist hier bei der Mutter das Bedürfnis nach Sicherheit sehr groß (Abdallah et al., 2020), andererseits sollte das Ereignis die teilweise durch Medien und Ratge- ber vermittelten, nicht selten überzogenen hohen Erwartungen erfüllen (Abou-Dakn, 2018).

Dies kann laut Abou-Dakn (2018) in Enttäuschung über die Realität resultieren.

Wie zuvor beschrieben, steht der an sich natürliche Vorgang der Geburt heutzutage unter in- tensiver medizinischer Beobachtung (Neumann & Maier, 2019). Inwieweit zunehmende Über- wachung und Technisierung hier Einfluss auf den natürlichen Geburtsvorgang nehmen und in weiterer Folge psychosomatische Auswirkungen haben können, rückt verstärkt in den Fokus der Geburtshilfe (Abou-Dakn, 2018). Die Möglichkeit, dass die Art und Weise der Geburt das psychische Befinden der Mutter beeinflusst, findet zunehmend Beachtung. Es wird vermutet, dass geburtshilfliche Eingriffe bei der Entbindung, die für lebensrettende Zwecke sowohl für die Mutter als auch für das Kind vorgesehen sind, negative Auswirkungen auf das Wohlbefin- den der Mutter haben können (Dekel et al., 2019). Die empirische Evidenz hierzu ist laut Dekel (2019) jedoch uneindeutig.

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Da in den letzten Jahren und Jahrzehnten die Anzahl an Kaiserschnitten stark angestiegen ist (Declercq et al., 2011; Langer, 2013; Wolff, 2017) und sich von einer lebensrettenden Maß- nahme zu einer gängigen Art der Entbindung entwickelt hat (Chen et al., 2017), scheint es für die vorliegende Arbeit interessant, sich besonders diese Geburtsart anzusehen. Es wird der Frage nachgegangen, welche psychischen Herausforderungen eine operative Geburt für die Mutter mit sich bringen kann und daraus resultierend in welchen Bereichen sich Mütter nach einem Kaiserschnitt psychische Unterstützung wünschen.

Wenn es etwa nach schwierigen Geburtserlebnissen und traumatischen Erfahrungen rund um die Geburt zu Problemen in der Interaktion zwischen Eltern und ihrem Baby kommt, finden Mütter zunehmend Angebote, die den jeweiligen Unterstützungsbedarf abdecken. In dieser Ar- beit wird besonders die „Emotionelle Erste Hilfe“, kurz EEH genannt (Harms, 2016), als eine Methode der frühen Intervention betrachtet. Ziel ist es, herauszufinden, mit welchen Anliegen, welchem Unterstützungsbedarf sich Mütter nach einem Kaiserschnitt an die EEH wenden und ob sich ihre Anliegen von denen von Müttern, die auf natürlichem Weg entbunden haben, un- terscheiden. Auch wird untersucht, ob die EEH-Intervention dem Unterstützungsbedarf von Müttern nach einem Kaiserschnitt gerecht wird.

Die folgenden Kapitel zum theoretischen Hintergrund dienen nun dazu, herauszuarbeiten, wa- rum ein Kaiserschnitt für Mütter eine große Herausforderung sein kann und weshalb die Mög- lichkeit besteht, dass es Unterschiede in den Anliegen von Müttern nach einem Kaiserschnitt und denen von Müttern nach einer natürlichen Geburt gibt. Während zu Beginn das Thema Geburt definiert und kurz zusammengefasst dargestellt wird, wird anschließend speziell das Thema Kaiserschnitt aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet. Besonderes Augenmerk liegt hier auf den psychischen Herausforderungen, die eine Kaiserschnittgeburt mit sich bringen kann. Im Folgenden wird besonders die EEH als eine Methode der Bindungsförderung, Krisen- intervention (wird in dieser Arbeit auch Beratung genannt) und Therapie (Harms, 2016) behan- delt. Im Rahmen dieser Arbeit wurde ein Experteninterview durchgeführt, dessen Auswertung unter anderem dazu diente, die Anliegen und den Unterstützungsbedarf von Müttern, die sich an die EEH wenden, zu eruieren. Die Ergebnisse aus dieser qualitativen Auswertung dienen als Grundlage für die weitere Literaturrecherche zu den Bereichen Geburtserlebnis, Bindung, psy- chische Probleme und Regulationsstörungen. Schwerpunktmäßig wird hier jeweils ein Zusam- menhang mit Kaiserschnittentbindungen betrachtet.

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Im zweiten Teil der Arbeit wird die Forschungsfrage erläutert und die Hypothesen werden an- hand bereits vorhandener Forschungsergebnisse hergeleitet, bevor im dritten Teil die verwen- deten Erhebungsinstrumente und die Methode der Datenerhebung dargestellt werden. Um die Forschungsfrage zu beantworten, kommt neben der Durchführung und der qualitativen Aus- wertung eines Experteninterviews auch die quantitativ-statistische Auswertung einer Befra- gung von Müttern, die sich mit ihrem Kind an die EEH gewendet haben, zum Einsatz. An- schließend folgt die Darstellung der Ergebnisse und deren Diskussion, auch im Kontext früherer Forschungsergebnisse.

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2 Theoretischer Hintergrund 2.1 Die Geburt

Es gibt verschiedene Ansätze, den Begriff „Geburt“ zu betrachten und zu definieren. Neben der medizinischen Definition:

Austritt oder Entwicklung des Kinds aus dem Mutterleib. Unterschieden werden Spontan- geburten, vaginal-operative Geburten (Sauglocke, Zangengeburt, Manualhilfe bei Beckenendla- gen) und Kaiserschnittgeburten. Medizinisch ist die Geburt erst mit der vollständigen Plazenta- entwicklung abgeschlossen, juristisch ist das Kind bereits mit der vollständigen Geburt des Kop- fes eine Person („Geburt“, 2020),

gibt es auch umfassendere und ganzheitlichere Beschreibungen. So kann laut Cierpka (2014) der Übergang von der Partnerschaft in die Elternschaft als Entwicklungsaufgabe angesehen werden, die von jedem einzeln, als auch gemeinsam als Paar, umfassende Anpassungsleistun- gen erfordert. Schiefenhövel (2007) beschreibt die Geburt eines Kindes folgendermaßen: „Die Geburt eines Kindes ist - insbesondere dann, wenn es sich um eine erstgebärende Mutter han- delt – ein klassischer »Übergang«, eine anatomisch, physiologisch, endokrinologisch, psycho- logisch und sozial vulnerable Phase, die geprägt ist von der Notwendigkeit ein neues »Gleich- gewicht« zu finden“ (Schiefenhövel, 2007, S. 109). Für viele Frauen stellt die Geburt des Kin- des den glücklichsten Moment in ihrem Leben dar. Es ist ein zentrales Ereignis, bei dem aus einem Paar eine Familie wird. Die Bedeutung für die Eltern reicht weit über die medizinischen Aspekte hinaus. Die bisherige Rolle der Frau erfährt dabei einen erheblichen Wandel (Chalubinski & Husslein, 2000).

2019 wurden in Österreich 84.222 Kinder lebend geboren. 98.4 % der Babys kamen in einem Krankenhaus und 273 Kinder in einer Hebammenpraxis oder einem Entbindungsheim zur Welt.

940 Babys wurden zu Hause geboren. Nur 1.4 % der Mütter verließen in weniger als 24 Stunden das Krankenhaus oder das Endbindungsheim wieder (in diesem Fall handelt es sich um eine ambulante Geburt) (Statistik Austria, 2020b).

„Im Allgemeinen bezeichnet der Begriff „natürliche Geburt“ den biologisch vorgesehenen Weg, den das Kind durch Becken und Scheide nimmt, um seinen ersten „Wohnort“, die Gebär- mutter, zu verlassen“ (Neumann & Maier, 2019, S. 9). Eine natürliche Geburt in dem Sinne gibt es laut Neumann und Maier (2019) nicht. Alle Maßnahmen, die mit dem Ereignis Geburt einhergehen, sind abhängig von der gängigen Kultur. So ist eine natürliche Geburt immer auch eine „kultürliche“ Geburt (Neumann & Maier, 2019). In dieser Arbeit wird als „natürliche

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Geburt“ eine vaginale Geburt bezeichnet. Davon unterschieden wird die vaginal-operative Ge- burt, auf die im weiteren Verlauf kurz eingegangen wird.

Im Jahr 2019 brachten 62.8 % der Frauen in Österreich ihr Kind durch eine natürliche Geburt auf die Welt (Statistik Austria, 2020b). Eine Geburt zwischen Ende der 37. und der 42. Schwan- gerschaftswoche wird als regelgerecht angesehen (Fillenberg & Lasch, 2017). Bei einer vagi- nalen/natürlichen Geburt können drei Phasen unterschieden werden (Fillenberg & Lasch, 2017): Die Eröffnungsphase beginnt mit Eröffnungswehen oder dem Blasensprung und dauert an, bis der Muttermund vollständig offen ist. Bei Frauen, die ihr erstes Kind bekommen, dauert diese Phase durchschnittlich 8-9 Stunden, ansonsten meist kürzer. Die sich anschließende Aus- treibungsphase beginnt mit einem komplett geöffneten Muttermund und endet, wenn das Kind auf der Welt ist. Durchschnittlich dauert diese Phase bei Erstgebärenden eine Stunde. In der letzten Periode, der Nachgeburtsphase tritt auch die Plazenta aus (Fillenberg & Lasch, 2017).

