(Direktor: Universitätsprofessor Dr. med. T. Lenarz) der Medizinischen Hochschule Hannover
Analyse der Durchführbarkeit eines Neugeborenen-Hörscreenings innerhalb des Modellprogramms
„Verbesserung der Früherfassung von Hörstörungen im Kindesalter“
Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Medizin in der Medizinischen Hochschule Hannover
vorgelegt von Stefan R.O. Stolle
aus Forchheim
Hannover 2005
am 11.05.20005
Gedruckt mit Genehmigung der Medizinischen Hochschule Hannover
Präsident: Prof. Dr. Bitter-Suermann Betreuer: Prof. Dr. Thomas Lenarz
Referentin: Prof.’ín Dr. Anke Lesinski-Schiedat Korreferent: Prof. Dr. Reinhard G. Matschke
Tag der mündlichen Prüfung: 11.5.2006
Promotionsausschussmitglieder:
Prof. Dr. Rolf Winter Priv.-Doz. Dr. Timo Stöver Priv.-Doz. Dr. Klaus Krampfl
Meiner Mutter und meiner Familie
3
INHALTSVERZEICHNIS 3 ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS 5
1 EINLEITUNG 6
1.1 VORWORT 6
1.2 SITUATION DES NEUGEBORENEN-HÖRSCREENINGS IN DEUTSCHLAND 7 1.3 SITUATION DES NEUGEBORENEN-HÖRSCREENINGS IM INTERNATIONALEN VERGLEICH 8
1.4 KINDLICHE SCHWERHÖRIGKEIT 11
1.5 FOLGEN KINDLICHER SCHWERHÖRIGKEIT 13
1.6 FRAGESTELLUNG DER ARBEIT 13
2 MATERIAL UND METHODE 14
2.1 MESSMETHODE UND DURCHFÜHRUNG IM MODELLPROJEKT 17
2.2 ABLAUF DES NEUGEBORENEN-HÖRSCREENINGS 19
2.2.1 Geburtskliniken ...22 2.2.2 Neonatalabteilungen ...25 2.2.3 HNO-Praxen ...26
2.3 ERGÄNZENDE MAßNAHMEN ZUM MODELLPROJEKT 29
2.3.1 Hebammen ...29 2.3.2 Kinderärzte ...30
2.4 ABKLÄRUNG 30
2.5 KONSEQUENZ DES NEUGEBORENEN-HÖRSCREENINGS 32
2.6 DIE SCREENINGZENTRALE 33
2.6.1 Monitoring ...33 2.6.2 Tracking ...35
3 ERGEBNISSE 36
3.1 ERGEBNISSE DER GEBURTSKLINIKEN 38
3.2 ERGEBNISSE AUS DEN NEONATALZENTREN 48
3.3 ERGEBNISSE AUS DEN HNO-PRAXEN 52
3.3.1 Neugeborene zum Erstscreening in der HNO-Praxis ...55 3.3.2 Abklärungsfälle in der HNO-Praxis ...56
3.4 ERGEBNISSE ERGÄNZENDE MAßNAHMEN 57
3.4.1 Ergebnisse der Hebammen ...57 3.4.2 Ergebnisse der Kinderärzte ...58
3.5 KINDER MIT DIAGNOSTIZIERTEM HÖRVERLUST 59
4
5 ZUSAMMENFASSUNG 71
6 ANHANG 73
6.1 HANNOVERANER KONSENSUSPAPIER (VERSION 3.0) 73
6.2 FORMULARE MODELLPROJEKT 75
6.2.1 Elterninformation 1 – Allgemeine Informationen ...76
6.2.2 Elterninformation 2 bei auffälligem Befund ...77
6.2.3 Liste qualifizierter HNO-Ärzte...78
6.2.4 Erläuterungen zur OAE-Messung für das Pflegepersonal...79
6.2.5 Erläuterungen zur möglichen Störproblematik für das Pflegepersonal...80
6.2.6 Empfehlungen zur Ablaufgestaltung in HNO-Praxen ...81
6.2.7 Ersterhebung für das Neugeborenen-Hörscreening ...82
6.2.8 Ersterhebung bei Risikokindern...83
6.2.9 Ersterhebung des HNO-Arztes...84
6.2.10 HNO-Nachuntersuchungsbogen ...85
6.2.11 Dokumentationsbogen zur Betreuung der Kliniken vor Ort ...86
6.2.12 Kontrollbogen zur Qualitätskontrolle der HNO-Praxen vor Ort, Erstkontakt ...87
6.2.13 Kontrollbogen zur Qualitätskontrolle der HNO-Praxen vor Ort, Kontrollen...88
6.3 ABBILDUNGSVERZEICHNIS 89
6.4 TABELLENVERZEICHNIS 90
6.5 LITERATURVERZEICHNIS 91
DANKSAGUNG 95
LEBENSLAUF 96
ERKLÄRUNG 97
5 Abkürzung Bedeutung
ambulante Geburt Entbindung findet in der Geburtsklinik statt, die Mutter verlässt zeitnah die Klinik
BERA Brainstem electric response audiometry, Ableitung akustisch evozierter Potentiale, sog. Hirnstammpotentiale
CI Cochlea Implantat CT Computer- Tomographie
DPOAE Distorsionsprodukte otoakustischer Emissionen FAEP Frühe akustisch evozierter Potentiale
FAIL Anzeige des Hörscreeninggerätes bei kontrollbedürftigen Befund Gelbes Heft Kinder-Untersuchungsheft – Bundesausschuss der Ärzte und
Krankenkassen
Hausgeburten Entbindung, die im häuslichen Umfeld erfolgt MHH Medizinische Hochschule Hannover
MRT Magnet-Resonanz-Tomographie (Kernspin-Tomographie) NHS Neugeborenen-Hörscreening
notched noise BERA Ableitung Frequenz spezifischer früher akustisch evozierter Potentiale
OAE Otoakustische Emissionen
PASS Anzeige des Hörscreeninggerätes bei regelrechtem Befund Risikokinder Neugeborene die aufgrund unterschiedlichster Faktoren in
Neonatalabteilungen verlegt werden mussten TEOAE Transitorische evozierte otoakustische Emissionen Tracking Weiterbeobachtung screeningauffälliger Kinder
U1-U9 Gesetzliche Vorsorgeuntersuchungen Nr. 1-9 von Kindern UNHS Universelles Neugeborenen-Hörscreening
6
1 Einleitung
1.1 Vorwort
Die frühzeitige Feststellung einer angeborenen Hörstörung ist essentiell für eine effektive Therapie [Downs und Yoshinaga-Itano, 1999; Yoshinaga-Itano et al., 1998]. Dieses begründet sich in der neuralen Hörbahnreifung, die ohne akustische Reizung nicht stattfindet. Eine verzögert oder spät einsetzende Reizung respektive Reifung kann wesentliche Defizite des Hörens nicht mehr nachholen. Eine physiologische Sprachentwicklung ist dann nicht mehr in vollem Umfang möglich.
Angeborene Hörstörungen kennzeichnen sich hauptsächlich durch eine Störung des Innenohres. Die Funktion des Innenohres ist seit mehreren Jahrzehnten sicher messbar.
Aber erst durch die Entwicklung adäquater Geräte ist eine objektive und einfach durchzuführende Hörtestung bei Neugeborenen möglich [Bray und Kemp, 1987; Kennedy und McCann, 2004]. In einigen Ländern wurde diese Entwicklung als Chance erkannt, ein flächendeckendes Neugeborenen-Hörscreening (NHS) einzuführen.
Aufgrund unterschiedlicher gesundheitspolitischer Aspekte, die sich im Wesentlichen an der Finanzierbarkeit orientierten, war eine spezifische Evaluierung der Machbarkeit für Deutschland notwendig. Um diese Entscheidungsgrundlage für die Einführung des NHS in Deutschland zu erhalten, führten die Klinik für Hals-, Nasen-, Ohren-Heilkunde, Kopf- und Halschirurgie der Medizinischen Hochschule Hannover (Direktor Prof. Dr. T. Lenarz), die Abteilung für Epidemiologie und Gesundheitssystemforschung der MHH und das Zentralinstitut für die Kassenärztliche Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland (ZI) ein Modellprojekt zur Erprobung der Implementierung des Neugeborenen-Hörscreenings in Deutschland: „Modellprogramm,Verbesserung der Früherfassung von
Hörstörungen im Kindesalter (Machbarkeits- und Evaluationsstudie zum Einsatz
otoakustischer Emissionen bei Neugeborenen)“ durch. Dies geschah im Auftrag des Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung, den Landesverbänden der Krankenkassen Niedersachsens, der Niedersächsischen Krankenhausträger, der Kassenärztlichen Vereinigung Niedersachsens sowie mit den Spitzenverbänden der Gesetzlichen Krankenkassen auf Bundesebene.
