SITUATION IN DRAVIDISCHEN TEXTEN*
Von Bernhard Kölver, Köln
0. Im folgenden seien einige Beobachtungen behandelt, die an Sprach¬
material aus dem Tulu angestellt werden können. Das Tulu ist eine der nicht¬
literarischen dravidischen Sprachen Südindiens und wird von mehr als einer
halben Million Sprecher hauptsächlich in der Gegend um Mangalore an der
Malabarküste gesprochen. Das Idiom hat bisher wenig Beachtung gefunden.
So schien es mir sinnvoll, eine Gelegenheit wahrzunehmen, von zwei Infor¬
manten gesprochene Texte in Tulu auf Tonband aufzunehmen.
Das so aufgezeichnete Material besteht sowohl aus Erzählungen wie aus
Konversation über Themen des Alltags. Diese Texte nun zeigen etliche
grammatische, und zwar auch syntaktische, Auffälligkeiten, die über die
Beschreibung des einzelnen Idioms hinaus von Interesse zu sein scheinen.
Einige von ihnen sollen im folgenden kurz behandelt werden.
1. Der erste bemerkenswerte Umstand ist ganz am Anfang der aufgenom¬
menen Erzählungen zu beobachten. Ein typisches Beispiel für die Einlei¬
tung solcher Geschichten ist die folgende Kette von Sätzen, in denen die
Folge der Tempora ungewöhnlich scheint. Man liest da
(1) onji malla kädmdm onji malla simho ittmniu. ä simho dinäla sikki
mriugonguleni munda pattm tinondu ittmniu. i mrmgonguleni manda
undani sünaga pödige äpunu. . . . 'jäne ambunä' ndm älöcane ambuvo.
odane mandekulu-la panpo. . . .
Tn einem großen Dschungel war (Imperfekt) ein großer Löwe. Der
Löwe pflegte (Imperfekt) täglich, nachdem er die Tiere usw., die (er)
erreichte, gefangen hatte, (diese) zu fressen. Wenn diese Tiere usw.
diesen sehen, ist (Präsens) (ihnen) Furcht. . . . ,,Was kann man ma¬
chen?", so überlegen (Präsens) sie. Darauf sagen (Präsens) sie alle. . . .'
Danach wird die Erzählung im Präsens fortgeführt. Dies ist durchaus das
normale Schema. Zuerst finden sich also einige Sätze im Imperfekt, dann
wechselt der Sprecher ins Präsens über und behält es bei, wenn nicht ganz
bestimmte Gründe vorliegen.
2. Hat sich erst die Aufmerksamkeit einmal dem Tempusgebrauch zu¬
gewandt, so fällt alsbald eine zweite Besonderheit dieser Erzählungen ins
* Vgl. Proceedings of the Second Intemational Tamil Conference-Seminar, Madras 1968.
Syntaktische Auswirkungen der Sprechsituation 795
Auge. Das Tempussystem des Tulu weicht bekanntlich in bezug auf die
Vergangenheitstempora von dem ab, das sich z. B. in den literarischen dra¬
vidischen Sprachen findet: statt des üblichen einen Vergangenheitstempus
haben wir dort deren zwei. Neben dem vertrauten Imperfekt (dieser Ter¬
minus, wie auch die folgenden, sagt natürlich nichts über die syntaktische
Funktion der Formen aus) steht ein zweites, das mit einem Dentalsuffix
gebildet wird. Von panpuna ,, sprechen" z. B. hat man pande ,,er sprach"
(Präteritum I = Imperfekt) und pandiute ,,er sprach" (Präteritum II), oder von kulluna ,, sitzen" kulliye ,,er saß" (Präteritum I) und kullute ,,er saß"
(Präteritum II).
Diese Vergangenheitstempora werden nun mit verschiedenen Ausdrücken
bezeichnet. Sowohl Caldwell in seiner Comparative Grammar of the Dravidian
Languages^ wie Brigel, dem wir eine Grammar of the Tulu Language^ ver¬
danken, brauchen die Termini Imperfekt und Perfekt. Diese wohl der lateini¬
schen Grammatik entlehnten Termini besagen an sich nichts. Doch kann man
aus der Sekundärliteratur nicht eben viel über die syntaktische Funktion
der dem Tulu eigenen grammatischen Kategorie, des Perfekt, erfahren.
Caldwell äußert sich gar nicht. Brigel hat eine in Anbetracht des Namens
auf den ersten Blick sehr einleuchtende Definition. Er sagt, das Perfekt
stelle entweder eine Handlung als ganz vollendet dar (wie z. B. (2) illuinui
budte ,,Ich habe das Haus verlassen", oder es kennzeichne die Verbalhand¬
lung als einer anderen vorhergehend, wie in (3) yänm illuigui muttunaga,
äye pöte „Als ich zu dem Hause kam, war er (weg)gegangen".
