Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen
BLICK ÜBER DIE GRENZEN
• Die Ausbildung des westlichen medizinischen und paramedizini- schen Personals, das in der Dritten Welt arbeiten soll, muß auf die Be- gegnung mit einer völlig andersarti- ge.n Lebens- und Denkweise vorbe- reiten. Deshalb sollte die Fortbil- dung kulturanthropologische, medi- zin- und religionssoziologische Schwerpunkte setzen. Der Arzt muß eingehender auf seine zukünftige Rolle als Lehrer und Organisator vorbereitet werden.
• Alle Vergabeinstitutionen sollten sich verpflichten, ihr medizinisches Entwicklungshilfe-Personal an sol- chen Kursen teilnehmen zu lassen.
• Für eine ausreichende Vorberei- tungszeit im Entwicklungsland sel- ber müssen mindestens sechs Mo- nate angesetzt werden. Um dort ge- sammelte Erfahrungen an Ort und Stelle auch anwenden zu können, ist eine Verlängerung der meisten bis- herigen Zweijahresverträge anzu- streben.
• Von deutscher Seite muß eine reibungslose erfahrungsentspre- chende und fachliche Wiederein- gliederung des zurückkehrenden medizinischen Personals in das deutsche Gesundheitssystem ge- währleistet werden.
• Der Versuch, das medizinische Personal aus den Entwicklungslän- dern wieder in das heimatliche Ge- sundheitswesen zu reintegrieren, sollte intensiviert werden. Zumin- dest sollte die Notwendigkeit einer Niederlassung der Ärzte aus den Entwicklungsländern auch in soge- nannten Notstandsgebieten in den Industrienationen neu überdacht werden.
(1) Sowohl in den Entwicklungslän- dern wie in der westlichen Welt muß das Interesse an der traditionellen Medizin im weitesten Sinne stärker geweckt und gefördert werden.
Durch Evaluierungsprogramme bei den Teilnehmern der tropenmedizi- nischen Vorbereitungskurse kann weiteres Erfahrungsmaterial gesam- melt werden und in späteren Kursen Eingang finden.
O Die Ausbildung des medizini- schen Personals der Dritten Welt darf nicht länger allein nach westli- chem Muster erfolgen. Das heimatli- che Krankheitsverständnis, die eige- ne Tradition und Sozialstruktur soll- ten schwerpunktmäßig in neue Aus- bildungsgänge eingebaut werden.
(Literaturverzeichnis beim Sonder- druck)
Anschrift des Verfassers:
Dr. med. Wolfgang Kruse Kaiserdamm 118
1000 Berlin 19
ITALIEN
Krankenhausstreik und
Gewerkschaftsstreit
In einem großen Teil Italiens sind die Krankenhäuser wegen eines Strei- kes des nicht medizinischen Perso- nals so gut wie stillgelegt. Im „Poli- clinico", dem größten Universitäts- krankenhaus in Rom, wurde Militär eingesetzt, um die Patienten wenig- stens zu verpflegen. Eine Behand- lung und Pflege ist so gut wie un- möglich. Die Feldküchen können im übrigen auf Diätvorschriften keine Rücksicht nehmen. Auch in vielen anderen großen Krankenhäusern des Landes ist der normale Pflege- betrieb weitgehend zusammenge- brochen; Angehörige kümmern sich um ihre Verwandten, die im Kran- kenhaus liegen, andere Kranken- häuser haben schleunigst alle Pa- tienten entlassen, Notfallbehandlun- gen können nur noch quasi ambu- lant vorgenommen werden (Stand vom 18. Oktober).
Der Streik geht vordergründig um rund 100 Mark im Monat. Die „offi- ziellen" Gewerkschaften, die zu einer gewerkschaftsbundähnlichen Föderation zusammengeschlossen sind, hatten am 5. Oktober 1978 ei- nen Vertrag unterzeichnet, der eine Lohnerhöhung um fünf Prozent vor- sah, wenn auch mit gewissen Diffe- renzierungen nach Alter, Berufsalter und Qualifikation. Neben dieser aus
den christlichen, den liberal-sozial- demokratischen und den kommuni- stischen Gewerkschaften bestehen- den Föderation haben sich jedoch überall, so auch im Krankenhauswe- sen, „autonome" Gewerkschaften gebildet. Das Hauptmotiv des Ent- stehens dieser „Autonomen" ist der Widerstand gegen die von der Ge- werkschaftsföderation betriebene Politik der Gleichmacherei. So wehrt man sich beispielsweise dagegen, daß im Krankenhauswesen ein Ein- heits-Arbeitsvertrag für das gesamte Personal vom Pförtner bis zum Chefarzt besteht oder daß in der Luftfahrt Gepäckträger und Piloten zusammengeworfen worden sind.