7 1.2 Situation des Neugeborenen-Hörscreenings in Deutschland Hörstörungen werden im Mittel relativ spät entdeckt [Spivak und Jupiter, 1998]. Ohne ein NHS fallen Hörstörungen entweder den Eltern oder den untersuchenden Ärzten bei einem mittleren Alter von 31 Monaten auf [Finckh-Krämer et al., 1998; Hartmann und Hartmann, 1998] (Abbildung 1-1).
Systematische Hörtests mit subjektiven Methoden werden bei den Kinder- Vorsorgeuntersuchungen U3 (4.-6. Lebenswoche), U7 (21.-24. Lebensmonat) und U8 (3½ - 4 Jahre) angeboten. Das Messkriterium sind laute Geräusche, auf die hin die Reaktion des Kindes festgestellt werden soll. Ein weiterer Hörtest wird bei der Einschulungsuntersuchung des Gesundheitsamtes durchgeführt [Sitzmann, 2002].
1 10 100 1000 Lebenstage
mit NHS ohne NHS
Entdeckte Kinder mit Hörstörung
1 10 100 1000 Lebenstage
mit NHS ohne NHS
Entdeckte Kinder mit Hörstörung
Abbildung 1-1: Frühzeitige Erkennung von Hörstörungen durch NHS (verändert, nach Reuter, G.)
Zurzeit erfolgt in Deutschland ein unsystematisches NHS, welches von verschiedenen Facharztgruppen wie Pädiatern, HNO-Ärzten oder Pädaudiologen durchgeführt wird. Es ist formal nicht in die pädiatrischen Vorsorgeuntersuchungen integriert und wird nicht wie viele anderen Vorsorgeuntersuchungen von den Krankenkassen finanziert. Im Wesentlichen wird die Organisation von Seiten der durchführenden Ärzte zur Verfügung gestellt und die Finanzierung durch Spenden gesichert. Es gibt starke regionale Unterschiede, kein bundesweit einheitliches Konzept und keine bundesweite komplette
8 Versorgung. Eine Vernetzung der verschiedenen Projekte konnte noch nicht erreicht werden.
1.3 Situation des Neugeborenen-Hörscreenings im Internationalen Vergleich
Die Einführung der NHS-Entwicklung begann 1990 in Rhode Island [White und Behrens, 1993] und setzte sich mit immer mehr Dynamik fort. Verschiedene Pilot-Projekte belegten den positiven Effekt und lösten aber kontroverse Diskussionen aus. Retrospektive Studien aus den USA wurden zum Nachweis der Effektivität und zur Optimierung der Methodik herangezogen: Texas [Finitzo et al., 1998]; Colorado [Mehl und Thomson, 2002]; Hawai [Mason und Herrmann, 1998]; “New York State Universal Newborn Hearing Screening Demonstration Project“ [Prieve und Stevens, 2000].
Aufgrund ständiger technischer Verfeinerungen und einem zunehmenden Interesse verschiedener Facharztgruppen, aber auch der Politik sowie seitens der Bevölkerung besteht mittlerweile weltweit der Trend, dass NHS flächendeckend einzuführen. Die Anzahl der weltweiten Projekte ist stark ansteigend (Abbildung 1-2).
Abbildung 1-2: Anzahl der Neugeborenen-Hörscreeningprojekte [Grandori, 2004]
0 200 400 600 800 1000 1200 1400 1600
-1990 1991
1992 1993
1994 1995
1996 1997
1998 1999
2000 2001
2002 2003
2004
Anzahl der Programme
Jahr
9 Aufgrund der Ergebnisse dieser Untersuchungen wurde ein Positionspapier erarbeitet (JOINT COMMITTEE ON INFANT HEARING 2000) und eine Erklärung (AMERICAN ACADEMY OF PEDIATRICS 1999) [American Academy of Pediatrics, 1999] verfasst, in denen Mindestanforderungen an ein Screening definiert wurden. Es sollen mindestens 95%
der Neugeborenen eines Geburtenjahrgangs gescreent werden. Dabei soll die falsch- positive Rate bei höchstens 4% liegen.
Ein ausschlaggebender Impuls für das NHS im Europäischen Raum kam 1998 aus Mailand unter der Mitwirkung von Professor Dr. T. Lenarz auf Initiative von Professor Dr. F.
Grandori mit der Verabschiedung des „EUROPEAN CONSENSUS STATEMENT ON NEONATAL HEARING SCREENING“ [Grandori und Lutman, 1998]. Hier wurden gemeinsame Übereinkünfte definiert über die Ziele, die grundsätzlichen Anforderungen, die Behandlung und Patientenförderung sowie bezüglich der Qualitätssicherung. Zwischen den angestrebten Zielvorgaben und der Realität in der Europäischen Union besteht jedoch noch eine deutliche Diskrepanz. Eine Studie von Agnetha Parving (vgl. Tabelle 1-1 und Tabelle 1-2) kommt zu dem Ergebnis, dass zur Zeit weniger als 20 % aller Neugeborenen in Europa frühzeitig untersucht („gescreent“) werden [Grandori, 2004].
10 Übersicht der Screeningaktivitäten in Europa
Tabelle 1-1: Stand des NHS in Europa
LAND Status Stand
ÖSTEREICH I Praktisch in allen Krankenhäusern, geschätzte Abdeckung:
80 bis 85%
BELGIEN (Flandern) I >99%
BELGIEN (Wallonien) UNHS in Bearbeitung durch das Gesundheitsministerium (Dez. 2003)
KROATIEN I NHS vorgeschrieben, Abdeckung >90%
CZECH REP. Freiwillig eingerichtet in einigen Krankenhäusern DÄNEMARK PL UNHS wird finanziert (Frühjahr 2004)
FINNLAND Freiwillig in einigen Krankenhäusern
FRANKREICH PL Das Ministerium für Gesundheit,- Familie,- und Behinderte hat ein Pilotprojekt finanziert (Dez. 2003)
DEUTSCHLAND PI UNHS in regionalen Projekten GRIECHENLAND ~ 15 Krankenhäuser
UNGARN UNHS in mehreren Krankenhäusern
IRLAND In einigen Krankenhäusern
ITALIEN PL In 7 von 20 Regionen (~ 25%)
LITAUEN PL Abdeckung ~ 50%
LUXEMBURG I >99%
MALTA PI ~ 3 Krankenhäuser
NIEDERLANDE I >95%
NORWEGEN Pilotprojekte in mehreren Krankenhäusern PL POLEN I über 90% (April ’04)
PORTUGAL In 2 von 3 Krankenhäusern freiwillig RUMÄNIEN PL Freiwillig in einigen Krankenhäusern SLOWAKEI PL Freiwillig in einigen Krankenhäusern SLOWENIEN PL In mehreren Krankenhäusern eingerichtet
SPANIEN PI Unterstützt in vielen Gesundheitsregionen (insgesamt ~35 bis 40%)
SCHWEDEN PI In mehreren Bundesländern
SCHWEIZ PI In der Mehrheit aller Krankenhäuser eingerichtet (60 bis 65%)
VEREINIGTES KÖNIGREICH I Abdeckung ~ 90% (Mai ’04)
PI = politisch implementiert; I = implementiert [Grandori, 2004]
11 Weltweit ist ein vergleichbarer positiver Trend zu verzeichnen. In vielen Ländern gibt es noch kaum Anzeichen erster Schritte, in anderen Ländern existieren nur wenige Screeningbemühungen („WENIGE“), andere sind noch in der Vorbereitungsphase („Versuche“). In einigen Ländern wurde ein Screening sogar schon politisch umgesetzt („politisch implementiert“). Die Qualität der Umsetzung zeigt eine breite Variation von mäßig „+“ bis sehr gut „++++“ (Tabelle 1-2).
Tabelle 1-2 Stand des NHS weltweit nach Prof. Grandori, exemplarisch
Argentinien wenige
Armenien Versuche
Australien +++ politisch implementiert
Brasilien Wenige
Bulgarien Versuche
Kanada +++ politisch implementiert
China + Wenige
Cuba ++ politisch implementiert
Indien Versuche
Indonesien Versuche
Israel ++++ Implementiert
Japan +++ politisch implementiert
Jordanien Versuche
Mexiko Versuche
Neuseeland + politisch implementiert
Japan +++ politisch implementiert
Palästina Versuche
Russland + Wenige
Serbien & Montenegro Versuche
Singapur + Wenige
[Grandori, 2004]
Grundsätzlich ist die Umsetzbarkeit von einem Gesundheitssystem auf das eines anderen Landes nicht gegeben. Es müssen Organisationsformen entwickelt werden, die an die jeweiligen Gegebenheiten der Gesundheitssysteme und an die länderspezifischen Strukturen adaptiert sind, damit die Effektivität dieser Maßnahme gewährleistet werden kann.