Wie genau die Geburt ausgelöst wird, ist noch nicht vollkommen geklärt (Abou-Dakn, 2018;

Wildt & Grubinger, 2012). Erkenntnisse der Hormonphysiologie zeigen tiefgreifende Verbin- dungen zwischen Mutter und Kind ihre Hormonsysteme betreffend. Diese reicht von der Schwangerschaft über die Geburt bis in die erste gemeinsame Zeit. Die angeborene Physiologie der Hormone bringt große Vorteile mit sich, die sich bis in die Zukunft erstrecken können (z.B.

durch Optimierung des Stillens und der Bindung zwischen Mutter und Kind) (Buckley, 2015).

Eine besondere Bedeutung kommt dem Hormon Oxytocin zu (Abou-Dakn, 2018). Darauf wird in einem späteren Abschnitt dieser Arbeit erneut eingegangen.

In bestimmten Fällen kann es sein, dass eine Geburt eingeleitet werden muss. Die Indikationen hierfür können sowohl bei der Mutter als auch beim Kind liegen. Die medikamentöse Ge- burtseinleitung kann u.a. mit Oxytocin erfolgen (Hüppe et al., 2018).

Eine weitere Art des Eingriffes in den natürlichen Geburtsverlauf, der unter bestimmten Um- ständen durchgeführt werden kann, ist die vaginal-operative Geburt. Bei einer vaginal-operati- ven Geburt wird das Kind durch Zug am Kopf entbunden (Weitzel & Hopp, 2000). Es gibt zwei verschiedene Arten der vaginal-operativen Geburt. Dies ist zum einen die Zangengeburt, wel- che angewendet wird, wenn eine kindliche Asphyxie droht, bei Frühgeburt, bei sekundärer We- henschwäche trotz Oxytocingabe, Geburtsstillstand und wenn die Mutter nicht mitpressen kann. Durch die Zange können Verletzungen sowohl bei der Mutter als auch beim Kind entste- hen (Wacker, 2020). Die Geburtszange kam 2019 in Österreich nur bei 35 Geburten (ca. 0.04 %) zum Einsatz (Statistik Austria, 2020b). Auch für die zweite Art der vaginal-

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operativen Geburt, die Vakuumextraktion, gibt es die gleichen Indikationen, abgesehen von einer Frühgeburt. Beim Kind können auch hier Verletzungen entstehen, mütterliche Verletzun- gen sind selten (Wacker, 2020). Während die Zangengeburt sehr selten durchgeführt wurde, kamen im Jahr 2019 7 % der Kinder durch die Unterstützung einer Saugglocke zur Welt (Sta- tistik Austria, 2020b).

Die bestimmt invasivste Methode, um in den natürlichen Geburtsvorgang einzugreifen, ist der Kaiserschnitt. Lübke (2015) beschreibt den Kaiserschnitt folgendermaßen: Bei einem Kaiser- schnitt wird das Kind abdominal-operativ entbunden, wobei die Bauchdecke und die Gebär- mutter geöffnet werden. Es kann zwischen einer primären und einer sekundären Sectio unter- schieden werden. Die primäre Sectio findet vor Beginn der eigentlichen Geburt statt, also noch vor oder bei Beginn von Wehen, die muttermundwirksam sind. Im Gegensatz hierzu erfolgt die sekundäre Sectio nachdem die Geburt bereits begonnen hat, also nach Beginn der Eröffnungs- wehen, wobei eigentlich eine vaginale Geburt angestrebt wurde. Manchmal bedarf es eines Notkaiserschnitts, bei dem sofort begonnen werden muss (Lübke, 2015). Ein Kaiserschnitt wird aus verschiedenen Gründen durchgeführt. Während es Indikationen gibt, bei denen er unbedingt notwendig ist, um das Leben von Mutter und/oder Kind zu retten, entscheiden sich auch immer mehr Schwangere ohne medizinische Gründe für einen Kaiserschnitt. Dieser wird dann Wunschkaiserschnitt bzw. Wunschsectio genannt (Lübke, 2015). Im folgenden Kapitel wird auf die Geburtsmethode „Kaiserschnitt“ genauer und aus unterschiedlichen Blickwinkeln ein- gegangen. In dieser Arbeit werden dazu die Begriffe geplanter notwendiger Kaiserschnitt, Not- kaiserschnitt und Wunschkaiserschnitt verwendet.

2.2 Der Kaiserschnitt aus unterschiedlichen Blickwinkeln

2.2.1 Entwicklung des Kaiserschnittes

Huch (2000) schreibt hierzu: Bereits in der ägyptischen, griechischen, römischen und arabi- schen Mythologie gibt es Hinweise auf das operative Verfahren (heute Kaiserschnitt). Im 7.

Jahrhundert vor Christi wurde die „lex regia“ vom römischen König Numa Pompilius erlassen, die besagt, dass das Kind einer verstorbenen Schwangeren vor dem Begräbnis herausgeschnit- ten werden muss, um auszuschließen, dass dieses noch lebt. Bereits aus dem 16. und 17. Jahr- hundert gibt es verlässliche Belege für die Durchführung eines Kaiserschnittes auch an leben- den Frauen. Das Leben von Mutter und Kind konnte hierbei jedoch nur selten gerettet werden.

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Bis Ende des 19. Jahrhunderts wurde der Kaiserschnitt sehr selten durchgeführt und stellte eine tödliche Bedrohung für Mutter und Kind dar. Die Veränderung des Operationsverfahrens hin- sichtlich einer Reduktion des Infektionsrisikos führte zu einer Senkung der Mortalität. Dennoch war der Kaiserschnitt bis Mitte des 20. Jahrhunderts eine Notmaßnahme, um primär das Leben der Mutter zu retten und nur sekundär das Leben des (fast ausschließlich) reifen Kindes (Huch, 2000). Erst seit wenigen Jahrzehnten wird der Kaiserschnitt ebenso angewendet, um das Leben eines unreifen Kindes zu retten. Während es zuerst noch darum ging, das Leben des Kindes zu sichern, spielt heute das Vermeiden von Schädigungen des Babys die wesentliche Rolle (Du- denhausen, 2008).

Odent (2015) sieht als Voraussetzung für den Anstieg der Kaiserschnittrate, dass die Operation ungefährlicher geworden ist: Während vorher ein langer senkrechter Schnitt mit einem großen Risiko für Komplikationen durchgeführt wurde, kam seit kurz nach dem zweiten Weltkrieg ein quer verlaufender Schnitt im unteren Uterussegment zum Einsatz, wodurch sich das Risiko für Komplikationen drastisch senken ließ. Auch die Anästhesie wurde ungefährlicher und Antibi- otika und Bluttransfusionen waren verfügbar. So wurde die riskante Notfalloperation innerhalb eines kurzen Zeitraumes zu einem ungefährlichen Eingriff. Heute wird der Kaiserschnitt von den meisten Frauen einfach als eine von zwei Methoden, mit der ein Kind geboren werden kann, angesehen (Odent, 2015).

Eine Untersuchung von Declerq et al. (2011), die die Entwicklung der Kaiserschnittrate im Zeitraum von 1987 bis 2007 betrachtet, zeigt, dass 2007 in 17 von 22 untersuchten Industrie- ländern (darunter auch Österreich, Deutschland und weitere EU-Länder) eine Kaiserschnittrate von über 20 % angegeben wurde. Die durchschnittliche Zunahme der Kaiserschnittrate aller untersuchten Länder (ausgenommen USA) betrug zwischen 1992 und 2007 57 %. Obwohl die Kaiserschnittrate in den nachfolgenden Jahren im Allgemeinen weiter stieg, schien sich der Anstieg in den meisten Industrieländern zu verlangsamen (Declercq et al., 2011). Im Jahr 2019 kamen in Österreich knapp über 30 % der Kinder per Kaiserschnitt zur Welt, wobei bei 13.5 % ein ungeplanter Kaiserschnitt notwendig war und bei 16.6 % ein geplanter Kaiserschnitt (inklu- diert geplanten notwendigen Kaiserschnitt und Wunschkaiserschnitt) durchgeführt wurde. (Sta- tistik Austria, 2020b).

Um regionale Unterschiede in der Kaiserschnittrate bzw. in der Indikationsstellung zu verdeut- lichen, wird das Beispiel Brasilien herangezogen. Dort gebären über 50 % der Frauen per Kai- serschnitt und in manchen Privatkliniken in großen brasilianischen Städten sind es mit 80 %

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vier von fünf Frauen. In manchen Geburtsstationen ist die Durchführung des Kaiserschnittes sogar Routine, es sei denn, es wird von der Frau explizit nach einer vaginalen Entbindung ver- langt (Odent, 2015).

Körtner (2018) spricht in Hinblick auf die allgemeine medizinische Entwicklung von einem sozialgeschichtlichen Geschehen, das bereits von früheren Autoren Medikalisierung genannt wurde. Darunter kann man verstehen, dass der modernen Medizin sowohl die fast alleinige Bestimmung von Krankheit und Gesundheit und Leben und Tod zukommt, als auch durch Vor- sorgemedizin die Beobachtung und Kontrolle von gesunden Personen. Die Medikalisierung kann demnach einen pathologisierenden Effekt haben. So hat sich auch das Bild von Schwan- gerschaft und Geburt verändert, wurden diese doch in früheren Zeiten noch als natürliche Er- eignisse angesehen und geschahen ohne ärztliche Unterstützung (Körtner, 2018).

