• Keine Ergebnisse gefunden

Archiv "Soziale Regelkreise: Untersuchungen über ein kybernetisches Modell der sozio-ökonomischen Beziehungen" (17.11.1977)

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Archiv "Soziale Regelkreise: Untersuchungen über ein kybernetisches Modell der sozio-ökonomischen Beziehungen" (17.11.1977)"

Copied!
5
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

Soziale Regelkreise

Untersuchungen über ein kybernetisches Modell der sozio-ökonomischen Beziehungen

Ferdinand Oeter

Entscheidend (für das weitere Sinken der Geburtlichkeit) ist, daß die Sorgepflicht für Kinder zu einer gesellschaftlichen Be- nachteiligung führt, die von den sich immer mehr emanzipieren- den Frauen nicht mehr hinge- nommen wird. Am stärksten fällt hierbei die wirtschaftliche Be- nachteiligung ins Gewicht, die durch die letzte Kindergeldge- setzgebung — fälschlich Fami- lienlastenausgleich genannt — noch wesentlich verschlimmert wurde.

Die Marktwirtschaft ist von jeher mit einem Problem konfrontiert, das dör holländische Kulturphilosoph Johan Huizinga bereits 1935 folgenderma- ßen charakterisiert hat: „Ein bis zur äußersten Vollkommenheit und Zweckmäßigkeit ausgestatteter Pro- duktionsapparat bringt täglich Er- zeugnisse hervor und Wirkungen zustande, die niemand wünscht, die niemand brauchen kann, die jeder- mann fürchtet, die viele verachten als unwürdig, unsinnig, unverwend- bar (1)."

Weder die großen Weltkriege und Wirtschaftskatastrophen, noch die enormen wirtschaftlichen Erfolge der letzten Jahrzehnte haben an die- sem Problem etwas geändert, wir sind seiner Lösung nicht einen Schritt näher gekommen. Man kann sich nicht einmal des Eindrucks er- wehren, daß gerade in letzter Zeit die essentiellen Aufgaben der Da- seinsgestaltung, in denen sich der Sinn des menschlichen Lebens letztlich allein erfüllen kann, immer noch stärker hinter der Produktion von im Grunde genommen völlig un- wesentlichen und wertlosen Erzeug- nissen zurückgefallen sind. Das ist keineswegs damit zu entschuldigen, daß die Mehrzahl der Menschen zu oberflächlich sei, um das Defizit überhaupt zu erkennen. Vielmehr vergeht kaum ein Tag, ohne daß

selbst in den Massenmedien und si- cher auch in zahllosen Einzelge- sprächen davon die Rede ist, ja, daß immer wieder geradezu ein öffentli- cher Notstand beschworen wird:

„Die Erfahrung im ganzen Land lehrt, daß die Bundesrepublik voll von Leuten ist, die das Fehlende und das Zweifelhafte an den Vorteilen unseres neudeutschen Gesell- schaftstypus spüren. Die wissen, daß es in den Weltentwicklungen, die uns bevorstehen, darauf ankä- me, in allen Bereichen eine humane Technik hervorzubringen; konkrete und beharrliche Abrüstungsinitiati- ven gerade von der Bundesrepublik Deutschland aus zu unternehmen;

eine umfassende, richtungweisende Politik der Entwicklungshilfe im Rahmen zu reformierender Struktu- ren der Weltwirtschaft zu bewirken;

die Bemühungen um unser Bil- dungswesen energisch wiederauf- zunehmen, um alle die Gesellschaft erhaltenden, sie aber auch weiter- und höherführenden Qualitäten zu sichern. Vier zentrale Aufgaben, die geleistet werden müssen. Wagen sich die latent vorhandenen Einsich- ten und Bereitschaften noch hervor und gelangen sie bis zu den Ver- bandsleitungen und den politischen Vertretungskörperschaften, so gera- ten sie dort unweigerlich in die Abla- gen , die Friedhöfe der ,Projekte` (2)." >

2763

(2)

Soziale Regelkreise

So verdichtet sich immer stärker der Eindruck, daß „die durch und durch kommerzialisierte Gesellschaft in ih- rem Innersten selbstverständlich hohl" ist „— Geld als Generalnenner erzeugt kein ethisches und idealisti- sches Potential, das von den ,Bedin- gungen wahren Menschseins' Kon- zepte entstehen ließe. ‚Efficiency' zwingt alle Kräfte in die eine Art von Fortschritt, die materiellen Wohl- stand einbringt, oder ins Abseits. Die Finanzen allein entscheiden über das ,Machbare' (3)."