1.4 Kindliche Schwerhörigkeit
Prinzipiell unterscheidet man zwischen angeborenen (kongenitalen) und erworbenen Hörstörungen. Diese können in zwei Arten eingeteilt werden, zum einen in Funktionsstörungen der Schallübertragung (so genannte Schallleitungsschwerhörigkeiten),
12 zum anderen in Schallempfindungsschwerhörigkeiten. Schallleitungsschwerhörigkeiten weisen als Ursache eine Pathologie im Bereich des Gehörganges, des Trommelfelles und/oder des Mittelohres auf. Schallempfindungsschwerhörigkeiten werden durch Schäden im Bereich der Hörschnecke (cochleäre Hörstörungen) und des neuronalen Hörsystemes (retrochochleäre Hörstörungen) verursacht. Diese Arten der Hörstörungen können allein oder in Kombination miteinander auftreten. Die Einteilung der Schweregrade der Hörstörungen sind in Tabelle 1-3 dargestellt [Boenninghaus und Lenarz, 2005].
Tabelle 1-3: Einteilung von Schwerhörigkeit in verschiedene Grade
Schweregrade der Schwerhörigkeit Hörverlust
Normalhörigkeit < 20 dB
Geringgradige Schwerhörigkeit 20-40 dB Mittelgradige Schwerhörigkeit 40-60 dB Hochgradige Schwerhörigkeit 60-90 dB An Taubheit grenzend 90-110 dB
Taubheit >110 dB
[Probst et al., 2000]
Folgende Ursachen kommen für kindliche Hörstörungen bei den Schallleitungsschwerhörigkeiten in Frage: Veränderungen im Bereich der Ohrmuschel, Missbildungen des Gehörganges, Zerumen, Gehörgangsentzündungen, Veränderungen des Mittelohres im Sinne von Fehlbildungen, Mittelohrentzündungen, Mittelohrergüsse, Tumoren im Mittelohr und andere Veränderungen [Boenninghaus und Lenarz, 2005], wobei akute Mittelohrergüsse und/oder Entzündungen am häufigsten auftreten.
Bei Schallempfindungsschwerhörigkeiten sind folgende Ursachen möglich: Schädigungen der Cochlea durch ototoxische Substanzen, Infektionen, Meningititiden, Tumoren, Stoffwechselstörungen, genetischen Veränderungen und mechanische Defekte z.B. durch eine Felsenbeinfraktur. Die häufigste Ursache sind genetisch bedingte Schäden, die schätzungsweise 60% ausmachen [Biesalski und Frank, 1994; Dudenhausen und Gortner, 1998]. Bei den genetisch bedingten Ursachen kann die Schwerhörigkeit als einzelnes Symptom oder im Rahmen eines Syndroms auftreten [Brookhouser, 1996].
13 1.5 Folgen kindlicher Schwerhörigkeit
Das Zentralnervensystem des Kleinkindes weist neuronale Strukturen für den Spracherwerb auf, deren Ausreifung hochsensitiv an auditorische Reize gebunden sind.
Diese Entwicklungsphase ist zeitlich begrenzt und hat ihr Optimum zwischen dem 6. und 30. Lebensmonat [Biesalski und Frank, 1994]. Wird diese kritische Periode verpasst, verliert sich die Sensitivität gegenüber den auditiven Stimuli irreversibel. Die neuronale Plastizität des Nervensystems nimmt stark ab, die verpassten Entwicklungsschritte sind nur noch rudimentär nachzuholen. Aus diesem Grund ist es essentiell, das Hörsystem des schwerhörigen Kleinkindes so früh wie möglich durch akustische Reize aus der Umwelt zu fördern [Zenner, 1997; Ptok, 2004].
Bei einer frühkindlichen Hörstörung kommt es folglich zu einer Fehlentwicklung des auditiven Spracherwerbs, zur Störung der lautsprachlichen Kommunikation bis hin zur mangelhaften Entwicklung der abstrakten Intelligenz. Die auditiv nicht wahrgenommene Zuwendung der Mutter kann zusätzlich zu Auffälligkeiten im Verhalten führen.
Psychosoziale und emotionale Schwierigkeiten sind die Folge. Aufgrund der verspäteten Diagnostik kann auch das therapeutische Vorgehen nur verspätet einsetzen. Daraus entstehen Individuelle Nachteile im Hinblick auf Bildung und Berufsausbildung ebenso wie hohe volkswirtschaftliche Kosten zum Ausgleich dieser Chancenungleichheit [Schulze-Gattermann et al., 2003].
1.6 Fragestellung der Arbeit
Ziel dieser Arbeit ist die Untersuchung der Machbarkeit einer praktischen Durchführung des NHS. Aufgrund der ausgeprägten Interdisziplinarität bei der Behandlung von kindlichen Hörstörungen und deren Folgezuständen ist ein hoher Organisationsgrad notwendig. Dieser birgt in sich die erhebliche Gefahr von Fehlermöglichkeiten. Außerdem ist zu untersuchen, inwieweit die Einführung des NHS als solches und die kontinuierliche Unterhaltung des NHS unterschiedliche Qualitäten der Organisation abverlangt. Eine wesentliche Schlüsselfunktion nimmt der Messvorgang ein. Es gilt zu untersuchen, wo und wie gerade dort ein hohes Maß an Zuverlässigkeit eingeführt und gehalten werden kann.
Das abschließende Ziel besteht darin, anhand der vorliegenden Untersuchungsergebnisse einem Handbuch entsprechend eine systematische Einführung des NHS in Deutschland zu realisieren.
14
2 Material und Methode
Im Rahmen einer Machbarkeitsstudie im Großraum Hannover soll der Einsatz otoakustischer Emissionen unter Feldbedingungen für ein Neugeborenen-Hörscreening überprüft werden. Zusätzlich soll die Eignung von OAE für das Screening von Risikoneugeborenen unter den Bedingungen der Neonatalzentren und der Kinderkliniken untersucht werden. Zur Beurteilung der Effektivität in Bezug auf die therapeutische Konsequenz wurden die Ergebnisse der Zweit- und Folgeuntersuchungen zur definitiven Abklärung des Hörverlustes eines entdeckten Kindes miteinbezogen.
Diese evaluative Studie unter der Leitung der Medizinischen Hochschule Hannover und des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland erfolgt in formaler Abstimmung mit den Auftraggebern, dem Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung, den Landesverbänden der Krankenkassen Niedersachsens, der Niedersächsischen Krankenhausträger, der Kassenärztlichen Vereinigung Niedersachsens sowie mit den Spitzenverbänden der Gesetzlichen Krankenkassen auf Bundesebene.
Ein Hörscreening muss an die länderspezifischen Gegebenheiten des sozialen Systems angepasst sein. Weltweit gibt es eine Reihe verschiedenster Ansätze, ein Neugeborenen- Hörscreening zu organisieren. Relevante Faktoren für die Etablierung eines NHS sind die Bevölkerungsdichte, der Geburtsort, die Durchführung einer ambulanten oder stationären Geburt, die Klinikaufenthaltsdauer und die ethnische Zugehörigkeit. Aus den uns vorliegenden Daten und Parametern der Bundesrepublik Deutschland heraus wurde ein Konzept für ein NHS erarbeitet, welches sich an den verschiedenen Gegebenheiten orientiert. Um die Implementierbarkeit zu zeigen, wurde eine repräsentative Modellregion für die bundesdeutschen Verhältnisse gewählt. Die Modellregion umfasst die Stadt und den Landkreis Hannover.
Die im Großraum Hannover zu erwartende Geburtenzahl lag bei ca. 11.000 Geburten pro Jahr (niedersächsisches Landesamt für Statistik) [Lenarz et al., 2004]. Ziel der Studie ist die Erfassung möglichst aller Geburten unter Berücksichtigung aller Umstände, unter denen Neugeborene in Hannover zur Welt gebracht werden. Die Mehrzahl der Geburten verteilte sich auf insgesamt zehn geburtshilfliche Abteilungen. Neben Hauptabteilungen
15 handelt es sich hierbei auch um belegärztliche Abteilungen. Ein weiterer Ansatz erfasst Hausgeburten und ambulante Geburten (Abbildung 2-7).
Für die Bestimmung des Hörvermögens stehen prinzipiell verschiedene Meßmethoden zur Verfügung. Grundsätzlich muss unterschieden werden zwischen subjektiven Tests, bei denen das Hörvermögen aufgrund von Angaben oder Reflexen und Reaktionen des Untersuchten bestimmt wird und objektiven Tests, bei denen das Messergebnis auf aparativen Messungen von physiologischen Parametern beruht, welche ohne aktive Mitwirkung des Untersuchten bestimmt werden. Ein subjektiver Einfluss besteht in diesem Fall nur bei der Bewertung der Ergebnisse durch den Untersucher, falls keine automatisierte Auswertung vorliegt.