Der Anstieg an Kaiserschnitten wird kontrovers diskutiert, wobei das Ziel, das Leben von Mut- ter und Kind zu sichern, wie bereits erwähnt, aus medizinischer Sicht oberste Priorität hat (Lan- ger, 2013). Laut Langer (2013) können gesellschaftliche und psychosoziale Veränderungen, welche einen Einfluss auf den Geburtsmodus haben, als Hauptursachen für einen Anstieg an Kaiserschnitten gesehen werden. Hierzu gehören zum Beispiel das höhere Alter werdender Mütter, eine höhere Anzahl an Schwangeren mit Begleiterkrankungen, ein Rückgang in der Kinderanzahl, die geänderte Bewertung von Risiken und die verstärkte Möglichkeit, die Geburt selbst zu gestalten. Aber auch Veränderungen in der Arzt-Patientinnen-Beziehung tragen dazu bei. So steht den Schwangeren zum Beispiel mehr Entscheidungsautonomie zu. Auch der me- dizinische Fortschritt und eine Vereinfachung der Technik des Kaiserschnittes nehmen hier Einfluss. Zusätzlich gibt es neue Indikationen für eine Sectio (z.B. Beckenendlage). Ebenso trägt die Reproduktionsmedizin mit einem daraus resultierenden Anstieg an Mehrlingsschwan- gerschaften ihren Anteil dazu bei (Langer, 2013). Auch Husslein (2018) führt eine geringere Kinderanzahl, ein immer höheres Alter der Mutter bei der Geburt, die zunehmende Autonomie und eine Zunahme der Wichtigkeit rund um das Ereignis Geburt als beeinflussende Faktoren an.

2.2.2 Der Kaiserschnitt aus heutiger Sicht

Laut Stark und Wacker (2020) gibt es keine standardisierte Methode für die Durchführung des Kaiserschnittes auf Grundlage der evidenzbasierten Medizin. An Geburtskliniken werden ver- schiedene Variationen des Kaiserschnittes angewendet. Die sogenannte Misgav-Ladach-Sec- tio-Methode, die in einigen Ländern die meistangewendete Methode für einen Kaiserschnitt ist,

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wird aufgrund der schonenden Operationsmethode als „Der sanfte Kaiserschnitt“ bezeichnet (Stark & Wacker, 2020).

Auch das Erzielen von Schmerzlinderung oder Schmerzfreiheit im Rahmen der Geburtshilfe hat eine lange Geschichte. Insbesondere in Bezug auf den Kaiserschnitt kommt der Analgesie eine große Bedeutung zu, die in der modernen Medizin nicht mehr wegzudenken ist. Wurde früher, wie von Goerig und Wulf (2018) beschrieben, in der Geburtshilfe zum Beispiel noch das Einatmen von Chloroform zur Schmerzlinderung eingesetzt, so kommt heute Regionalan- ästhesien eine große Bedeutung zu. Auch der Kaiserschnitt wurde lange unter Vollnarkose durchgeführt und erst seit den 1980er Jahren kommen zunehmend regionale Anästhetika zum Einsatz (Goerig & Wulf, 2018). Heute wird für einen Kaiserschnitt oder auch zur Geburtser- leichterung häufig eine rückenmarksnahe Betäubung angewendet. Diese kann subarachnoidal oder epidural erfolgen. Man spricht hier von Spinal- und Periduralanästhesie (PDA) (Hüppe et al., 2018). Der Vorteil: Die Mutter ist bei der Geburt und danach wach (Odent, 2015). Während ein geplanter Kaiserschnitt unter Intubationsnarkose, Periduralanästhesie oder Spinalanästhesie erfolgen kann, ist in Notsituationen oft eine Intubationsnarkose angezeigt (Lübke, 2015).

Die Indikationen für einen Kaiserschnitt in heutiger Zeit lassen sich unterteilen in absolute In- dikationen (z.B. vorzeitige Plazentalösung), bei denen aus medizinischen Gründen zwingend zu einer Sectio geraten werden muss, da Lebensgefahr für Kind und/oder Mutter besteht und relative Indikationen (z.B. Mehrlingsschwangerschaft, Geburtsstillstand), bei denen das Risiko abgewogen und je nach Situation zwischen Kaiserschnitt und natürlicher Geburt entschieden wird. Letzteres trifft auf etwa 90 % der Kaiserschnittentbindungen zu (Lübke, 2015). Nicht außer Acht gelassen werden darf hier die Tatsache, dass die Angst vor einer Klage das Handeln in der Geburtshilfe entscheidend in Richtung pathologieorientierter Überversorgung beeinflusst (Abdallah et al., 2020).

2.2.3 Der Kaiserschnitt als psychische Herausforderung für die Mutter

Erfahrungsbericht einer Kaiserschnittmutter:

Während dieser Zeit, ungefähr drei Wochen nach der Geburt, machte ich mir immer öfter Gedan- ken, warum bei mir so plötzlich ein Kaiserschnitt nötig geworden war. So richtig erklärt hatte mir das bis zu diesem Zeitpunkt niemand. Vielleicht hätte ich mir während der Schwangerschaft doch etwas mehr Ruhe gönnen sollen? . . . Je mehr ich grübelte und überlegte, desto mehr festigte sich meine Ansicht, dass ich selbst die einzige Verantwortliche für den Kaiserschnitt wäre. Alle Schwie- rigkeiten, die ich jetzt mit unserer Tochter hatte, schob ich auf mein Versagen bei der Geburt. Der

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Kaiserschnitt war plötzlich Grund für alle Probleme. So ging es eine ganze Zeit und ich befand mich in einem sehr tiefen Loch. Auf die Schreiattacken unserer Tochter reagierte ich mit der Zeit immer aggressiver und irgendwann war ich völlig am Ende. (Büscher & Büscher, 2001, S. 117–

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Wie de Jong und Kemmler (2008) anmerken, erlebt jede Frau den Kaiserschnitt durch das Zu- sammenspiel vieler Faktoren anders und individuell, wobei die Autorinnen von typischen Er- fahrungen berichten, welche Frauen, die auf diese Art entbinden, zu teilen scheinen. Hierzu gehört zum Beispiel, dass sich Frauen selbst die Schuld geben, wenn eine natürliche Geburt nicht möglich ist und sich die Versorgung im Rahmen eines Kaiserschnittes auf das Physische bezieht und psychische Komponenten vernachlässigt werden. Des Weiteren berichten Frauen nach einem Kaiserschnitt von der Angst, keine gute Mutter zu sein und davon, das Kind auf- grund des fehlenden Geburtsschmerzes nicht verdient zu haben. Die Enttäuschung darüber, dass ein Kaiserschnitt notwendig ist, sei laut de Jong und Kemmler (2008) umso größer, je mehr sich die Mutter auf eine natürliche Geburt gefreut und sich darauf vorbereitet habe.

Die Mütter befürchten, dass die Bindung zu ihrem Kind unter dem Kaiserschnitt leidet und sie haben das Gefühl, dem gesellschaftlichen Leistungsanspruch nicht zu genügen, was mit einem Zweifel an der eigenen Fähigkeit als Mutter einhergeht. Hinzu kommt das schlechte Gewissen, zu schnell aufgegeben zu haben (de Jong & Kemmler, 2008). Wie die Autorinnen aber auch erwähnen, treffe das schlechte Gewissen im Rahmen eines Kaiserschnittes zwar auf viele aber nicht auf alle Frauen zu. Auch Büscher und Büscher (2001) erwähnen das Gefühl von Müttern mit Kaiserschnitt, versagt zu haben, besonders dann, wenn eine normale Geburt angestrebt und dann doch ein Kaiserschnitt notwendig war. Hier wird zusätzlich zu einer physischen Wunde auch von einer psychischen Wunde in Folge eines Kaiserschnittes gesprochen.

Kjerulff und Brubaker (2018) vergleichen in ihrer Arbeit das Empfinden von Müttern mit un- geplantem Kaiserschnitt und mit natürlicher Geburt. Demnach fühlen sich Mütter nach einem ungeplanten Kaiserschnitt eher enttäuscht und wie eine Versagerin im Vergleich zu Frauen mit spontan vaginaler Geburt. Mit geringerer Wahrscheinlichkeit sind sie auch stolz auf ihre Leis- tung. Ein ungeplanter Kaiserschnitt wirkt sich demnach negativ darauf aus, wie sich Frauen rückblickend bezüglich ihrer Entbindung fühlen und beeinflusst auch das Selbstwertgefühl (Kjerulff & Brubaker, 2018). Ebenso zeigt eine Untersuchung an nigerianischen Frauen eine Einschränkung im Selbstwertgefühl allgemein bei Müttern nach einem Kaiserschnitt, im Ge- gensatz zu Müttern nach einer vaginalen Geburt, welche auch mit einem geringeren Selbstver- trauen im Umgang mit dem Kind einhergeht (Loto et al., 2010). Wie bereits erwähnt, muss eine

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Geburt, und dementsprechend auch ein Kaiserschnitt, immer in einem kulturellen Kontext ge- sehen werden (Neumann & Maier, 2019), weshalb das Untersuchungsergebnis von Loto et al.

(2010) nur mit Vorsicht auf andere Länder übertragbar ist.