Versucht man, den Dingen auf den Grund zu gehen, so zeigt sich, daß offenbar überall „Sachzwänge" be- stehen, die auch den wirtschaftli- chen Führungskräften keine andere Wahl lassen, als auf dem einmal be- schrittenen Weg des Immer-mehr, Immer-schneller, Immer-effizienter fortzuschreiten, wenn sie nicht ris- kieren wollen, von der Konkurrenz überrollt und in einem erbarmungs- losen Kampf ums wirtschaftliche Überleben zermahlen zu werden.

Aber auch hier gilt der Satz: Auf dem falschen Wege kommt man auch durch schnelleres Laufen nicht zum Ziel!

Im folgenden soll der Versuch unter- nommen werden, den Charakter je- ner Sachzwänge einsehbar zu ma- chen, die heute die Entscheidungen der Führungskräfte programmieren, und geeignete Maßnahmen für ihre Durchbrechung darzulegen.

Geld — alleinige Ordnungsmacht?

Daß Geld der Faktor ist, der in libera- len Gesellschaftssystemen die wirt- schaftlichen Leistungsströme lenkt und antreibt, ist eine Binsenweis- heit. Ebenso unbestreitbar ist es, daß besonders in der Bundesrepu- blik Deutschland in beachtlichem Grade der Versuch geglückt ist, auch diejenigen an den Leistungen des Wirtschaftssystems partizipie- ren zu lassen, die als sogenannte

„marktpassive" Glieder der Gesell- schaft außerhalb des eigentlichen Marktgeschehens stehen, weil sie weder über Arbeits- noch über Kapi- taleinkommen verfügen. Allerdings

hat bis in die jüngste Zeit der Streit über den angemessenen Umfang dieser Einkommensübertragungen kein Ende gefunden. Denn während sie von den einen immer noch als unzureichend kritisiert werden, wird von anderer Seite geltend gemacht, daß bereits heute die Grenze über- schritten sei, an der der Leistungs- grundsatz ernstlich in Gefahr gerate und korrumpierende Wirkungen von den Einkommensübertragun- gen ausgehen.

Wesentlich gewichtiger erscheint ein anderes Argument, das bisher noch kaum Beachtung gefunden hat: Das riesige Werk unserer Wirt- schafts- und Sozialgesetze beruht mehr oder minder ausschließlich auf Empirie. Insbesondere ist unser So- zialgesetzgebungssystem im Grun- de genommen rein punktuell zusam- mengesetzt. Dabei wird also nicht berücksichtigt, daß alle sozialen Funktionsabläufe, gänz gleich ob sie nun den Arbeitsmarkt, die Produk- tion, die Waren- und Gütervertei- lung, den Verkehr, die Bereitstellung von Dienstleistungen u. v. a. betref- fen, in der Art und Weise eines riesi- gen kybernetischen Systems zusam- menspielen. Ein solches System ver- fügt über eine absolute Eigenge- setzlichkeit, die sich vor allem darin ausdrückt, daß jedes sog. „Datum"

immer ganze Wirkungsketten, sog.

„Regelkreise" auslöst. Diese sind häufig nur äußerst schwierig zu durchschauen. Das gilt in ganz be- sonderem Maße für die Neueinspei- cherung sozialer Gesetzgebungsda- ten, die nichtselten dieabsonderlich- sten Fernwirkungen auslösen (4).