Subjektive Testverfahren haben eine geringere Spezifität [Lenarz et al., 1997b]. Beim Neugebornen sind die Reflexaudiometrie oder das Auslösen von Bewegungsreaktionen aufgrund von Reflexen, wie zum Beispiel dem Moro-Reflex gebräuchlich. Der Vorteil dieser Testmethode ist die einfache Durchführbarkeit ohne oder mit nur geringem technischem Aufwand. Dadurch sind diese Verfahren relativ kostengünstig. Als nachteilig zeigen sich die verschiedenen schwer kalkulierbaren Einflussfaktoren wie Aufmerksamkeit zum Testzeitpunkt, mögliche Behinderungen oder nicht korrekte Durchführung bzw. subjektive Bewertung durch den Untersucher. Aus diesem Gründen haben sich diese Testverfahren in der Praxis nicht bewährt.
An objektiven Verfahren stehen hauptsächlich zwei Methoden zur Verfügung: die Messung otoakustischer Emissionen (OAE) und früher akustisch evozierter Potentiale (FAEP).
Otoakustischer Emissionen (OAE):
Über eine Messsonde im äußeren Gehörgang wird ein Schallreiz gegeben. Dieser wird bis in das Innenohr weitergeleitet. Bei Funktionstüchtigkeit der äußeren Haarzellen generieren diese aktiv eine akustische Antwort – die sogenannten akustischen Emissionen –, die wiederum über ein Sondenmikrofon gemessen werden. Die Auswertung bei den Screeningeräten erfolgt automatisiert.
Diese otoakustischen Emissionen (OAE) sind bereits ab der 26. Schwangerschaftswoche und somit auch beim Neugebornen zu registrieren. Otoakustische Emission sind technisch nicht registrierbar bei Mittelohrerkrankungen, bei Veränderungen des
16 Gehörganges, durch Fruchtwasser im Gehörgang oder Mittelohr oder bei schlechtem Sondensitz. Obwohl für die Messung kein schallisolierter Raum benötig wird, erschweren Nebengeräusche den Test.
Am ersten und zweiten postnatalen Tag sind Emissionen in der Regel aufgrund von Fruchtwasser im Gehörgang nur sehr schwierig registrierbar. Abhängig von der Art des Stimulus handelt es sich um die Messung von transitorisch evozierten otoakustischen Emissionen (TEOAE) oder von Distorsionsprodukt-otoakustischen Emissionen (DPOAE). Bei den DPOAE werden zwei unterschiedliche Töne appliziert. Die TEOAE werden ab einem Hörverlsut von ca. 30-35 dB mit einer höheren Trennschärfe als die DPOAE pathologisch. Diese sind auch bei größeren Hörverlusten noch nachweisbar. Die Grenzen der Messung liegen bei den sehr seltenen Schäden, die zentral der Haarzellen liegen, wie etwa im Hörnerven oder den Hörbahnen. Hierbei können regelrechte Signale vorliegen. Ein Reiz wird dennoch nicht zum Gehirn weitergeleitet.
Frühe akustisch evozierter Potentiale (FAEP):
Bei den frühen akustisch evozierten Potentialen (FAEP) handelt es sich um elektrische Potentiale aus dem peripheren Anteil des neuralen Hörsystems, die sich über Elektroden von der Oberfläche des Kopfes ableiten lassen. Methodisch spricht man von der elektrischen Reaktionsaudiometrie (ERA), im speziellen bei den FAEP von der Hirnstammaudiometrie (BERA).
Nach akustischer Stimulation kommt es zur elektrischen Reizweiterleitung. Durch Mittelung dieser Aktionspotentiale wird das elektronisch gemittelte Ergebnis aufgezeichnet. Hieraus ergibt sich ein für die Hörbahn charakteristisches Potentialmuster, welches sowohl vom Untersucher erkannt wird oder - bei automatisierten Verfahren - von der Software der Geräte. Durch Veränderung des Stimulus Lautstärke lässt sich eine Hörschwellenbestimmung durchführen. Im Gegensatz zu otoakustischen Emissionen lassen sich Aussagen zu retrocochleären Strukturen treffen. Dadurch kann die sehr seltene perisynaptische Audiopathie / auditorische Neuropathie [Lesinski-Schiedat et al., 2001] ausgeschlossen werden. Die Methode wird durch ähnliche Störeinflüsse wie die OAE beeinträchtigt. Zusätzlich erschweren Bewegungsmuskelpotentiale und Reifungsverzögerungen die Messung.
17
© S .Stolle
2.1 Messmethode und Durchführung im Modellprojekt
Aufgrund der einfacheren und schnelleren Durchführbarkeit wurde in dem Modellprojekt die Messung von transistorisch evozierten otoakustischen Emissionen (TEOAE) mittels eines automatisierten Messgerätes der Firma Fischer Zoth verwendet [Meier et al., 2004].
Das Gerät verfügt über eine hohe Sensitivität von 100 % und über eine Spezifität von jeweils 95% (Tabelle 2-1).
Tabelle 2-1: Sensitivität und Spezifität von OAE
Autoren Sensitivität Spezifität
Lenarz et al., 1997 100 % 94,4 % Salamy et al. 1996 100 % 67 % Guo et al., 1996
95 % 90 %
Plinkert et al., 1990 91 % 90 %
[Lenarz, Reuter, Hemmanouil, Schäfer, Schorn und Baumann, 1997b; Plinkert et al., 1990; Salamy et al., 1996; Guo und Yao, 1996]
Abbildung 2-1: Schlafendes Zwillingspaar bei der TEOAE Messung
Das Kind sollte idealerweise schlafend gemessen werden. Dies ist in der Regel nachts oder postprandial möglich. In einer akustisch ruhigen Umgebung dauert die einzelne Messung jeweils nur wenige Minuten, abhängig von der Anzahl der Störeinflüsse, auch länger. Das Messergebnis wird automatisch berechnet. Es wurde festgestellt, dass
18 Idealerweise die Messung zwischen dem zweiten und dritten Tag nach der Geburt erfolgt [Reuter et al., 2002]. Falls kein regelrechter Befund erhoben werden kann, ist direkt eine Wiederholungsmessung anzuschließen. Ziel ist eine deutliche Senkung der Rate auffälliger Kinder, die keiner weiteren Abklärung zugeführt werden müssen, zu erreichen. Eine Verunreinigung der Sondenspitze mit Fruchtwasser oder Käseschmiere muss von dem Untersucher berücksichtigt werden, so dass die Technik der Reinigung bekannt sein muss (Abbildung 2-3).
Abbildung 2-2: OAE Screening Gerät im Transportkoffer
Abbildung 2-3: Schema Sondenspitze Echoscreen, Querschnitt [Lodwig, 2004]
Lautsprecher
Mikrophon akustischer Filter
tauschbare Spitzen Ohrpassstück
Adapter f. Sondenspitze Sonde
Meßgerät
Ersatzakku Ladegerät Netzteil
Adapter f. Sondenspitze Sonde
Meßgerät
Ersatzakku Ladegerät Netzteil Sonde
Meßgerät
Ersatzakku Ladegerät Netzteil
Ohrpassstücke f. Sondenspitze
© S .Stolle
19
„pass“
Mittelohrschwerhörigkeit ?
progrediente Innenohrschwerhörigkeit ? normalhörig
progrediente Innenohrschwerhörigkeit
normalhörig
„fail“
Abklärungskette
Hörstörung
Therapie progrediente
Innenohrschwerhörigkeit
normalhörig
„fail“
Abklärungskette
Hörstörung
Therapie
Die Bedienung gestaltet sich sehr anwenderfreundlich und ermöglicht eine intuitive Benutzung. Es ist keine komplexe Auswertung durch den Nutzer erforderlich, sondern das Ergebnis wird in Form eines Textes „PASS“ oder „FAIL“ sowie durch eine rote bzw.
grüne Leuchtdiode wiedergegeben. Dieses Ergebnis bedarf jedoch einer Bewertung, es handelt sich um eine Momentaufnahme und zeigt nicht die weitere Entwicklung des Hörvermögens auf (Abbildung 2-4).
Bedeutung von „pass“ Bedeutung von „fail“
Abbildung 2-4: Bewertung der Messung durch das Screening-Gerät
Aufgrund der Komplexität des Gesamtablaufs wurde vom Projekt eine Person als
„Einweiser“ ausgewiesen. Diese ist verantwortlich dafür, die Methode inhaltlich sowie praktisch an das Screeningpersonal vor Ort weiterzugeben.