Wenn es in der Beziehung zum Kind Probleme gibt, sehen Mütter mit Kaiserschnitt häufiger einen Zusammenhang mit dem Kaiserschnitt und dem fehlenden bewussten Erleben der Geburt (Büscher & Büscher, 2001). Bereits in einer Studie aus dem Jahr 1987 gaben erstgebärende Mütter mit Kaiserschnitt in einem Interview kurz nach der Geburt häufiger als Frauen mit na- türlicher Geburt an, anzunehmen, dass eine operative Geburt nachteilige physiologische und psychologische Auswirkungen auf das Kind hat (Garel et al., 1987). So kann eine Geburt per Kaiserschnitt u.a. als gemeinsamer Risikofaktor für das Kind hinsichtlich mehrerer mit dem Immunsystem zusammenhängender Erkrankungen gesehen werden (z.B. für Asthma oder ent- zündliche Darmerkrankungen) (Sevelsted et al., 2015) und die Mütter scheinen sich dieses Ri- sikos bewusst zu sein.

Frauen, welche sowohl auf natürliche Art als auch per Kaiserschnitt entbunden haben, bevor- zugen großteils eine natürliche Geburt bei einer zukünftigen Schwangerschaft (Dunn & O’Her- lihy, 2005) und im Allgemeinen weisen Mütter sowohl nach einem ungeplanten als auch nach einem geplanten Kaiserschnitt eine höhere psychische Belastung auf als Mütter nach einer na- türlichen Geburt (Dekel et al., 2019).

Eine Folge von Enttäuschung über die Geburt kann sein, dass sich Frauen nach einem Kaiser- schnitt häufiger für kein weiteres Kind entscheiden (Lobel & DeLuca, 2007), dasselbe gilt für ein negatives Geburtserlebnis (Kjerulff & Brubaker, 2018). Auf den Zusammenhang zwischen Geburtserleben und der Art der Geburt wird in einem späteren Abschnitt dieser Arbeit einge- gangen.

2.3 Emotionelle Erste Hilfe (EEH)

Wenn es in der ersten gemeinsamen Zeit, unter anderem nach schwierigen Geburtserlebnissen und traumatischen Erfahrungen rund um die Geburt, zu Problemen in der Interaktion zwischen Eltern und ihrem Baby kommt, sich Eltern hilflos und überfordert fühlen, stellt das Angebot der EEH eine Möglichkeit zur Unterstützung dar (Mai, 2014). Das Konzept der EEH wurde von Thomas Harms, der 1993 die erste Schreiambulanz in Berlin eröffnete, aus der Arbeit mit Eltern und ihren exzessiv schreienden Babys entwickelt (Harms, 2016). Ausbildungen für

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Fachpersonen im Bereich der EEH werden in Deutschland, Schweiz, Österreich und Italien angeboten (Zentrum für primäre Prävention, o.D.). Die Methode der EEH wird sowohl in Pra- xen als auch im klinischen Setting, z.B. auf der Neonatologie, angewendet. Wichtigen theore- tischen Hintergrund bezieht die EEH unter anderem aus der modernen Säuglings- und Bin- dungsforschung, der Psychotraumatologie und der Neurobiologie (Harms, 2017).

2.3.1 Grundidee der EEH

Die Verfügbarkeit einer feinfühligen Bezugsperson kann laut Harms (2016) durch verschiedene Umstände beeinträchtigt sein. Ziel der EEH ist demnach, dass (wieder) eine stabile und sichere Beziehung zwischen Eltern und Kind aufgebaut wird. Dabei wird der Achtsamkeit der Eltern dem eigenen Körper gegenüber und ihrer Fähigkeit zur Entspannung eine große Bedeutung beigemessen. Dies ist laut dem Autor auch die Voraussetzung, um eine verlässliche Beziehung zu anderen aufzubauen (Harms, 2016). Für diese Annahme spricht auch das Ergebnis einer Studie von Toosi et al. (2014), welches zeigt, dass ein Entspannungstraining der Mutter wäh- rend der Schwangerschaft zu einer Zunahme der mütterlichen Bindung zu ihrem Baby führt.

Harms (2016), der Begründer der EEH, spricht davon, dass alle Menschenbabys das Bedürfnis haben, gewärmt, gehalten, genährt, angeschaut und berührt zu werden und dies von ihren, sie uneingeschränkt liebenden, Eltern. Medicus (2020) merkt an, dass Eltern den Aufwand (die Säuglingspflege) als emotional belohnend erleben können und das Kind sich zugleich als lie- benswert erleben darf. Letzteres ist höchstwahrscheinlich eine emotionale Voraussetzung für das spätere Selbstwerterleben (Medicus, 2020).

Harms (2016) beobachtet, dass immer mehr Eltern Schwierigkeiten haben, die Körpersprache des Babys zu verstehen. Während Erstgebärende in Naturvölkern bereits auf jahrelange und vielfältige Erfahrungen mit den Babys ihrer Großfamilie und des Stammes zurückblicken kön- nen (Medicus, 1996) ist dies in Industrieländern oft nicht der Fall und Unsicherheiten hinsicht- lich der Signale und Bedürfnisse des Kindes können die Folge sein.

Wenn innere oder äußere Umstände dazu führen, dass sich die Nähe zwischen Eltern und ihrem Baby nicht in geeignetem Maß entwickelt, bietet die EEH Unterstützung. Beim Kind können sich Probleme in der Interaktion zwischen sich und den Eltern in exzessivem Schreien oder in anderen Regulationsstörungen zeigen. Das Besondere an der EEH ist, dass Eltern im Kontakt mit ihrem Kind lernen, einen Teil ihrer Aufmerksamkeit darauf zu richten, das Erleben des eigenen Körpers zu beobachten. In diesem Zusammenhang fällt der für die EEH wichtige

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Ausdruck der „Selbstanbindung“ (Harms, 2016). „Um den Anderen zu spüren, musst du dich selbst spüren!“ (Harms, 2016, S. S.121).

Neben der „Selbstanbindung“, der inneren Verbindung zum eigenen Körper, stellen die Bauch- atmung, Körperberührungen zum Sicherheitsaufbau und zur Bindungsstärkung und stärkende Visualisierungen weitere Methoden der EEH dar (Harms, 2016). Wobei hier auch angemerkt wird, dass Körperberührungen z.B. gegebenenfalls bei traumatischen Erfahrungen durch Worte, Visualisierungen und bewusste Körperwahrnehmung ersetzt werden, um so einen be- hutsamen Zugang zur Mutter zu finden (Mai, 2014).

2.3.2 Praktische Umsetzung der EEH

Der Einsatz der EEH lässt sich in folgende drei Bereiche unterteilen: Bindungsförderung, Kri- senintervention und Eltern-Baby-Therapie (siehe Abbildung 1). Diese werden im Folgenden näher erläutert.

Abbildung 1

Die Säulen der Emotionellen Ersten Hilfe (Harms, 2016, S. 172)

Bindungsförderung

In diesem Bereich geht es um Prävention bezüglich Schwierigkeiten in der Eltern-Kind-Bezie- hung, wobei die Eltern über gute Ressourcen verfügen und auf den Umgang mit dem Kind in

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Stresssituationen und Belastungsmomenten vorbereitet werden sollen. Im Vordergrund steht das Erlernen von Methoden der Selbstanbindung, wodurch die Fähigkeit, starke Emotionen und Stresszustände zu regulieren, verbessert werden soll. Die Eltern üben sich ebenso in Selbst- wahrnehmung und Achtsamkeit gegenüber den Signalen ihres Körpers. Dieses Angebot können werdende Eltern bereits während der Schwangerschaft in Anspruch nehmen. Hier hat sich auch die Vorbereitung auf einen Kaiserschnitt als hilfreich erwiesen (Harms, 2016).

Einer Geburt per Kaiserschnitt kommt in der EEH eine besondere Bedeutung zu. Im folgenden Abschnitt wird auf psychische Anforderungen durch einen Kaiserschnitt aus Sicht von Vertre- tern und Vertreterinnen der EEH eingegangen und ein möglicher Interventionsansatz darge- stellt. Harms (2016) geht davon aus, dass ein Kaiserschnitt gewisse Herausforderungen und Belastungen sowohl für die Mutter als auch das Kind mit sich bringt. Häufig reagiert das Baby mit Stress auf den plötzlichen Umgebungswechsel und den Kontaktabbruch zur Mutter und dieser Stressreflex kann auch später in Alltagssituationen ausgelöst werden. Ebenso würden Kräfte, auf die der Organismus des Babys eingestellt ist, um während der natürlichen Geburt darauf zurückzugreifen, bei einem Kaiserschnitt nicht abgerufen werden. Aus diesem Grund kann als eine mögliche Intervention eine hypothetisch geburtssimulierende Massage für das Kaiserschnitt-Baby eingesetzt werden. Diese Massage können Eltern unmittelbar nach der Ge- burt unter Anleitung ausführen (Harms, 2016).