Nun war rein empirisch bei diesem zweiten Präteritum oder Perfekt ein
Umstand sehr bemerkenswert. In der ersten Gruppe der aufgenommenen
Erzählungen nämlich kam es überhaupt nicht vor, und auch in der zweiten
Gruppe tauchte nur ein einziger Beleg auf. Diesen Satz möchte ich zitieren.
Er erscheint gegen Ende der bekannten Geschichte aus dem Paficatantra
vom Löwen und dem Hasen. Der Löwe spricht zu seinem Spiegelbild in
einem Brunnen, in der Meinung, einen Rivalen anzmeden. In der Version
meines Informanten A heißt es da :
(4) neto ulaytä kullutal ninani . . . itte pattm kerpel „Hast du darin (d. h. im Brunnen) gesessen (Perfekt)? Ich fange und töte (Präsens) dich jetzt!"
Schon diesem des Zusammenhangs beraubten Auszug läßt sich entneh¬
men, daß die Worte ,,hast du gesessen" der Interlinearübersetzung die
Form kulluta, das Perfekt des Tulu, schwerlich angemessen wiedergeben;
vielmehr verlangt der Kontext eher eine deutsche Entsprechung wie ,, sitzest
du darin". Mit anderen Worten, man würde das Präsens vorziehen. Aut diese
Frage werden wir sogleich zurückkommen.
3. Die Seltenheit des Perfekts in den Erzählungen meiner Informanten
2 3. ed., revised. Madras 1961. ' Mangalore 1879.
hat mich nun veranlaßt, Konversation über alltägliche Themen zwischen
ihnen durchzugehen. In Passagen dieses Typs fanden sich nun etliche Sätze
mit der erwähnten Verbform. Charakteristisch sind etwa die folgenden
Beispiele :
(5) enm cäye parte ,,Ich hahe (schon) Tee getrunken (Perfekt)".
(6) bävernäkuleno käkado onjala battuitri ,,Von den Schwägern (im Tulu Ge¬
netiv) ist ein Brief nicht gekommen (Perfekt negativ)".
Diese beiden Sätze sind, wie viele ähnliche, Antworten auf Fragen. Ganz
eindeutig beziehen sie sich auf vollendete Handlungen, um auf Brigels De¬
finition des Perfekt zurückzukommen. Auf vollendete Handlungen aber be¬
ziehen sich auch zahlreiche andere Sätze, die das Verb im Imperfekt haben.
Ebenfalls der Konversation entnommen ist z. B.
(7) enm köde sinemägm pöye „Gestern ging (Imperfekt) ioh ins Kino".
In direkter Rede kommt das auch in den Erzählungen oft vor : es finden sich
Sätze wie
(8) i säre engm ungila sammänätm koliye ,, Dieser Herr hat mir den Ring als
Geschenk gegeben (Imperfekt)".
So sehen wir uns zu dem Schlüsse genötigt, daß Brigels Definition des
Perfekts zwar offenbar nicht im Widerstreit mit der Evidenz steht, aber
doch nicht den Kern des dmch die grammatische Kategorie Perfekt bezeich¬
neten Sachverhaltes trifft. Wesentlich scheint mir der weitere Umstand, daß
die Verbalhandlung bei einem Prädikat im Perfekt in Beziehung zur Ge¬
genwart steht. Von den zitierten Beispielen etwa war, m. E. nicht zufälliger¬
weise, (5) enm cäye parte „ich habe (schon) Tee getrunken (Perfekt)" in
einer Situation gesprochen, als wiederum Tee angeboten wurde. Oder
nehmen wir den negativen Satz (6) bävernäkuleno käkado onjala battudri
„Von den Schwägern ist ein Brief nicht gekommen (Perfekt)", so könnte
man hinzufügen: zu dem Zeitpunkt, als der Satz gesprochen wurde. An
dieser Stelle besinnen wir uns auf die Beobachtung, die wir anläßlich der
Worte anstellten, die der Löwe zu seinem Spiegelbilde sagt. Die Wiedergabe
von (4) neto ulaytä kulluta'i durch ,,hast du darin gesessen?" war offenbar
unzulänghch; die Worte drücken eben nicht nur aus, daß der Löwe in dem
Brunnen gesessen hat, sondern daß er im Augenblick, da gesprochen wird,
noch darin sitzt; anders formuliert: die Handlung dauert noch an, wenn
der Sprecher von ihr spricht; sie steht in Beziehung zm Gegenwart des
Sprechers. Wollte man also eine treffende Entsprechung für die Bedeutung
der Tuluform finden, müßte man wohl zu einer Paraphrase greifen, also
etwa sagen: ,,Hast du darin gesessen und sitzest du noch da?".