2.2 Ablauf des Neugeborenen-Hörscreenings
Die mehrstufig angelegte Machbarkeitsstudie hat alle potentiell möglichen Lebenssituationen und Aufenthaltsorte des Neugeborenen zu berücksichtigen, um eine hohe Erfassungsquote zu erreichen. Der Ablauf orientiert sich an der Zielgröße, möglichst alle hörauffälligen Kinder zu erfassen und einer rechtzeitigen Therapieeinleitung zuzuführen. Dies bedeutet, dass auf die im Screening festgestellte Hörminderung die Feststellung einer endgültigen Diagnose in den ersten Lebenswochen folgen muss. Ab dem zweiten Lebensmonat sollte die Frühförderung und Hörgeräteversorgung beginnen. Eine operative Therapie kann bis zum sechsten Lebensmonat abgeschlossen sein (Abbildung 2-5).
20 1. Die große Mehrheit der Neugeborenen verbleibt für drei bis vier Tage nach der Geburt in der eigentlichen Geburtsklinik. Hier erfolgt das NHS.
2. Alle Neugeborenen, die die Klinik innerhalb von 24 Stunden nach der Geburt verlassen, werden unter dem Begriff „Ambulante Geburt“ geführt. Falls eine erfolgreiche Messung in der Klinik nicht möglich ist, werden die Eltern über die Möglichkeit des NHS bei einem niedergelassenen HNO-Arzt informiert (Abbildung 2-6).
3. Sogenannte Risikokinder oder Kinder mit schwerwiegenden Erkrankungen werden nach der Geburt auf Neonatalabteilungen / -stationen behandelt. Diese meist intensiv- medizinischen Behandlungen dauern in der Regel länger als nur drei Tage.
4. Eltern von Hausgeburten werden durch die Hebammen auf das NHS aufmerksam gemacht. Sie können dann, vergleichbar einer ambulanten Geburt, die NHS-Messungen beim HNO-Arzt vornehmen lassen.
Abbildung 2-5: Ablauf des NHS unter Berücksichtigung der vorgegebenen Zeitfenster.
In der Praxis des niedergelassenen
HNO-Arztes
In der Geburtsklinik Kind hört
alles in Ordnung
Kind hört alles in Ordnung
Kind hört alles in Ordnung
Kind hört alles in Ordnung Ausschluß einer Hörstörung
Versorgung mit Hörhilfe oder
Hörimplantat Verdacht der Hörstörung
bestätigt Abklärungsdiagnostik
Kind hört nicht Untersuchung innerhalb von 4 Wochen
bei niedergelassenem HNO-Arzt wiederholen
Kind hört nicht Untersuchung
wiederholen Kind hört nicht Hörtest mittels OAE am 2-3 Lebenstag in der Klinik
innerhalb v. 3 Monaten innerhalb v. 4 Wochen innerhalb v. 10 Tagen
innerhalb v. 6 Monaten
21 Falls ein auffälliges Ergebnis festgestellt wird, sollte das Neugeborene zunächst einer Kontrollmessung unterzogen werden. Bei erneuter Auffälligkeit ist es zur weiterführenden audiologischen Diagnostik an einen HNO-Facharzt weiterzuleiten.
Abbildung 2-6: Primäre Abklärungswege des NHS Modellprojekte
Abbildung 2-7: Darstellung aller möglicher Abklärungswege des Modellprojektes
22 Alle Teilnehmer bzw. Mitarbeiter innerhalb des Modellprojektes wurden zunächst in die Thematik inhaltlich eingeführt und dann in mehreren individuellen Terminen methodisch und technisch geschult. Die Schulung erfolgte durch einen Arzt in der HNO- Facharzt- Weiterbildung, der in der HNO-Klinik als Assistenzarzt mehrere Berufsjahre Erfahrung – auch in den audiologischen Messungen – aufzuweisen hat.
Für alle beteiligten Institutionen wurden Informationsmaterialen zur Weitergabe an das Personal und die Eltern entwickelt (siehe Anhang 6.2). Das Material für das medizinische Personal umfasst Erläuterungen zu der Problematik von Hörstörungen als auch Erläuterungen zu der Messmethodik und eine schriftliche Einverständniserklärung für die Eltern.
Das Informationsmaterial für die Eltern (in 13 Sprachen verfügbar) umfasst eine allgemeine Information hinsichtlich der Bedeutung von Hörstörungen und des NHS, der Möglichkeiten zur Durchführung und eine Liste qualifizierter HNO-ärztlicher Ansprechpartner (Kapitel 6.2.3).
Die standardisierte Dokumentation ist sowohl von den Kliniken als auch von den HNO- Ärzten an die Screeningzentrale weiterzuleiten. Die Dokumentationen werden einer klinischen, praktischen und untersucherbezogenen Analyse unterzogen. Veränderungen in der Erfassungsquote sollen rechtzeitig detektiert und einer Fehleranalyse und Vermeidungsstrategie zugeführt werden.
2.2.1 Geburtskliniken
Alle geburtshilflichen Klinken der Modellregion beteiligten sich am Projekt (vgl. Tabelle 2-2). Eine Klinik, die Sophienklinik schied im Laufe des Projektes aufgrund der Auflösung der gynäkologischen Abteilung aus.
Die theoretische und methodisch-technische Einführung in den verschiedenen Kliniken erfolgte stets schrittweise durch einen qualifizierten Arzt. Die Kliniken legten den internen Organisationsablauf des Screenings fest und wurden beraten aus der Erfahrung der Screeningzentrale. Die Dokumentation musste und muss eine dauerhafte Information für das Individuum haben (Abbildung 2-8), eine Erfasung in der Screeningzentrale gewährleisten und die erforderliche Dokumentation der einzelenen Geburtskliniken
23 sicherstellen. Dieses erforderte in allen Kliniken einen erheblichen Zeitaufwand, da unterschiedliche organisatorische und inhaltliche Konsequenzen aus den abgelegten Daten resultierten.
Der im Projekt entwickelte Ablauf sah vor, dass die Kinder in den Geburtskliniken durch die auf den Neugeborenenstationen tätigen Krankenschwestern spätestens 48 Stunden nach der Geburt zum ersten Mal auf ihre Hörfähigkeit überprüft wurden. Konnten bei einer Erstmessung keine bzw. nicht auf beiden Ohren otoakustische Emissionen gemessen werden, erfolgte am nächsten Tag ein Wiederholungstest. Bei negativem Befund wurde vor Entlassung des Kindes ein weiterer Test durchgeführt.
Abbildung 2-8: Vorsorgeheft
Die Resultate der Messung wurden sowohl im Vorsorgeheft, als auch im Geburtenbuch der jeweiligen Klinik dokumentiert. Außerdem erfolgte auf standardisierten Dokumentationsbögen eine Meldung des Screeningergebnisses an die zentrale Erfassungsstelle des Projektes. Bei wiederholt nicht messbaren TEOAE oder aus organisatorischen Gründen nicht erfolgter Messung wurde eine Testung außerhalb der Geburtskliniken durch HNO-Ärzte oder Pädaudiologen empfohlen.
Stempel für TEOAE- Untersuchung
24 Die Krankenschwestern mussten in der Lage sein, auf Fragen der Eltern informiert und kompetent zu antworten. Die aufgeklärten Eltern sollten bei kontrollbedürftigem Ergebnis die entsprechenden Informationsmaterialien erhalten (siehe Anhang: 6.2.2 Elterninformation 2 bei auffälligem Befund, 6.2.3 Liste qualifizierter HNO-Ärzte). Der Stationsarzt war zu informieren und sollte ebenso die Eltern auf die nötige Abklärung hinweisen. Diese ärztliche Information resultierte aus der Notwendigkeit die bekannten Messungenauigkeiten den Eltern zu erläutern, aber auch mit Nachdruck die HNO- ärztliche Kontrollmessung anzubahnen bzw. anzumahnen.
Die erste Zeit, in der die Kliniken Messungen vornahmen, war als eine Art Probebetrieb zu werten. Als Eintrittsvoraussetzung in die Routinephase musste eine qualifizierte Routine beim Messen und Dokumentieren gegeben sein. Eine systematische, theoretische und praktische Einführung mit ggf. einer oder mehreren Nachschulungen war Voraussetzung. Für das Modellprojekt wurde eine erfolgreiche Implementierung mit einer Mindesterfassungsquote von 95% festgesetzt. Diese Quote gab Aufschluss über die Anzahl der in der Klinik gemessenen Kinder im Verhältnis zu den dort erreichbaren Kindern. Als erreichbar galten alle Kinder, die mehr als einen Tag anwesend waren. Falls diese Mindestanforderungen nicht erfüllt waren, erfolgte eine Analyse der Ursache gemeinsam durch die Screeningzentrale und die Geburtskliniken.