Deyringer (2008) hält ebenso fest, dass bei einem Kaiserschnitt natürlich vorgesehene Mecha- nismen/ Fähigkeiten sowohl bei Mutter als auch Kind nicht mobilisiert werden und es dadurch in Folge zu Anspannung bei der Mutter und zu Unruhe beim Baby kommen kann. Auch werden die verminderte Hormonausschüttung, die Bindungsbereitschaft bewirken sollte, und einge- schränktes oder verspätetes Bonding als negative Auswirkungen angeführt. Es kann zu Enttäu- schung der Mutter kommen, dass die Geburt anders verlaufen ist oder zu Reaktionen nach trau- matischen Erfahrungen. Hierbei wird von der Autorin speziell betont, dass es einen bedeuten- den Unterschied sowohl für das Kind als auch für die Mutter macht, ob der Kaiserschnitt ge- plant war und deshalb keine Wehen vorhanden waren oder ob die Entscheidung für einen Kai- serschnitt während der Geburt gefallen ist. So besteht für die Mutter bei einem geplanten Kai- serschnitt die Möglichkeit, sich darauf einzustellen, für das Baby ist die Anpassung aber meist schwieriger, als nach vorhandenen Wehen (Deyringer, 2008). So geht ein Wunschkaiserschnitt auch laut Lagercrantz (2019) häufig mit Anpassungsproblemen des Kindes einher. Deyringer (2008) stellt dar, dass bei einem ungeplanten Kaiserschnitt hingegen der Geburtszeitpunkt vom Kind mitbestimmt wird und es zumindest teilweise zu einem Einsatz von Kräften und zu einer

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hormonellen Veränderung kommt. Einige Wochen nach der Kaiserschnittgeburt kommt es häu- fig zu Unruhe und die Kinder wirken ungeduldig (Deyringer, 2008). Auch Bensel (2003) stellt häufigeres Schreien von Kaiserschnittkindern nach belastenden Geburten für den Zeitraum von 3 - 5 Wochen nach der Geburt fest.

Unterstützend für einen bevorstehenden Kaiserschnitt könnte eine Vorbereitung durch positive Imaginationen in Verbindung mit stärkendem Körperkontakt wirken. Nach dem Kaiserschnitt gibt es die Möglichkeit einer partnerschaftlichen Schmetterlingsmassage, welche zum Wieder- erlagen eines ganzheitlichen Körpergefühls, einer Verbesserung des Empfindens und zu einer stärkeren Verbindung zwischen dem Paar führen soll. Diese stärkende Intervention dient auch der Vorbereitung der Babymassage. Das Baby kann nach einem Kaiserschnitt mit einer spezi- ellen Art der Babymassage durch die Eltern unterstützt werden (Deyringer, 2008).

Der empirische Teil dieser Arbeit bezieht sich auf die beiden folgenden Säulen der EEH, die Krisenintervention/Beratung und die Eltern-Baby-Therapie.

Krisenintervention

Wie bereits erwähnt, geht die EEH aus der Arbeit mit exzessiv schreienden Babys hervor und demnach stellt die Krisenintervention das häufigste Einsatzgebiet der EEH dar. Während Bin- dungsförderung präventiv eingesetzt werden kann, befinden sich Eltern, die im Rahmen der Krisenintervention Unterstützung in den Angeboten der EEH suchen, in einer Krise. Das Baby zeigt Symptome einer frühen Interaktionsstörung, Bindungsstörung oder Regulationsstörung, für die keine organische Ursache gefunden werden kann. Weisen die Eltern eine gute Fähigkeit zu Empathie und Resonanz auf, kann schnell eine Verbesserung der Situation erzielt werden.

Auch belastende Vorerfahrungen der Eltern, fehlende soziale Ressourcen und das Vorhanden- sein unverarbeiteter Traumareaktionen, aktiviert durch das Weinen des Babys, wirken sich auf den Verlauf aus (Harms, 2016).

Laut Harms (Harms, 2016) verläuft die praktische Arbeit im Rahmen der Krisenintervention in sieben Schritten:

1. Problemdefinition: der Auftrag wird besprochen.

2. Stressexploration: Hier wird in Erfahrung gebracht, wie Eltern auf Stresssituationen mit dem Kind (z.B. Schreien) mit Verhalten (z.B. Schaukeln des Kindes), Affekt (z.B. Ver- zweiflung) und Körper (z.B. Engegefühl) reagieren.

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3. Selbstanbindung: damit wieder Bindungsbereitschaft der Eltern besteht, soll durch At- mung, Visualisierung und Körperberührung Kontakt zum eigenen Körper hergestellt werden.

4. Prozessphase: ist Selbstanbindung der Eltern gegeben, sind sie entspannt und dadurch kann sich auch das Kind entspannen oder aber das Kind geht in ein Ausdrucksschreien, durch welches die Eltern begleitet werden. In der anschließenden Zeit der Ruhe stellt sich bei den Eltern ein Gefühl der Verbundenheit/Zuneigung anstelle von Verzweiflung ein.

5. Exploration des neuen Bindungserlebens: den Eltern wird bewusst, was sich in Bezug auf die Bindung zu ihrem Kind verändert hat.

6. Intimität: eine Zeit von tiefer Verbundenheit zwischen Eltern und Kind stellt sich ein, die nicht gestört werden soll.

7. Entwicklung von Handlungsstrategien für den Alltag: das während der Sitzung Erprobte wird auch in Alltagssituationen umgesetzt.

Eltern-Baby-Therapie

In diesem Bereich der EEH steht die Begleitung von Auswirkungen unverarbeiteter Belastungs- störungen im Vordergrund. Diese können sich unter anderem aus einer traumatischen und schwierig verlaufenden Geburt ergeben. Ist im Rahmen der EEH eine Bindungsstärkung gelun- gen, können schmerzhafte und angstbesetzte Erfahrungen im Rahmen der Eltern-Baby-Thera- pie verarbeitet und gelöst werden. Sitzungen finden immer gemeinsam mit den Eltern und ih- rem Kind statt. Eltern sollen gestärkt werden, auch in schwierigen Momenten in Kontakt mit ihrem Kind zu bleiben (Harms, 2016).

Während Bindungsförderung auch z.B. von Hebammen nach entsprechender Ausbildung gut durchgeführt werden kann, ist speziell im Bereich der Eltern-Baby-Therapie eine umfassende psychotherapeutische Ausbildung Voraussetzung (Harms, 2016). Die Ansätze der EEH lassen sich laut dem Autor auch gut mit anderen Verfahren der Eltern-Baby-Therapie kombinieren.

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2.4 Anliegen und Unterstützungsbedarf von Müttern im Rahmen der EEH

Ein im Rahmen dieser Arbeit durchgeführtes Experteninterview (siehe Transkript im Anhang) mit einer EEH-Therapeutin und Ausbildungsleiterin zeigt, dass sich Mütter mit Unterstützungs- bedarf besonders in folgenden Bereichen an die EEH wenden (Auswertung in Kapitel 4.1.2):

 Wunsch nach Geburtsverarbeitung

 Einfinden in Mutterrolle

 Bindungsförderung

 Traumaarbeit

 krankheitswertige psychische Probleme

 kindliche Probleme

 Umgang mit dem Kind

 Trauerarbeit

Die den Anliegen zu Grunde liegenden Themen werden in diesem Abschnitt der Arbeit darge- stellt und mit der Art der Entbindung in Beziehung gesetzt. Auf die Darstellung von Trauerar- beit wird verzichtet, da hier kein Bezug zur Art der Geburt angenommen wird und sie thema- tisch deshalb keine Relevanz besitzt. Einfinden in die Mutterrolle und Bindung werden auf- grund der thematischen Nähe in einem Abschnitt zusammengefasst (siehe Kapitel 2.4.2).

Ebenso krankheitswertige psychische Probleme und Traumaarbeit (siehe Kapitel 2.4.3) und kindliche Probleme und Umgang mit dem Kind (siehe Kapitel 2.4.4). In den Überschriften zu den einzelnen Schwerpunkten wird das Anliegen, auf das sich der Absatz bezieht, in Klammer genannt, sofern es in der Überschrift nicht enthalten ist.

2.4.1 Das Geburtserlebnis (Geburtsverarbeitung)

Unter Geburtserlebnis/Geburtserfahrung „werden die Ereignisse zusammengefasst, welche sich aus den Erlebnissen um die Geburt ergeben haben und die damit möglichen Konsequenzen für die psychische und physische Gesundheit der Mutter, die Mutter- Kind- und partnerschaftliche Interaktion nach der Geburt begründen“ (Abou-Dakn, 2018, S. 65).

Der Begriff Zufriedenheit in Zusammenhang mit dem Geburtserlebnis wird in der Literatur laut Abou-Dakn (2018) sehr unterschiedlich definiert. Der Erfüllung von vorher generierten Erwar- tungen und verschiedenen Einflussfaktoren, vor allem der körperlichen Unversehrtheit scheint aber laut dem Autor eine entscheidende Bedeutung zuzukommen. Während die

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gesundheitlichen Risiken für Mutter und Kind heute gering sind, stellt die Autonomie der Frau während der Geburt und die Wahrnehmung ihrer Bedürfnisse einen entscheidenden Faktor dar.

Besondere Wichtigkeit besitzt auch die soziale Unterstützung während der Geburt, sowohl durch Fachpersonal als auch den Partner (Abou-Dakn, 2018). So kann die kontinuierliche indi- viduelle Betreuung mit einer Reduktion der Rate an Interventionen einhergehen (Knape et al., 2013). Auch berichten Frauen, die während der Geburt wenig soziale Unterstützung erhalten haben, von weniger positiven Gefühlen in Bezug auf die Geburt als Frauen, mit entsprechender sozialer Unterstützung (Kjerulff & Brubaker, 2018).

Komplikationen während der Geburt gehen mit negativeren Emotionen in Bezug auf die Geburt einher (Kjerulff & Brubaker, 2018). Dem hinzuzufügen ist laut DeLuca und Lobel (2014) die wahrgenommene Kontrolle während der Geburt, die mit Zufriedenheit mit dem Geburtserlebnis stark in Zusammenhang steht. Diese ist bei einem ungeplanten Kaiserschnitt geringer als bei einer natürlichen Geburt.