Vor allem bei den qualifizierteren Gruppen — hier also bei den Ärzten oder bei den Piloten — verteidigt man die „Professionalitä", und ein gro- ßer Teil der Streiks, die in den letz- ten Jahren und Monaten in Italien stattfanden und die sich insbeson- dere im öffentlichen Verkehrswesen katastrophal ausgewirkt haben, wa- ren solche Teilstreiks einzelner Be- rufsgruppen, die sich gegen Ein- heitsverträge für die ganze Branche richteten.
Der jetzige Krankenhausstreik ist ebenfalls dieser Art; allerdings sind es diesmal die „Autonomen" der mittleren und unteren Kategorien, die sich gegen das Einheitsdiktat des Vertrages zur Wehr setzen und zusätzliche Lohnforderungen stel- len: zwischen 40 000 und 60 000 Lire einheitlich für jeden. Ein Kranken- träger bekommt zur Zeit 310 000 Lire monatlich (nach dem Vertrag vom 5.
Oktober), das sind etwa 750 DM.
Qualifizierte Schwestern und Pfle- ger können bis zu 400 000 Lire (rund 1000 DM) verdienen. Sie liegen da- mit im Durchschnitt der Arbeiterver- dienste in Italien.
Das Eigenartige ist, daß erst wenige Jahre vergangen sind, seit die kon- föderierten Gewerkschaftler — eben- falls mit Streiks — die Einheitsverträ- ge durchgesetzt haben. Offensicht- lich wird eine solche ideologisch be- gründete Position von einem großen Anteil der Arbeitnehmer nicht gebil- ligt — im Krankenhauswesen scheint der Wunsch nach Differenzierung
2688 Heft 45 vom 9. November 1978 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen BLICK ÜBER DIE GRENZEN
sehr ausgeprägt zu sein, wie die starke Teilnahme an den Auseinan- dersetzungen und die harte Sprache zeigt, in der Rücksichtnahme auf Patienten ausdrücklich abgelehnt wird. Am schärfsten wogte in der dritten Oktoberwoche die Auseinan- dersetzung in Florenz mit einer De- monstration, die stundenlang die ganze Innenstadt lahmlegte. Arbeit- geber und Verhandlungspartner dort ist der Regionalassessor für das Gesundheitswesen — ein Kommu- nist. Er blieb hart, verteidigte den Einheitsvertrag, und bei einer Kon- ferenz der Regionalassessoren in Rom beschimpfte er heftig seinen christdemokratischen Kollegen aus Venedig, der die Forderungen der Streikenden bewilligt hatte. Woher der allerdings das Geld nehmen will, ist unerfindlich; die Krankenhäuser werden aus einem von der Zentralre- gierung gespeisten und an die Re- gionen verteilten Fonds finanziert, in dem zusätzliche Mittel nicht zu fin- den sind, es sei denn, man greift die Katastrophenreserve an.
Am 20. Oktober versuchte der Staatssekretär im Amt des Minister- präsidenten, Del Rio, in Verhandlun- gen mit den „offiziellen" Gewerk- schaften einen Ausweg zu finden, aber er setzte sich dabei zwischen alle verfügbaren Stühle. Er verein- barte nämlich ein Zusatzabkommen, wonach jeder Krankenhausange- stellte, der an Fortbildungskursen teilnimmt, eine Gehaltserhöhung von 27 000 Lire erhalten solle. Dies lehnten die autonomen Gewerk- schaften sofort ab.
In einer Sitzung in der folgenden Woche nahmen aber auch die Präsi- denten der Regionalregierungen den Ministerpräsidenten wegen die- ses Alleinganges seines Staatsse- kretärs unter scharfen Beschuß. Der hatte es nämlich ganz besonders raffiniert machen wollen: Kosten von Fortbildungsmaßnahmen, so hatte er argumentiert, gehörten nicht zur Krankenhausfinanzierung, sondern müßten nach geltendem Gesetz von den Regionen aus deren Haushaltsmitteln bezahlt werden — Del Rio hatte also eine Einigung auf Kosten Dritter versucht. Die Regio-
nalpräsidenten lehnten dieses Ver- fahren rundheraus und ohne Anse- hen der politischen Zugehörigkeit ab. Man war also so weit wie vorher.