4. Es ist noch des Umstandes zu gedenken, daß das Perfekt in den Erzäh¬
lungen kaum vorkommt. Nun, da wir das Perfekt besser verstehen, müßte
man dieses Fehlen zu erklären versuchen. Dazu möchte ich folgendes vor¬
schlagen.
Syntaktische Auswirkungen der Sprechsituation 797
Wie sich den wenigen zitierten Beispielen entnehmen ließ, impliziert das
Perfekt unter anderem, daß die Verbalhandlung zwar vergangen ist, aber
den Sprecher zur Zeit seiner Äußerung noch in irgendeiner Weise betrifft.
Versucht man nun, sich die Auswirkungen dieses Umstandes auf ein ab¬
straktes Zeitschema klarzumachen, d. h., bezieht man diese Tempora auf
eine mehr oder weniger nahe oder entfernte Vergangenheit, so wäre man
wahrscheinlich zu der Annahme geneigt, das Imperfekt sei der entfernteren,
das Perfekt der näheren Vergangenheit zuzuordnen. Und daraus ließe sich
weiter schließen, daß die festgelegte Zeit, in der Erzählungen spielen, in
der Regel keinen unmittelbaren Bezug zur Gegenwart des Sprechers hat,
daß also Erzählungen nicht der Ort für ein Tempus sind, durch das eine
vergangene Verbalhandlung mit der Gegenwart verknüpft wird.
Aber eine Identifikation von Zeit und Tempus ist höchst fragwürdig.
Es lautete z. B. die erste der zitierten Passagen aus dem Tulu: (1) onji
malla kädiudiu oüji malla simho ittvmm . . . i mruagonguleni manda undani
sünaga pödige äpunu. ,,In einem großen Dschungel war (Präteritum I) ein
großer Löwe. . . . Wenn die Tiere usw. diesen sehen, ist (Präsens) (ihnen)
Furcht." Aber es gehören sowohl die Existenz des Löwen, die hier im Im¬
perfekt erwähnt wird, wie die Furcht der Tiere, die im Präsens erscheint,
der Vergangenheit an. Oder, aus dem als (4) zitierten Passus: ninani . . .
itte pattm kerpe heißt wörtlich ,,Dich jetzt gefangen habend, töte ich
(dich) (Präsens)." Aber zur Zeit, wo diese Worte gesprochen werden, weisen sie auf eine Absicht des Löwen, also auf ein Ereignis, das in der Zukunft liegt.
Dennoch ist das verwendete Tempus das Präsens.
Trotzdem sind die voraufgegangenen Erwägungen nicht vergeblich, und
was wir über das Perfekt gesagt haben, wird zur Erklärung seines seltenen
Auftretens in den Erzählungen beitragen.
5. Denn wenn man die linguistischen Phänomene eines Textes verstehen
will, muß man die Situation berücksichtigen, in der dieser Text geäußert
wurde. Man hat oft geglaubt, die Sprechsituation könne nicht Gegenstand
der Linguistik sein, da sie über das eigentlich Sprachliche hinausgreift. Aber
diese Anschauung trifft die Tatsachen nur zum Teil, wie besonders Pike
gezeigt hat. Die linguistische Relevanz der Sprechsituation hat z. B. Wein-
MCH sehr eindrücklich dargetan: seine Ärbeit über Tempus zeigt, wie das
Inventar von Formen, das einen Passus aus einer Konversation erschöpfend
beschreibt, keineswegs mit dem Formeninventar einer Erzählung überein¬
stimmt. Der Unterschied zwischen beiden aber betrifft hauptsächlich das
Verbum.
Ohne nun in die Phänomenologie der Typen von Sprechsituation ein¬
treten zu wollen, wird man doch sagen können, daß im allgemeinen der In¬
halt einer Erzählung (und damit ihre Satzfolge) vom Anfang an schärfer
umrissen, determinierter sein wird als der Inhalt einer Konversation. So
ergibt sich in der Einstellung des Sprechers zu seinem Material ein tief¬
gehender Unterschied zwischen Erzählung und Konversation. In der Kon¬
versation nämlich reagiert der Sprecher unmittelbar auf einen Stimulus aus
der Außenwelt. Eine Erzählung aber ist an ihre eigenen Entwicklungs¬
gesetze, ihr eigenes Bezugssystem, gebunden - kurz, der Erzähler ist bemüht,
in ihr eine eigene Welt zu schaffen. Und so ist es nicht überraschend, daß
wir unter den linguistischen Kategorien, dmch die diese eigene Welt be¬
schrieben wird, ein Tempus wie das Perfekt des Tulu vermissen, ein Tempus,
dessen charakteristische Funktion es ist, die Verbindung des Sprechers mit
der Verbalhandlung auszudrücken.