Berichten Mütter, die ihr Kind durch einen medizinisch notwendigen geplanten Kaiserschnitt zur Welt bringen, von ihrem Geburtserlebnis, unterscheiden sich die Erwartung und die Reali- tät. Während Frauen im Vorfeld annehmen, dass sie sich aktiv am Kaiserschnitt beteiligen wer- den und darin unterstützt werden, ihre Rolle als Mutter zu übernehmen, sobald das Kind gebo- ren wird, beschreiben sie im Nachhinein, dass sie sich während der Geburt überflüssig, unsicht- bar und unbeachtet fühlten. Das Gefühl, während der Geburt ignoriert zu werden, kann sich langfristig auf die psychische Gesundheit der Frau nach der Geburt auswirken. Für ein anhal- tendes psychisches Wohlbefinden ist es demnach wichtig, dass sich die Frau im Fokus des Ge- burtserlebnisses befindet und nach Möglichkeit auch nicht von ihrem Baby getrennt wird (Bayes et al., 2012). Wenn ein ungeplanter Kaiserschnitt durchgeführt wird, können außerdem schlechte Kommunikation, Angst vor dem Operationssaal, Misstrauen gegenüber den Ärzten und Ärztinnen und Kontrollverlust als Hauptfaktoren dafür angesehen werden, dass Mütter mit ihrem Geburtserlebnis unzufrieden sind (Burcher et al., 2016).

Es gibt Hinweise, dass ein ungeplanter Kaiserschnitt im Gegensatz zu einer vaginalen Geburt mit einer geringeren Zufriedenheit mit der Geburt einhergeht (DeLuca & Lobel, 2014). Auch Kjerulff und Brubaker (2018) kommen in ihrer Studie zu dem Ergebnis, dass Frauen, die bei ihrem ersten Kind eine ungeplante Kaiserschnittgeburt hatten, im Vergleich zu Frauen, deren Entbindung spontan vaginal, vaginal-operativ oder per geplantem Kaiserschnitt stattfand,

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insgesamt am wenigsten positive Gefühle bezüglich der Geburt hatten. Die positivsten Gefühle hatten Frauen nach spontaner vaginaler Geburt.

2.4.2 Mutter-Kind-Bindung (Einfinden in Mutterrolle und Bindungsförderung)

Die Geburt kann laut Schiefenhövel (2007), wie bereits beschrieben, als Übergang, als vul- nerable Phase angesehen werden. In allen Kulturen werden solche Phasen durch Übergangsri- ten begleitet. Weltweit gibt es das „Wochenbett“, wenn auch in sehr unterschiedlicher Form (Schiefenhövel, 2007).

Aus medizinischer Sicht dauert das Wochenbett 6-8 Wochen und beinhaltet die Zeit von der Geburt bis zur Rückbildung der Veränderungen durch Schwangerschaft und Geburt. Diese Zeit ist anfällig für viele Komplikationen, wie z.B. Infektionen („Wochenbett“, 2020). Den Brauch, dass sich eine Frau nach der Geburt für eine Woche oder auch länger im Bett von der Geburt erholen und sich ausruhen soll, scheint es geschichtlich schon immer zu geben (Heller, 2015).

In einzelnen Naturvölkern (z.B. Eipo) bleiben die Frauen nach der Geburt mit ihren Babys in einem Frauenhaus. Dies ist ein sakraler Ort für Frauen während der Menstruation, der Geburt und dem Wochenbett. Die einzige Aufgabe, die die Mutter dort hat, ist, sich um ihr Kind zu kümmern, während sie selbst von anderen Frauen umsorgt wird. Erst stufenweise wird sie in die Gesellschaft eingegliedert und erhält durch Riten eine besondere Wertschätzung (Schiefen- hövel, 2007). Es ist zu beachten, dass diese Wahrnehmungen bereits vor längerer Zeit gemacht wurden und es ist laut Schiefenhövel (2007) zu beobachten, dass auch die Gestaltung von Ge- burt und Wochenbett in Naturvölkern zunehmend der aktuellen gesellschaftlichen Entwicklung unterliegt.

Auch in der europäischen Tradition gab es ein Wochenbett von ca. 40 Tagen. In diesen durften die Mutter und ihr Kind das Haus nicht verlassen. Dies gilt bereits lange nicht mehr (Schiefen- hövel, 2007). Dass jene Regeln, die traditionell für Frauen im Wochenbett galten, aufgehoben wurden, führte laut dem Autor dazu, dass das Bewusstsein dafür, dass eine Art Schutzzone für Mutter und Kind positive Auswirkungen hat, weitgehend verloren gegangen ist. Ohne von au- ßen gestört zu werden, scheint das „Sich aufeinander einstellen“ zwischen Mutter und Kind am besten zu gelingen (Schiefenhövel, 2007). Heute verbringen Mütter nach einer vaginalen Ge- burt ohne Komplikationen etwa 3-5 Tage im Krankenhaus. Bei Kaiserschnitt oder Schwierig- keiten entsprechend länger. Frauen, die zu Hause oder ambulant gebären, verbringen das Wo- chenbett in ihrer vertrauten Umgebung (Heller, 2015).

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In den ersten Minuten nach der Geburt berichten Mütter häufig von einem starken emotionalen Erleben, welches eine Disposition für die Bindung zum Kind darstellt (Medicus, 2020). Darum ist ein intensiver Kontakt für die Mutter und das Kind direkt nach der Geburt und auch während der Zeit des Wochenbettes von großer Bedeutung. Dies kann durch „rooming in“ und „bedding in“ realisiert werden. Wobei Kind und Mutter beim „bedding in“ auch gemeinsam schlafen (Schiefenhövel, 2007). Ebenso hält Heller (2015) fest, dass sich Mütter für die Wochenbettzeit Ruhe erhoffen, um ihr Kind kennenzulernen. Diese Ruhe sei in Krankenhäusern u.a. durch Mehrbettzimmer oft nicht gegeben.

Frauen berichten laut einer Untersuchung als negative Folge der Kaiserschnittentbindung häu- figer über die Unfähigkeit, den Säugling in der Zeit nach der Geburt zu versorgen (Garel et al., 1987). Während diese Daten wenige Tage nach der Geburt erhoben wurden, zeigte eine Follow- up Studie nach zwei Monaten, dass sich Mütter mit Kaiserschnitt weniger selbstsicher in Bezug auf ihre Fähigkeiten, für ihre Babys zu sorgen fühlten und ihre Schwierigkeiten mit der negati- ven Erfahrung der Entbindung in Verbindung brachten. Nach einem Jahr war dieser Unter- schied nicht mehr feststellbar (Garel et al., 1988).

Dem Thema Bindung zwischen Mutter und Kind kommt aus psychologischer Sicht eine große Bedeutung zu. Bindung kann laut Ainsworth und Bell (1970) als andauernde liebevolle Ver- bindung angesehen werden, die eine Person zwischen sich und einer speziellen anderen Person entwickelt. Verhaltensmerkmal von Bindung ist laut den Autorinnen das Bestreben, eine be- stimmte Nähe zur anderen Person zu gewinnen und aufrecht zu erhalten. Diese kann je nach Situation von engem Körperkontakt bis hin zu Kommunikation über eine gewisse Distanz rei- chen. Lang (2009) verwendet in diesem Kontext den Begriff Bonding für die emotionale Ver- bindung zwischen Eltern und ihrem Kind. Wobei Bonding nicht als einmaliges Geschehen ge- sehen werden kann, sondern vielmehr ein Prozess ist, der davon abhängig ist, wie die Eltern selber aufgewachsen sind und welche Erlebnisse es im Rahmen von Schwangerschaft, Geburt und der ersten Zeit mit dem Kind gibt. Biologisch gesehen ist die Bindung zwischen Eltern und Kind, von der auch das Überleben des Kindes abhängt, die wichtigste und stärkste im Leben eines Menschen (Lang, 2009). Bindung zwischen Eltern und ihrem Kind entsteht schon vorge- burtlich und Erfahrungen während Schwangerschaft und Geburt und der ersten gemeinsamen Zeit nehmen Einfluss darauf. So können zum Beispiel traumatische Erfahrungen der Eltern oder eine postpartale Depression zu einer Beeinträchtigung dieser frühen und empfindlichen Ent- wicklungszeit führen (Brisch & Hellbrügge, 2007).

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Die Relevanz von Bindung wird deutlich, wenn man beachtet, dass die anfängliche Beziehung zu den Eltern dem Kind später als Beziehungsmodell dient, von dem Erwartungen an Andere und eigenes Verhalten abgeleitet werden. Besonders prägend für das Kind ist hier das erste Lebensjahr (Lang, 2009). Die erste Zeit nach der Geburt eines Menschen ist am stärksten von biologisch determinierten Programmen und Bedürfnissen gesteuert (Bensel, 2006). Es wird ver- mutet, dass es evolutionsbiologisch geprägte und aufeinander abgestimmte Verhaltenspro- gramme gibt, die an der Interaktion zwischen Eltern und Säugling beteiligt sind. Der Säugling versucht, seinen Eltern seine Bedürfnisse durch Signale mitzuteilen und die Eltern sollten diese befriedigen (Lohaus et al., 2014). Bei der Befriedigung der Bedürfnisse geht es nicht nur darum, richtig zu reagieren, sondern die Reaktion sollte auch prompt erfolgen (Bell & Ainsworth, 1972). Zu den kindlichen Bindungsverhaltensweisen, die das Fürsorgesystem der Eltern akti- vieren, gehören Weinen, Lachen, Blickkontakt und frühkindliche Imitation. Die Lächelreaktion eines Kindes trägt einen wichtigen Teil zur Entstehung der Bindung der Eltern an das Kind bei.