Man kann also ohne Übertreibung sagen, daß nur selten mehr als ein Bruchteil der vom Gesetzgeber in- tendierten Ziele erreicht wird, wäh- rend große Teile noch so gut ge- meinter sozialer Gesetzgebung oh- ne Wissen und Willen der Beteiligten durch automatisch ins Spiel treten- de „Sachzwänge" wieder zunichte gemacht werden. Das führt dann nicht etwa — oder doch nur höchst selten — zu Revisionen, weil sich der Gesetzgeber nicht nachsagen las- sen will, daß er schlechte Arbeit ge- leistet habe, sondern zu Ergän-

zungsgesetzen, Novellen und in sehr vielen Fällen sogar zu neuen Geset- zen, die die inzwischen wieder zu Tage getretenen Lücken schließen sollen. Dadurch wird das Gesetzge- bungswerk immer komplizierter und schwerer durchschaubar, der Ver- waltungsaufwand steigert sich ins ungemessene, die Unzufriedenheit mit der gegebenen sozialen Lage wächst, und mit ihr wachsen auch die Staatsverdrossenheit und das allgemeine Mißbehagen am Leben in dieser Gesellschaft.

Regelkreise

Wenn hier von den negativen, die soziale Harmonie störenden Wirkun- gen sozialer Regelkreise gespro- chen wurde, so darf nicht der Ein- druck entstehen, daß der Einfluß solcher Regelkreise grundsätzlich negativ zu bewerten wäre. Das kann schon deshalb nicht sein, weil be- reits der einzelne Mensch in seiner eigenen Natur und in seiner natürli- chen Umwelt in einem unüberseh- bar komplexen Geflecht von Regel- kreisen eingebunden ist, deren Zahl in viele Milliarden gehen dürfte. Na- hezu alle funktionieren in höchst perfekter Weise, und auch bei den hier gemeinten Versagern handelt es sich im Grunde genommen nur um Randerscheinungen des Lebens bzw. um Vorgänge, die sich in von Menschen selbst geschaffenen Ord- nungsgebilden entwickelt haben. Je besser solche selbstgesetzten Ord- nungen der Natur abgelauscht sind, um so weniger störanfällig sind sie.

Ein hervorragendes Beispiel hierfür ist der Marktmechanismus.

Als Adam Smith vor nunmehr 200 Jahren sein berühmtes Werk über den Reichtum der Nationen schrieb, konnte er sicher nicht ahnen, daß er mit seiner Idee der „invisible hand", die alles Wirtschaftsgeschehen len- ke, ein Prinzip in die Diskussion brachte, dessen Allgemeingültigkeit erst heute erkannt wurde: Das Prin- zip der Selbststeuerung durch Rückkoppelung.

Dieses in der belebten Natur beherr- schende Prinzip ist längst von der

(3)

Technik auf vielerlei Weise mit Er- folg übernommen worden. Es läßt sich an einem sehr einfachen Bei- spiel erläutern, nämlich am Ther- mostaten einer automatischen Hei- zung. Dieser wird auf eine bestimm- te gewünschte Raumtemperatur ein- gestellt und gibt — innerhalb einer gewissen Bandbreite — eine Mel- dung ab, wenn die Temperatur den Sollwert unter- oder überschreitet, wonach sich die Heizung entweder ein- oder ausschaltet.

Im Fall der automatischen Heizung erfolgt die Regulierung durch einen einzigen Rückkoppelungsprozeß. Im allgemeinen aber wird der Empfän- ger der Erstmeldung ein zweiter

„Melder" oder „Warner" sein, des- sen Aufgabe darin besteht, die Erst- meldung zu überprüfen und weiter aufzuschlüsseln. Dieses Spiel kann sich in komplexen Systemen unzäh- lige Male wiederholen, bis die Erst- meldung bis in alle Einzelheiten aus- differenziert ist und das Erfolgsor- gan bzw. die zu steuernde Maschine ein in jeder Hinsicht zuverlässiges Bündel von Informationen oder Handlungsanweisungen erhält.

Wenn hier nicht nur von Maschinen die Rede ist, sondern von „Erfolgs- organen", so deswegen, weil es sich in der Tat um ein durchgehendes Prinzip handelt, das ebenso für Pro- zesse im Weltraum wie für die ge- samte Biologie und schließlich auch für das Zusammenleben jedweder Art von Lebewesen Gültigkeit be- sitzt. Wie komplex dieses System angelegt ist, mag verdeutlichen, daß allein in der Hirnrinde eines einzigen Menschen 10 Milliarden Neuronen verschiedenster Art und Größe zu- sammengeschlossen sind, die als

„Regler" und „Warner" eines kyber- netischen Systems fungieren, und daß die Zahl der potentiellen Rück- koppelungsprozesse ins Ungemes- sene steigt, wenn man berücksich- tigt, daß auch noch zahllose weitere

„Kleinstkomputer" in den Drüsen der inneren Sekretion mit im Spiele sind (5).