Auch die eine Perfektform, die sich aus den Erzählungen belegen ließ,
fügt sich in dieses Bild ein. Der Satz (4) neto ulaytä kulluta'i ,,hast du darin
gesessen?" wurde von dem Löwen gesprochen, ist also ein Stück in die Er¬
zählung eingeflochtener Konversation, wo dann natürlich die Gebrauchs¬
schemata der Konversation gültig sind. Zweifellos war der Löwe davon
betroffen, daß er einen Rivalen in dem Brunnen sitzen sah.
6. Damit haben wir im Tulu ein linguistisches Kriterium für die typo¬
logische Unterscheidung zwischen Erzählung und Konversation gefunden.
Danach liegt der Versuch nahe, auch die andere, eingangs erwähnte Beson¬
derheit, den plötzlichen Tempuswechsel am Anfang von Erzählungen, ähn¬
lich zu erklären.
Wir beziehen uns auf diese schon genannte Beobachtung: Im normalen
Fall beginnt der Erzähler seine Geschichte mit ein paar Sätzen im Imper¬
fekt und wechselt dann ins Präsens über. Offenbar ist also einmal das Im¬
perfekt verwendet, um den Ausgangspunkt der folgenden Ereignisse fest¬
zulegen. Ist dieser Punkt einmal fixiert, führt das Präsens, sozusagen als
tempusindifferente Form, die Erzählung fort.
Doch findet sich das Imperfekt gelegentlich außerhalb dieses Schemas,
und zwar dann, wenn ein neues Element in die Erzählung eingeführt wird.
Eine Geschichte erzählt z. B. in der üblichen Tempusfolge einleitend von
einem Lehrer und seinen Schülern. Auf das Ende der Exposition folgt nun
der Satz (9) inja ippunaga onji dino . . . onji malla viMso battuinm ,, Während
(das) so war, kam (Imperfekt) eines Tages in seinem Haus irgend etwas, ein
großes Fest." Danach fällt der Erzähler wiederum ins Präsens: (10) ä
viSeSongu mandernila oleppuve „Zu jenem Fest ruft er alle." Der Grund für
diesen Wechsel scheint offenbar. In dem Satz mit Imperfekt wird der Hinter¬
grund gegeben, der zum Verständnis der tatsächlichen Ereignisse not¬
wendig ist ; die Ereignisse selbst stehen im Präsens. Und diese Beschreibung
paßt ebenfalls auf den Tempuswechsel zu Anfang der Erzählungen.
Die Unterscheidung zwischen Hintergrund und Vordergrund scheint also
ein weiterer Aspekt des komplexen Schemas, das im Tulu durch die Opposi¬
tion zwischen Imperfekt und Präsens formal gekennzeichnet wird.
TURKISH-SANSKRIT
LINGUISTIC CONTACTS AT A GLANCE
By Abidin Itil, Ankara
The Department of Indology was estabhshed in Turkey for the first time
in the autumn of 1935 in the Faculty of Letters of Ankara University. In
the beginning doubts arose in some minds as to what kind of important
and immediate requirements would be fulfilled by such philological branches
in the researches of om national cultural history and Turkish language.
However, with time it came out that just like Sumerology, Hittitology
and Sinology, Indology can also bc of great help in such historical or lin¬
guistic undertakings*.
It is true that the cradle of the Turks as a nation and of Tmkish as a
language has been the wide region of Central Asia. But it is also a fact
that the said region and the Near-East, - into which the Tmks spread
afterwards - have been a scene of uninterrupted fiows of innumerable
nations and cultmes. Consequently, taking up any problem concerning om
national cultural history, it is next to impossible to accomplish successful
results without keeping in mind the neighbour cultures of this wide region
and their mutual affects on each other.
The above mentioned mixtme of such cultural elements becomes more
important for us especially in the field of philological undertakings. One cannot
doubt that most of the loaned words in to-day's Turkish are of Arabic
or Persian origin. At the same time, it would be logical to accept the fact
that the foreign words originating from the IE. group entered our language
mostly through Persian. However, it does not mean that every foreign word
of IE. origin in Turkish should be connected with Persian for its ety¬
mological explanation.
As the time at my disposal is short we will have to be content with only
a few examples.
a. Prof. Dr. S. K. Chatterji of Calcutta University has written a worthy
and scholarly article under the heading "Some Iranian And Turki Loans
In Sanskrit"^. In this article the learned Prof, finds a similarity between
1 To clarify such doubts Prof. Dr. W. Ruben wrote an article: The Fttnctiona
Of Indology In Turkey (Cigir, Vol. 97, p. 168-177; Ankara 1940).
2 Shahidullah Presentation Volume (Pakistani Linguistics-VII), p. 123-140.
Abbottabad-West Pakistan 1966.