Die Bindung des Kindes an die Eltern bedarf gewisser kognitiver Voraussetzungen, die das Kind in den ersten Lebensmonaten entwickelt, wie die Fähigkeit, Bezugspersonen von Fremden unterscheiden zu können und die Objektpermanenz. So muss zwischen Bindungsverhalten, das dazu dient, die Nähe von Bezugspersonen zu sichern, und Bindung, im Sinne einer emotionalen Verbundenheit, wie von Ainsworth beschrieben, unterschieden werden (Lohaus & Vierhaus, 2013).

Immer mehr Forschungsergebnisse sprechen dafür, dass gängige Interventionen in der Geburts- hilfe die natürlichen aufeinander abgestimmten hormonellen Prozesse stören, ihren positiven Effekt verringern und neue Herausforderungen mit sich bringen (Buckley, 2015). Während am Geburtsprozess verschiedene Hormone beteiligt sind, nimmt Oxytocin in Bezug auf das Bon- ding einen besonderen Stellenwert ein (Abou-Dakn, 2018).

Beim Hautkontakt nach der Geburt wird sowohl bei der Mutter als auch dem Baby Oxytocin ausgeschüttet. Aufgrund vieler Vorteile von frühem Hautkontakt wird empfohlen, diesen durch medizinische Maßnahmen möglichst nicht zu stören. Auch nach einem Kaiserschnitt wird in den letzten Jahren vermehrt darauf geachtet, dass ein sehr früher Hautkontakt möglich ist (Abou-Dakn, 2018). Dennoch findet nach einem Kaiserschnitt häufiger eine Trennung von Mutter und Kind statt, was mit Stress für Mutter und Kind einhergehen kann (Buckley, 2015).

Während das erste Bonding im Operationssaal nach einem geplanten Kaiserschnitt umsetzbar ist, ohne das Leben von Mutter und Kind zu gefährden, ist dies bei einem Notkaiserschnitt oft

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nicht der Fall und stellt das medizinische Personal vor eine große Herausforderung (Kehm, 2013).

Ein Kaiserschnitt kann im Gegensatz zu einer natürlichen Geburt einen negativen Einfluss auf die Mutter-Kind-Bindung haben (Sockol et al., 2014). Auch eine Studie von Cetisli et al. (2018) kommt zu dem Ergebnis, dass Mütter nach einem Kaiserschnitt häufiger als Mütter mit vagina- ler Geburt Probleme, die Mutter-Kind-Bindung und das Stillen betreffend, haben. Zanardo et al. (2016) spezialisieren hier ihre Ergebnisse, indem sie feststellen, dass im Gegensatz zu einer natürlichen Geburt oder einem geplanten Kaiserschnitt, die Bindung zwischen Mutter und Kind nach einem Notkaiserschnitt beeinträchtigt sein kann. Dies könnte aus den Gefühlen von Ent- täuschung und Traurigkeit über den ungeplanten Geburtsverlauf resultieren (Zanardo et al., 2016).

Nitahara et al. (2020) kommen zusätzlich zu dem Ergebnis, dass eine Vollnarkose während eines Notkaiserschnittes als Risikofaktor für eine Beeinträchtigung in der Mutter-Kind-Bin- dung angesehen werden kann. Die Autoren sehen als mögliche Ursache dafür den verspäteten Erstkontakt zwischen Mutter und Kind. Aber auch eine Epiduralanästhesie reduziert, vermut- lich aufgrund von Feedbackunterdrückung, die Ausschüttung von natürlichem Oxytocin (Buck- ley, 2015).

2.4.3 Krankheitswertige psychische Probleme und Traumaarbeit

Bei etwa 50 - 70 % (Dorn & Mautner, 2018) bzw. 50 - 80 % der Mütter tritt in den ersten Tagen nach der Geburt eine schnell vorübergehende Stimmungsschwankung, genannt „Postpartum- Blues“ oder umgangssprachlich „Babyblues“, auf (Kühner, 2016). Interessant ist hier zu erwäh- nen, dass die Prävalenz dafür in traditionalen Kulturen deutlich geringer ist. Hier scheinen die subjektiven Erwartungen der Mütter eher erfüllt zu werden (Schiefenhövel, 2007)

Während dieser als leichte, vorhersagbare Störung der Stimmung beschrieben wird (Buttner et al., 2011), gibt es auch Beeinträchtigungen im Befinden, die Krankheitswert besitzen (siehe Tabelle 1). Auf zwei dieser Probleme wird im Folgenden eingegangen.

In der Zeit nach der Entbindung können alle bekannten psychischen Erkrankungen auftreten und die Vulnerabilität hierfür ist in der postpartalen Zeit besonders ausgeprägt (Dorn &

Mautner, 2018). Im Folgenden wird auf die zwei ausgewählten Phänomene Postpartale Depres- sion und Posttraumatische Belastungsstörung eingegangen, welche nach einer Geburt auftreten

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können und über das normale Maß an Reaktion, Schwierigkeiten und Belastung nach der Ge- burt hinausgehen. Diese werden in kurzer Form dargestellt.

Etwa 10 - 15 % der Frauen leiden nach der Geburt an Postpartaler Depressivität, wobei sich bei etwa der Hälfte davon eine Postpartale Depression (PPD) entwickelt, die einer Behandlung be- darf. Obwohl es Faktoren gibt, die eine Erkrankung begünstigen, kann es auch Frauen treffen, die bis dato psychisch stabil und völlig gesund waren (Dorn & Mautner, 2018). Die ersten sechs Monate nach der Entbindung scheinen eine Hochrisikozeit für Depressionen darzustellen (O’Hara & McCabe, 2013).

Die PPD kann nicht als eigenständige Erkrankung gesehen werden, sondern wird als eine de- pressive Episode betrachtet, die nach der Geburt auftreten und nach ICD-10-Kriterien (für af- fektive Störungen) eingeordnet werden kann (Dorn & Mautner, 2018). So können z.B. die di- agnostischen Kriterien von F32.0 – F32.3 für leichte, mittelgradige und schwere depressive Episoden herangezogen werden. Die Betroffenen leiden hierbei unter einer Verminderung von Antrieb, Freude, Interesse und Konzentration und unter gedrückter Stimmung. Auch können Schlafstörungen, Müdigkeit bei geringer Anstrengung, ein verminderter Appetit, Beeinträchti- gungen im Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl, Schuldgefühle und ein Gefühl der Wertlosig- keit auftreten. Die dauerhaft gedrückte Stimmung kann von weiteren Symptomen begleitet sein.

Je nach Schwere und Anzahl der Symptome wird die Depression als leicht, mittelgradig oder schwer klassifiziert. Durch die Verbindung der Klassifizierung mit der Kodierung 099.3 wird ein Zusammenhang mit dem Wochenbett ersichtlich (Dilling & Freyberger, 2016).

Während eine Depression immer belastend ist, ist sie für Frauen, die gerade ein Baby auf die Welt gebracht haben und sich um dieses zusätzlich zu ihren alltäglichen Aufgaben kümmern müssen, in besonderem Maße problematisch (O’Hara & McCabe, 2013). Als Risikofaktoren für eine PPD, die mit der Geburt in Zusammenhang stehen, wurden von Youn et al. (2017) unter anderem ein niedriges (< 20 Jahre) oder ein höheres (≥ 35 Jahre) Alter der Mutter bei der Geburt, erstmaliges Gebären, eine frühere Depression, Frühgeburt, Kaiserschnitt und Ge- burtseinleitung genannt. Zusätzlich können belastende Lebensereignisse, Paarprobleme und mangelnde soziale Unterstützung als Hauptrisikofaktoren angesehen werden (O’Hara, 2009).

Inwieweit die Art der Geburt Einfluss auf die Entwicklung einer PPD nimmt, ist umstritten. So könnte laut Eckerdal et al. (2018) ein indirekter Zusammenhang bestehen, indem ein Notkai- serschnitt oder eine Vakuumextraktion (Saugglockenentbindung) dazu führen, dass es mehr Komplikationen nach der Geburt gibt, vermehrt physische Symptome beschrieben werden und

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die Geburt deshalb als negatives Erlebnis bewertet wird. Insofern könnten Frauen, die in einer Notsituation durch Notkaiserschnitt oder Vakuumextraktion entbinden und von einer als nega- tiv erlebten Geburt berichten, als Risikogruppe für PPD angesehen werden, obwohl die Art der Entbindung keinen direkten Einfluss darauf haben dürfte (Eckerdal et al., 2018). Eine weitere Untersuchung (Meky et al., 2019) zeigt, dass Frauen, die per Notkaiserschnitt entbinden, zu den gemessenen Zeitpunkten in der 8. und 16. Woche nach der Geburt häufiger an PPD leiden als Mütter, bei denen ein Wunschkaiserschnitt durchgeführt wurde. Am wenigsten depressiv schät- zen sich Mütter laut den Autoren ein, die auf natürlichem Weg entbinden. Auch eine Metaana- lyse kommt zu dem Ergebnis, dass ein Kaiserschnitt das Risiko für eine PPD erhöht (Xu et al., 2017). Während die Ergebnisse einiger Studien dafür sprechen, können andere Untersuchungen keinen Unterschied in Bezug auf PPD, abhängig von der Art der Entbindung, entdecken (Goker et al., 2012; Sadat et al., 2014). Zusammengefasst kann gesagt werden, dass keine Einigkeit über den Zusammenhang von PPD und der Art der Geburt besteht.