Übrigens sind die Ansichten auch bei den Ärzten unterschiedlich: Es gibt einen Verband jüngerer Kran- kenhausärzte, der sich ebenfalls für den Einheitsvertrag einsetzt, der sie mit dem Krankenhauspersonal zu- sammenfaßt. bt
GROSSBRITANNIEN
Arbeitskampf
„führt zu Todesfällen"
Im Zusammenhang mit Arbeits- kampfmaßnahmen von Technikern und Vorarbeitern in Krankenhäusern des Staatlichen Gesundheitsdien- stes hat Sozialminister David Ennals nach einem gescheiterten Vermitt- lungsversuch die „Streikenden"
aufgefordert, „um Gottes Willen"
wieder an die Arbeit zu gehen und
„aufzuhören, mit dem Leben von Patienten zu spielen". Nach dem, was Ärzte ihm berichtet hätten, sag- te der Minister, sei er überzeugt da- von, daß als Folge des Arbeitskamp- fes bereits Patienten gestorben sei- en und daß andere wegen der verzö- gerten Aufnahme in die Kranken- häuser nie wieder von ihrer Erkran- kung genesen würden.
Vertreter der „Streikenden" be- zeichneten diese Äußerungen des Ministers als Heuchelei und Erpres- sung; in Wirklichkeit mißbrauche der Minister Menschenleben zu poli- tischen Zwecken, während es in sei- ner Macht stünde, den Streitfall sehr schnell beizulegen.
Es handelt sich um einen seit An- fang September in Gang befindli- chen „Dienst nach Vorschrift" von etwa 3500 Technikern und Vorarbei- tern, die hauptsächlich mit Baumaß- nahmen sowie mit der Pflege und Wartung von technischen Einrich- tungen in Krankenhäusern beschäf- tigt sind. Der Anlaß für den Streit reicht allerdings schon in das Jahr 1974 zurück, als die diesen Techni-
kern unterstellten Arbeiter eine mit einer Produktivitätsvereinbarung verknüpfte Lohnerhöhung erhielten.
Dies führte in etwa 600 Fällen dazu, daß Arbeiter einen höheren Lohn er- halten als die über sie die Aufsicht führenden Techniker. Dies konnte bisher wegen der allgemeinen Lohn- politik der britischen Regierung nicht ausgeglichen werden. Lange Verhandlungen in dem für diese Be- rufsgruppen des Gesundheitswe- sens zuständigen Ausschuß führten zu nichts, und Ende Oktober sind auch mehrmalige Verhandlungen ei- ner unabhängigen Schiedsstelle er- gebnislos abgebrochen worden. Die 3500 Techniker, die auch noch ver- schiedenen Gewerkschaften ange- hören, hatten Anfang September, zum Teil nach einer Urabstimmung, mit einem „Dienst nach Vorschrift"
begonnen.
Die Folgen sind bisher, daß zum Bei- spiel Bettwäsche nicht mehr gewa- schen werden kann, weil die Wasch- maschinen nicht repariert werden, oder das Blutübertragungsgeräte nicht gewartet werden können. Eini- ge Krankenhäuser haben Kranken- hausaufnahmen oder Operationen aufschieben müssen und beschrän- ken sich auf Notfälle. Davon waren Ende Oktober etwa 4000 Kranken- hausbetten in ganz Großbritannien betroffen.
Zufälligerweise erschien während dieses Arbeitskampfes der Jahres- bericht des Gesundheits- und So- zialministeriums, in dem auf die Not- wendigkeit hingewiesen wird, die Beziehungen zwischen dem Staatli- chen Gesundheitsdienst und seinen Arbeitnehmern zu verbessern. Es habe zwar in der letzten Zeit keine größeren Streiks im Staatlichen Ge- sundheitsdienst gegeben, aber zu viele inoffizielle — das heißt durch die Gewerkschaften nicht unter- stützte — Kampfmaßnahmen und Reibungen zwischen den einzelnen Berufsgruppen im Staatlichen Ge- sundheitsdienst. — Die Veröffentli- chung des Jahresberichts hatte sich verzögert: in der Regierungsdrucke- rei gab es „Arbeitskampfmaßnah- men". . . gb
DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 45 vom 9. November 1978 2689