25
Tabelle 2-2: Am Modellprojekt Hannover beteiligte Kliniken
Name (Kürzel) Träger Versorgungsstufe,
Gesamtbettenzahl
Bettenzahl für Neugeboren
e
Geburten pro Jahr
Gynäkologie- Abteilung
Klinikum Hannover, Krankenhaus Nordstadt, Frauenklinik (LK,N)
Stadt Hannover Maximal, 624, Frauenklinik 92
33 1.500 eigene Abteilung
Klinikum Hannover, Krankenhaus Oststadt (KH,Osts.)
Stadt Hannover Maximal, 500 (Klinikum Hannover insgesamt 2.500)
31 1.150 eigene Abteilung
Friederikenstift (FS) frei-gemeinnütziger Träger
Regel, 635 26 1.450 eigene Abteilung
Neu Bethesda, Henriettenstiftung (NB,H)
Henriettenstiftung, frei-gemeinnütziger Träger
Regel, 538 34 1.600 eigene Abteilung
Vinzenzkrankenhaus (VK) frei-gemeinnütziger Träger
Regel, 383 21 1.150 eigene Abteilung
Sophienklinik (SK,V) Privatklinik, GmbH Grund, 154, Frauenklinik 35 5 250
Kinderkrankenhaus auf der Bult Maximal, 295 16 / Kinderheilkunde
MHH Zentrum für Kinderheilkunde und Humangenetik
Land Niedersachsen Maximal, 200 (MHH 1.300) 7 / Kinderheilkunde
Robert-Koch-Krankenhaus
(RKK, G)
Landkreis Hannover Regel, 336 22 1.250 eigene Abteilung Paracelsus-Klinik (PK,L) Paracelsus-Klinik
GmbH Deutschland
Grund, 130 14 800 Belegärzte
Kreiskrankenhaus Großburgwedel (KK,G)
Landkreis Hannover Regel, 284 19 700 eigene Abteilung
Kreiskrankenhaus Neustadt (KK,N)
Landkreis Hannover Regel, 374 20/8 900 Kinderheilkunde
und eigene Gynäkologie- Abteilung
2.2.2 Neonatalabteilungen
Risikokinder weisen ein um den Faktor 10 höheres Risiko für das Vorhandensein einer Hörstörung auf [Finckh-Krämer, Spormann-Lagodzinski, Nubel, Hess und Gross, 1998;
Hartmann und Hartmann, 1998; van Straaten und Groote, 1996; van Straaten et al., 2001;
Wedel et al., 1988].
Der Untersuchungsablauf in den Kinderkliniken im Großraum Hannover unterschied sich deutlich vom Ablauf in den geburtshilflichen Kliniken. Besonderheiten waren die sehr jungen und kleinen Kinder, das Vorliegen von erheblichen Erkrankungen und/oder
26 Missbildungen (insbesondere von kranialen) der Kinder und die Umgebungsvariablen, die eine Messung deutlich erschwerten. Außerdem ließen andere oft lebensbedrohliche Zustände bei den Risikokindern die Überprüfung der Hörfähigkeit nachrangig erscheinen.
Die Kinder verweilten erfahrungsgemäß in diesen intensivmedizinischen Einrichtungen erheblich länger als die Kinder in den geburtshilflichen Abteilungen. Die Aufenthaltsdauer variierte von Tagen bis Monaten. Ein idealer Messzeitpunkt ließ sich hier kaum festlegen. Dieser sollte aber im Idealfall wenige Tage vor dem voraussichtlichen Entlassungstermin liegen. Hierdurch werden in den Neonatalabteilungen neben den pränatal erworbene Hörstörung auch postnatale Hörstörungen in Folge von schwerwiegenden Erkrankungen und deren Therapie erkannt (progrediente cochleäre, ototoxisch erworbene etc.) [Sun et al., 2003]. Neben den individuellen körperlichen Hindernissen führten intensivmedizinische Maßnahmen wie zum Beispiel Beatmungsmaschinen zu erheblichem Störlärm. Dieser ließ eine regelrechte Messung nicht zu. Organisationsformen zur Sicherung des Screenings auch nach drei Tagen mussten festgelegt werden.
Aufgrund der Komplexität der Organisationsstruktur dieser Neonatalabteilungen (Kinderklinik der MHH und Kinderkrankenhaus auf der Bult) und deren Wünschen zur Organisationsform wurde die Screening-Messung nicht generell dem Pflegepersonal als ganzes zugeordnet (vergleichbar mit dem Vorgehen an den Geburtskliniken). In der MHH entschied man sich für die Verantwortlichkeit einer einzigen Pflegekraft. Im Kinderkrankenhaus auf der Bult wo sich die Kinderkrankenschwestern weigerten, die Messung durch zu führen war das ärztliche Personal verantwortlich. Prinzipiell ist durch das Modellprojekt eine Bestimmung nur einer Person nicht vorgesehen. Leider konnte eine gesicherte Vertreterlösung in den einbezogenen Neonatalabteilungen nicht realisiert werden.
2.2.3 HNO-Praxen
Die HNO-Ärzte hatten und haben eine Doppelrolle im NHS. Zum einen waren sie zunächst verantwortlich für die Erstscreeninguntersuchungen, zum anderen für die Abklärung screeningauffälliger Kinder.
Es wurde darauf geachtet, den Eltern flächendeckend und wohnortnah einen HNO-Arzt zur weiteren Betreuung zur Verfügung zu stellen. Eine beteiligte Praxis sollte für die Eltern so einfach wie möglich zu erreichen sein. Damit erhoffte man eine möglichst hohe
27 Abklärungsrate zu bekommen. Eine weitere Aufgabe war es, im Hörscreening auffällig gewordene Kinder, weiter zu untersuchen. Im Vorfeld des Projektes wurde im Rahmen von Fortbildungsveranstaltungen des Berufsverbandes der Hals-Nasen-Ohren-Ärzte das Neugeborenen-Hörscreening vorgestellt. Allen HNO-Fachärzten wurde eine enge Kooperation mit namentlicher Nennung im Informationsmaterial für Eltern und Kliniken angeboten. 24 Ärzte haben sich dafür entschieden.
Eine vorbereitende Fortbildungsmaßnahme für HNO-Ärzte in der Medizinischen Hochschule Hannover stellte die Grundlage für eine Zertifizierung zum „Speziell qualifizierten HNO-Arzt im NHS“ dar. Alle niedergelassenen HNO-Ärzte der Modellregion wurden zum 6. September 2000 zu einer dreistündigen Qualifikationsveranstaltung eingeladen. Als Vorraussetzung zur Teilnahme wurde der Zugriff auf Geräte zur Messung von TEOAE und BERA postuliert. An einer dieser Qualifizierungsveranstaltungen nahmen von den 60 eingeladenen HNO-Ärzten der Region 30 Ärzte teil. Schließlich beteiligten sich 20 HNO-Praxen an dem Projekt; die übrigen vier Praxen konnten bei fehlender Messmethodik nicht teilnehmen. Folgende Qualitätskriterien wurden im Modellprojekt definiert, die gleichzeitig als Einschlusskriterium für das Modellprojekt galten:
• Kurzfristige Terminvergabe, keine Wartezeiten
• Eine ausführliche Hördiagnostik bei Kindern muss möglich sein
• Erfahrung mit Neugeborenen muss vorhanden sein
• Ein Gerät zur Messung von TEOAE muss vorhanden sein (mit Baby-Sonde)
• Ein Gerät zur Hirnstammaudiometrie muss vorhanden sein (BERA)
Vorraussetzung zur Teilnahme am Modellprojekt waren die Teilnahme an der Fortbildung und die Besuche des Arztes aus der Screeningszentrale in den HNO-Praxen.
Die Besuche zielten sowohl auf die technischen und personellen Voraussetzungen in der jeweiligen Praxis als auch auf die Schulung der Arzthelferinnen – vergleichbar mit den Schulungen in den Kliniken. Die Verantwortlichkeit, Dokumentation und Information an die Eltern musste – vergleichbar mit den Geburtskliniken – erfüllt sein.
Im Anschluss wurde bei einem Gespräch mit dem Praxisinhaber der Ablauf unter Berücksichtigung spezieller Fragen, insbesondere zeitlicher Anforderungen besprochen und ein Protokoll erstellt. Dort wurden die notwendigen Geräte inventarisiert und ein
28 praxisspezifisches Ablaufschemata festgelegt. Die qualitätssichernden Folgemaßnahmen sind vergleichbar mit denen der Geburtskliniken.