Es scheint für diese Arbeit auch interessant zu betrachten, inwieweit die Stärke der Präferenz für eine vaginale Entbindung, die tatsächliche Art der Entbindung und die Entwicklung einer PPD in Zusammenhang stehen. Dies haben Houston et al. (2015) untersucht und demnach wün- schen sich die meisten Frauen mit unterschiedlicher Stärke der Präferenz, vaginal zu entbinden.

Je stärker der Wunsch nach einer natürlichen Geburt ist, umso höher wird die Depressivität kurz nach der Geburt eingeschätzt, falls doch ein Kaiserschnitt notwendig ist (Houston et al., 2015). Dies deckt sich mit der Annahme von de Jong und Kemmler (2008), dass die Enttäu- schung über die Notwendigkeit eines Kaiserschnittes umso größer ist, je mehr sich die Mutter auf eine natürliche Geburt gefreut und sich darauf vorbereitet hat.

Es ist vorstellbar, was es für ein Kind bedeutet, wenn die Mutter nach der Geburt emotional nicht so verfügbar ist, wie es für die optimale Entwicklung notwendig wäre. Dies wurde auch wissenschaftlich festgehalten. Eine PPD steht laut O’Hara und McCabe (2013) in Zusammen- hang mit Schwierigkeiten in der Mutter-Kind-Beziehung und negativen Auswirkungen auf die kindliche kognitive, sozial emotionale und behaviorale Entwicklung (O’Hara & McCabe, 2013). So verdoppelt eine postpartale Depression laut einer Studie das Risiko für Verhaltens- störungen des Kindes. Ebenso ist die Vulnerabilität des Kindes für psychische Erkrankungen im Erwachsenenalter erhöht (Netsi et al., 2018).

Eine weitere schwerwiegende psychische Erkrankung, die in Folge einer Geburt auftreten kann, deren Auftreten allerdings selten ist, ist die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)

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(Orovou et al., 2020). Ist man einem belastenden Ereignis oder einer Situation ausgesetzt, die mit einer außergewöhnlichen Bedrohung einhergeht, welche bei fast jeder Person zu großer Verzweiflung führen würde, kann laut Definition („Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)“, 2014) als verzögerte Reaktion darauf eine PTBS entstehen. Dies kann sowohl passie- ren, wenn man das Ereignis, welches meist das Leben unmittelbar bedroht, selber erlebt, als auch wenn man Zeuge eines solchen wird und dieses beobachtet. Eine PTBS äußert sich typi- scherweise mit Erinnerungen, die sich aufdrängen, Wiedererleben des Traumas und Albträu- men und dem Gefühl, betäubt und emotional abgestumpft zu sein. Neben Teilnahmslosigkeit und Gleichgültigkeit gegenüber seinem Umfeld, werden auch Situationen vermieden, die zu einer Erinnerung an das traumatische Ereignis führen könnten. Man befindet sich in einem Zu- stand von Wachsamkeit, Schreckhaftigkeit und auch Angst, Schlafstörungen, Depression und Suizidgedanken sind bei einer PTBS häufig vorhanden. Nach dem Trauma gibt es eine Latenz- zeit von Wochen bis Monaten und obwohl der Verlauf nicht immer gleich ist, kommt es in den meisten Fällen zu einer Heilung und nur selten zu einem chronischen Verlauf über Jahre („Post- traumatische Belastungsstörung (PTBS)“, 2014).

Bei einem kleinen Anteil an Frauen kann es aufgrund des Geburtserlebnisses zu einer PTBS kommen. Dies ist häufig mit anderen psychischen Störungen in der postpartalen Phase verbun- den (Orovou et al., 2020). Während Ayers und Pickering (2001) davon sprechen, dass mindes- tens 1.5 % der Frauen eine chronische PTBS als Folge der Geburt entwickeln können und auch Andersen (2012) annimmt, dass bei ca. 1 - 2 % der Frauen nach der Geburt eine PTBS auftritt, weist eine Metaanalyse von 59 Studien zur Prävalenz von PTBS während Schwangerschaft und nach der Geburt darauf hin, dass 4 % der Frauen nach der Geburt an einer PTBS leiden (Yildiz et al., 2017). Betrachtet man Mütter nach einem Kaiserschnitt, zeigt sich eine weitaus höhere Prävalenz für PTBS nach einem Notkaiserschnitt als wenn dieser gewünscht war, insbesondere dann, wenn der Kaiserschnitt mit einer Aufnahme in der Neugeborenen-Intensivstation einher- geht, es vorzeitige Wehen gab, wenig gestillt wird und es an Unterstützung durch den Partner mangelt (Orovou et al., 2020). Auch Dekel et al. (2019) kommen zu dem Ergebnis, dass ein ungeplanter Kaiserschnitt mit einem höheren Maß an geburtsbedingten PTBS-Symptomen ein- hergeht als andere Geburtsarten, abgesehen von vaginal-operativen Geburten.

Ein Kriterium für die Diagnose einer PTBS ist, dass das Ereignis als traumatisch eingeschätzt wird. Ein traumatisches Geburtserlebnis steht in Zusammenhang mit Ereignissen während der Geburt und der subjektiven Wahrnehmung des Geburtsverlaufes. Demnach können die „sub- jektiv empfundene Notlage während der Geburt“ und „Notfälle während der Geburt“ als die

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beiden Hauptfaktoren für die Entwicklung einer PTBS nach der Geburt gesehen werden. Zu- sätzlich gelten „Komplikationen beim Kind“, „wenig Unterstützung während der Geburt“,

„psychische Probleme in der Schwangerschaft“ und „frühere psychische Traumata“ als Risiko- faktoren (Andersen et al., 2012).

Im Rahmen ihrer Untersuchung kamen Andersen et al. (2012) zu der Annahme, dass drei Fak- toren zur Entwicklung einer PTBS nach der Geburt beitragen: psychologische Prädisposition, ein traumatisches Ereignis während der Geburt und die subjektive Wahrnehmung dieses Ereig- nisses als traumatisch (siehe Abbildung 2).

Abbildung 2

Annahme von Andersen et al. (2012, S. 1270) zur Entwicklung einer PTBS nach der Geburt

Eine durch die Geburt ausgelöste PTBS kann neben anderen Faktoren zu einer Beeinträchti- gung in der Bindung zwischen Mutter und Kind beitragen (Dekel et al., 2018). Ayers et al.

(2008) sehen die Möglichkeit, dass die PTBS nach einer Geburt anders verläuft als eine PTBS nach anderen Ereignissen, da Mütter täglich Kontakt mit ihrem Baby haben. Dies kann laut den Autoren dazu führen, dass sich Symptome verschlimmern, aber auch dazu, dass sich die Ver- meidung durch eine Exposition verringern könnte. Hingegen zeigt eine weitere Untersuchung, dass die Symptome einer postpartalen PTBS von Müttern, deren Kinder auf einer

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Neugeborenen-Intensivstation versorgt werden müssen, einen ähnlichen Verlauf nehmen, wie bei einer PTBS nach anderen Traumata (Kim et al., 2015).

Die folgende Tabelle stellt eine zusammengefasste Übersicht über die Charakteristika und Symptome der drei genannten psychischen Auffälligkeiten dar.

Tabelle 1

Übersichtstabelle nach Dorn und Mautner (2018, S. 100)

Problematik Charakteristika und Symptome

Babyblues Auftritt in den ersten 3 - 5 Tagen nach der Geburt 50 – 70 % betroffen

Affektlabilität

keine Pathologie, kein Therapiebedarf Traumatisch er-

lebte Entbindung

Ca 1.5 % entwickeln eine volle PTBS

subjektive Wahrnehmung und nicht objektives Trauma entschei- dend

Reaktualisierung (Albträume, Flashbacks), Vermeidungsverhal- ten, Rückzug, Abgestumpftheit, Gereiztheit, Schreckhaftigkeit Depression Spektrum depressiver Symptome: Niedergeschlagenheit bis hin zu

Suizidalität, Angst, Weinen, Zwänge, Konzentrations- und An- triebsminderung, körperliche Symptome, Schlafstörungen, weni- ger Appetit;

2.4.4 Regulationsstörungen (Kindliche Probleme und Umgang mit dem Kind)

Nicht nur Mütter können nach einer Geburt Symptome zeigen, die den Kontakt mit dem Kind erschweren. Kinder mit Regulationsstörungen stellen ihre Eltern vor eine große Herausforde- rung, weshalb dies einer der Hauptgründe ist, warum sich Eltern mit ihrem Kind an die EEH wenden (Harms, 2016).

Bei Babys und Kleinkindern treten am häufigsten Störungen in der Verhaltensregulation in Form von Schrei-, Schlaf-, und/oder Fütterstörungen auf. Diese Problematik trägt die Bezeich- nung Regulationsstörung (Cierpka, 2015). Kinder, die diese Symptomatik aufweisen, werden umgangssprachlich auch als „Schreikinder“ bezeichnet (Kaiser, 2017).

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