Abbildung 2-9: Ablaufschema zur Untersuchung frühkindlicher Hörstörungen in der HNO-Praxis nicht in Ordnung
Terminvergabe innerhalb
von drei Tagen zu Ruhephasen des
Kindes
Patientenaufnahme in der Praxis und Information
der Eltern über die Studie
Tympanometrie
Messung der TOAE
sofortiger Arztkontakt Ohrmikroskopie, Gehörgangsinspektion, Reinigung, Tympanometrie
ggf. Kontrolltermin
Arztkontakt Ohrmikroskopie, Gehörgangsinspektion, Reinigung, Tympanometrie
TOAE auffällig TOAE unauffällig
Ausfüllen des Befund- bogens und Weiterleitung
zur Studie, Eintrag in Vorsorgebuch
TOAE wieder auffällig Arztkontakt TOAE-Kontrolle
Schwellen-ERA
unauffällig Schwellen-ERA
Schwellen-ERA auffällig Arztkontakt mit Diagnoseerstellung und
Weiterleitung an die MHH
29 2.3 Ergänzende Maßnahmen zum Modellprojekt
Das Modellprojekt fokussierte auf die Qualität und Quantität der Erfassung in Kliniken.
Außerhalb der Klinik wurde eine geringe Zahl von Hausgeburten absolviert. In einem allgemeinen, alle Neugeborenen erfassenden Screening mussten aber die Hausgeburten auch erfasst sein. Durch Einbeziehung der Hebammen und Kinderärzte erschien dies möglich (Abbildung 2-10).
Abbildung 2-10: ergänzenden Maßnahmen zu den Abklärungswegen des NHS-Modellprojektes
2.3.1 Hebammen
Die 135 Hebammen der Region Hannover (90 freiberuflich tätig, 45 in den Kliniken) wurden schriftlich über das NHS informiert. Hier wurde sowohl auf die Homepage des Modellprojektes verwiesen als auch auf die Möglichkeit der Information auf den bereits organisierten Fortbildungsveranstaltungen der Hebammen und Fachzeitschriften hingewiesen. Die Fortbildung über das NHS auf den Hebammen- Fortbildungsveranstaltungen wurde realisiert durch den an der MHH und der Screeningzentrale angebundenen Arzt und durch die Abteilung der Epidemiologie und Gesundheitssystemforschung der MHH.
30 2.3.2 Kinderärzte
Alle Kinderärzte der Region Hannover wurden mehrfach zu Informationsveranstaltungen und Kongressen eingeladen. Es wurde über das Modellprojekt berichtet, die Notwendigkeit erklärt und der theoretische und praktische Hintergrund aufgezeigt. Über die Eintragung des NHS im „gelben Vorsorgeheft“ (Abbildung 2-8) war der Kinderarzt informiert und inhaltlich mit dem NHS verbunden. Falls sich Diskrepanzen zum pädiatrischen Untersuchungsbefund oder den Verlaufsbeobachtungen der Eltern [Stolle et al., 2005] zeigten, leiteten die Kinderärzte die betroffenen Kinder wieder dem Screening und/oder der Abklärungskaskade zu.
2.4 Abklärung
In der Klinik und Poliklinik für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde und der Klinik und Poliklinik für Phoniatrie und Pädaudiologie der MHH Hannover erfolgte die Abklärungsdiagnostik. Dieser Diagnostik wurden zugeführt:
• Kinder zur Erstmessung (selten)
• Neugeborene mit auffälligem Befund aus den Geburtskliniken
• Auffällige Neugeborene überwiesen von HNO-Ärzten
Bei der letzten Gruppe bestand schon ein erhärteter Verdacht auf eine Hörstörung.
Die Abklärung beinhaltete eine automatisierte und nach ungenügender Messung eine manuelle (zum Beispiel ILO88) TEOAE-Messung, eine Tympanometrie und bei weiterhin auffälligem Befund eine BERA zur Schwellenbestimmung. Eingeschlossen war eine HNO-ärztliche Anamneseerhebung inklusive Familienanamnese und Untersuchung.
Sofern die Compliance des Kindes eine postprandiale BERA nicht zuließ, war eine komplette audiologische Untersuchung in Vollnarkose, ggf. mit Durchführung einer Bildgebung (CT oder MRT) erforderlich.
31
Abbildung 2-11: Abklärungsdiagnostik in Narkose mit TEOAE, BERA Kombinationsgerät (als Ergänzung)
Bei der Narkoseuntersuchung konnte zusätzlich eine Nasen-Rachenuntersuchung mit ggf.
folgender Adenotomie und Ohrinspektion, ggf. mit folgender Paracentese angeschlossen werden. Die prä- und postoperative Aufklärung erfolgte durch den HNO-Arzt.
Abbildung 2-12 zeigte die komplexen Ergebnisse von OAE und Hirnstammaudiometrie- Messungen. Ziel dieser Abklärungsdiagnostik war die Hörschwellenbestimmung, möglichst frequenzabhängig, und die Lokalisation der Hörstörung.
links: negative DPOAE mitte: regelrechte DPOAE rechts: BERA Befund
Abbildung 2-12: graphische Darstellung von verschiedenen regelrechten und pathologischen BERA/DPOAE Ergebnissen
32 2.5 Konsequenz des Neugeborenen-Hörscreenings
Ein Hörverlust von mehr als 30 dB, einseitig wie beidseitig, muss therapiert werden [Boenninghaus und Lenarz, 2005]. Bei leicht bis mittelgradigen Schallempfindungs- schwerhörigkeiten kommen Hörgeräte zum Einsatz (Abbildung 2-13), bei hochgradigem Hörverlust ist letztlich ein Cochlea-Implantat (CI) indiziert. Das zeitliche Vorgehen bei einem hochgradigen Hörverlust wird bestimmt durch die Zuverlässigkeit der Diagnostik, das Lebensalter des Patienten und die Vorstellungen der Eltern aufgrund der individuellen Erfahrung der Hörentwicklung des Kindes [Lesinski-Schiedat et al., 2004].
Zeitgleich mit der Hörgeräteversorgung wird eine auditive Frühförderung begonnen. Die Verlaufskontrolle der Hörgeräteversorgung erfolgt über den sonderpädagogischen Frühförderer, Pädakustiker und den HNO-Facharzt und seine Überprüfung des subjektiven Hörvermögens des Kleinkindes mit und ohne Hörgerät (Abbildung 2-14) Die Qualitätssicherung mit dem CI ist ausgerichtet an den Leitlinien der CI-Versorgung [Boenninghaus und Lenarz, 2005].
Abbildung 2-13: Orientierende Hörprüfung Hörgeräteverordnung
33 2.6 Die Screeningzentrale
Die Screeningzentrale war verantwortlich für die Aufrechterhaltung und Qualität der Screeningtätigkeit.
Deren primäre Aufgabe lag in der Erfassung der Daten dar (so genanntes Monitoring) und der passive Nachverfolgung (so genanntes Tracking) der betroffenen Kinder.
Zur Qualitätssicherung gehörte außerdem die Problembewältigung (so genanntes troubleshooting).
Die Screeningzentrale sorgte für eine Telefonhotline, die von geschulten Mitarbeitern der Abteilung für Epidemiologie und Gesundheitssystemforschung besetzt wurde. Bei auftretenden Problemen konnten sich die Kliniken telefonisch an die Screeningzentrale wenden. Einfache Schwierigkeiten wurden sofort telefonisch gelöst. Bei komplexeren Problemstellungen erfolgte der Einsatz eines ärztlichen Mitarbeiters der HNO-Klinik. Zu den Aufgaben der Screeningzentrale gehörte darüber hinaus die Bereitstellung von Dokumentationsmaterial, ggf. eines Ersatzgerätes und die digitale Verarbeitung und Analyse der Daten. Aufgrund der analysierten Daten und ihrer Häufigkeit sowie des Inhalts der telefonischen Anfragen konnten der Kontroll- und Schulungsbedarf der einzelnen Kliniken abgeschätzt werden.
2.6.1 Monitoring
Zur Überprüfung und Aufrechterhaltung der Qualität der Messungen war eine lückenlose Dokumentation und Analyse der gesammelten Daten notwendig.
Ziele des Monitorings waren:
• Erreichung der kontinuierlichen Machbarkeit
• Erreichung einer geringen Fehlerquote
• Stärkung der Eigenverantwortlichkeit
Die notwendige Qualitätssicherung wurde gewährleistet unter anderem durch Dokumentationsbögen, Vorortbesuche und Befragungen. Anhand der vorgegebenen Dokumentation in den Kliniken und HNO-Praxen konnten die Messaktivitäten verfolgt werden. Diese Bögen standen und stehen in drei Versionen bereit: für die Kliniken mit Regelgeburten, für die Neonatalabteilungen, bei denen weitere Messverfahren zum Einsatz kamen, und für die HNO-Praxen sowie Abklärungsinstitutionen, in der die
34 Abklärungsdiagnostik festgehalten wurde. Das Monitoring orientierte sich an der Auswertung der Daten aus den Dokumentationsbögen.
Zur Sicherung der Ergebnisqualität dienten folgende Punkte als Indikatoren:
• Ablehnungsquote
• Erfassungsquote
• Rate der Wiederholungsuntersuchungen
• Rate der Verdachtsbefunde
Die Häufigkeit der Vorortbesuche resultierte aus der Anzahl der Rückfragen an die Screeningzentrale und insbesondere aus der Messquote der zu erfassenden Kinder. Falls besondere Abweichungen vom Durchschnitt der auffälligen Raten der Kinder registriert wurden, erfolgte ebenfalls eine Überprüfung, ob methodische Fehler ursächlich waren.
Bei den Auswertungen erfolgten nicht nur krankenhausspezifisch, sondern auch untersucherspezifisch. Voraussetzung hierfür war, dass jeder Untersucher sich selbst in der Dokumentation der Untersuchung mit einer individuellen Kodierung registrierte.
Hierdurch konnten Lücken personenspezifisch aufgedeckt und mittels besonders punktgenaue Schulung geschlossen werden.
Die qualitätssichernden Maßnahmen in den Kliniken respektive HNO-Praxen zielten auf folgende Gesichtspunkte:
• Pflegekonzept und Organisation des Kinderzimmers
• Pflegerische Verantwortlichkeit
• Ärztliche Verantwortlichkeit
• Organisation des Screenings
• Organisation der Dokumentation
• Umgang mit dem Screeninggerät
Die standardisierte und überwachte Dokumentation (Anhang 6.2.7 bis 6.2.10) war eine der wesentlichen Voraussetzungen für die qualitätsgesicherte Durchführung des Neugeborenen-Hörscreenings.
35 2.6.2 Tracking
Auf des Neugeborenen-Hörscreenings folgte zwingend die Nachverfolgung (Tracking) der betroffenen Kinder. Dieses war und ist eine wesentliches Element des NHS und die zweite Hauptaufgabe einer potentiellen Screeningzentrale [Delb et al., 2004]. Dieses bedeutet, dass die Eltern von der Screeningzentrale schriftlich aufgefordert werden, dem Anfangsverdacht nachzugehen, eine Abklärungsdiagnostik durchführen zu lassen und die möglichen therapeutischen Konsequenzen in Anspruch zu nehmen.
36
3 Ergebnisse
Die Einführung des NHS erfolgte schrittweise in alle Kliniken. Beteiligt wurden in der thematischen Einführung neben der HNO-Klinik auch die Epidemiologie, die im wesentlichen die Funktion einer später zu initiierenden Screeningzentrale übernahm.
Abhängig von der internen Klinikorganisation und der Größe der Kliniken konnte auf die thematische die organisatorische Einführung unmittelbar folgen, so dass der Zeitraum bis zur abgeschlossenen Einführung aller beteiligten Kliniken nach ca. sechs Monaten erreicht wurde (Abbildung 3-1).
In den einzelnen Kliniken wurde mit einer Testphase begonnen, die bei Überschreiten einer durch das Projekt vorgegebenen Erfassungsrate von 95% beendet war. Ab diesem Zeitpunkt befand sich die Klinik im Routinebetrieb. Im Durchschnitt betrug die Testphase drei Monate (1 Tag bis 197 Tage), abhängig von Faktoren wie der Größe der Klinik, der Bettenzahl, des Personalschlüssels und der Personalstrukturorganisation. In diesem Zusammenhang musste bei einer hohen Zahl von Mitarbeitern an strukturelle Maßnahmen gedacht werden wie: Rotation, Schichtwechsel, dauerhafter Arbeitsplatzwechsel, unterschiedliche inhaltliche und persönliche Interessenlagen in Bezug auf die ernsthafte Akzeptanz der Notwendigkeit. Diese Einflussfaktoren zwangen dazu, regelmäßige Wiederholungen in engem zeitlichen Abstand als Schulungstermin anzubieten. Da einige Kliniken praktisch keine Testphase benötigten, wurde die Entscheidung bezüglich dieser wiederholten Schulungen individuell nach Beginn der Einführung für jede Klinik getroffen. Ab März 2001 befanden sich alle Kliniken im Routinebetrieb.
In Abbildung 3-1 ist die Gesamterfassungsquote der Kliniken nach Abzug der ambulanten Patienten dargestellt. Nach sechs Monaten konnte im Mittel 95% der Neugeborenen erfasst werden, im Jahr 2001 96,4% und im Jahr 2002 97,1%.
37
Abbildung 3-1: Erfassungsquote gescreenter Kinder nach Klinikgeburten über den Projektzeitraum [Lenarz, Reuter, Buser und Altenhofen, 2004]
Zur Bestimmung der prozentualen Erfassungsquoten lagen verschiedene Basiszahlen zu Grunde. Zunächst basierten die Angaben in den Geburtskliniken und Neonatalabteilungen auf Geburten-Selbstangaben, sowie auf den Eintragungen des Niedersächsischen Landesamtes für Statistik (NLS). Hausgeburten wurden nicht systematisch von den Hebammen erfasst. Das NLS bezog sich auf die Meldungen an das Einwohnermeldeamt.
Hierbei waren, aufgrund oben genannter Problematik, Abweichungen zu verzeichnen.
Abbildung 3-2: Screeniguntesuchungen der Modellregion anhand der Geburtenbücher (Juli 2000 – Dezember 2002) ohne Hausgeburten [Lenarz, Reuter, Buser und Altenhofen, 2004]
Anzahl der Lebendgeborenen N=21.900
Mögliche Messungen N=17.375
Verlegte N=1.800
Abgelehnte N=247
Gemessene in den Geburtskliniken
N=16.251
Gemessene in den Kinderkliniken
N=1.669 Erstmessungen in den
HNO-Praxen N=1.783 Ambulante Geburten (Klinik)
N=2.478 (21,4%)
Stationäre Geburten N=19.422 (88,6%)
Insgesamt Gemessene N=19.703
in Prozent
75 80 85 90 95 100
Sep 00 Nov 00
Jan 01 Mrz 01
Mai 01 Jul 01
Sep 01 Nov 01
Jan 02 Mrz 02
Mai 02 Jul 02
Sep 02
Nov 02 [t]
38 Basierend auf den Daten der Kliniken, wurden in dem Modellzeitraum (N=21900) Geburten registriert. Im gleichen Zeitraum erfolgten zusätzlich 437 Hausgeburten. Bei dem überwiegenden Teil von 19422 (88,6%) Geburten handelte es sich um stationäre Geburten.
Mit 16251 (82,5%) Geburten konnte der größte Teil in den Geburtskliniken gemessen werden. Vor der Messung wurden 1800 (9,3%) Kinder verlegt, bei 247 Kindern (1,2%) wurde die Messung von den Eltern abgelehnt. Somit hätten 17.375 Kinder in den Kliniken untersucht werden können. Tatsächlich wurden aber nur 16.251 Untersuchungen vorgenommen, was einer Gesamterfassungsquote von 93,5% für die in der Klinik messbaren Geborenen entspricht.
Bei 2478 (11,3%) Geburten konnte in den Kliniken keine Messung durchgeführt werden, da es sich entweder um eine ambulante Geburt handelte oder die Kinder die Klinik vor einer möglichen Messung verlassen hatten. 1783 (72%) von ihnen wurden aber später in den HNO-Praxen auf ihre Hörfähigkeit getestet.
In den Neonatalabteilungen herrschten besondere Organisationsstrukturen, so dass die Erfassungsquote hier schwieriger zu berechnen war. Es wurden 1669 Kindern von 1800 zugewiesenen Kindern untersucht, somit betragt die Erfassungsrate 92,72%.
3.1 Ergebnisse der Geburtskliniken
Durch eine schrittweise Einführung konnte eine umfassende Betreuung der
hinzukommenden Kliniken sicher gestellt werden, so dass für jede Klinik ein individueller Zeitrahmen für die Einführungs- und Routinephase gewährleistet werden konnte.
Tabelle 3-1: Handlungsabläufe der Geburtsklinken, pro und kontra
Aktion Pro Kontra
Einführung schrittweise Konzentrierte Einführung pro neue
Klinik verzögerte Realisierung des NHS
Einführung
Thematisch Verständnis für Notwendigkeit X
qualitätsorientierte Methodenanwendung selbstständige Problemlösung Technisch
weniger Geräteausfälle
X
Fehlerdetektion
Aufmerksamkeitsschulung Beratung
Fokussierung auf Elternbedürfnisse
X
Festlegung der personellen Strukturen klare Verantwortlichkeit