In derselben Weise ist aber auch die Zahl dieser natürlichen Computer in menschlichen Gesellschaften und

Verbänden unüberschaubar groß, so daß Beeinflussungen durch künstliche Normsetzungen immer nur in begrenztem Ausmaß durchzu- schlagen vermögen. Dabei spielen Eingewöhnung und Erziehung in ei- ner auf Stetigkeit und Vertrauen ausgerichteten Atmosphäre die wichtigste Rolle — ein Komplex, auf den in diesem Zusammenhang nicht näher eingegangen werden kann (6).

Wie alle genialen Konzepte be- schränkt sich dasjenige der Markt- wirtschaft auf ganz wenige Variable.

Im Grunde genommen sind es nur das Angebot und die Nachfrage auf der einen und der Preis auf der an- deren Seite. Dieser stimuliert jeweils das Angebot und bremst die Nach- frage, wenn eine Mangelsituation vorliegt, er bremst andererseits das Angebot und stimuliert die Nachfra- ge, wenn eine Überflußsituation ge- geben ist.

Wenngleich dieses System nicht die in es gesetzten Hoffnungen erfüllen konnte, wenn es sogar unter seiner Einwirkung zu den größten Mensch- heitskrisen gekommen ist, so hat das seine Ursachen nicht in seiner eigenen mangelnden Effizienz, son- dern darin, daß die Bedürfnisse der Menschen darin nicht berücksich- tigt werden, ja überhaupt nicht be- rücksichtigt werden können: zwi- schen Nachfrage und menschlichen Bedürfnissen liegt eine Kluft, die sich durch noch so großes Angebot nicht schließen läßt. Es bedarf dazu der Korrekturen durch Koppelung an andere Regelkreise, von denen im folgenden die Rede sein soll.

Regelkreis Bevölkerungsprozeß Lange bevor die weltweite Bevölke- rungszunahme ihre heutige Aktuali- tät erreicht hatte, hat die schwedi- sche Sozialwissenschaftlerin und UNO-Delegierte Alva Myrdal darauf aufmerksam gemacht, daß Kinder die mit Vorrang wichtigste Ursache der Armut sind. Allerdings glaubte sie — wie noch heute nahezu alle Bevölkerungswissenschaftler —, daß das Problem durch Geburtenrege-

lung zu lösen sein werde. Daß das nicht der Fall ist, zeigt die jüngste Bevölkerungsentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland: Nach Jahren ständigen Bevölkerungs- wachstums hat sich 1974 die Ein- wohnerzahl der Bundesrepublik erstmals seit ihrer Gründung verrin- gert, und zwar um rund 110 000. Im Jahre 1975 erreichte die Abnahme bereits 350 000. Dieser Bevölke- rungsrückgang resultiert einmal aus der verstärkten Abwanderung aus- ländischer Arbeitskräfte, zum an- dern aber daraus, daß die Zahl der Sterbefälle die der Geburten um et- wa 150 000 Personen überstiegen hat.

Die sogenannte Nettoreproduk- tionsrate*) als sicherster Parameter des Bevölkerungswachstums sank in der Bundesrepublik bereits 1970 unter den Wert 1,0 und betrug 1974 nur noch 0,7. Bei einem Durch- schnittsalter der Mütter bei der Ge- burt ihrer Kinder von rund 27 Jahren ergibt sich hieraus eine jährliche Ab- nahmerate der Bevölkerung von rund 13 auf je 1000 Einwohner. Eine Bevölkerung, die so schnell ab- nimmt, hat nach 25 Jahren ein Drit- tel, nach 50 Jahren die Hälfte und nach 100 Jahren zwei Drittel ihres Ausgangsbestandes verloren. Das gilt jedoch nur für den theoretischen Fall, daß die angenommenen alters- spezifischen Geburtenhäufigkeiten und Sterblichkeiten schon bisher galten, also schon eine stabile Be- völkerung vorhanden war. Geht man von der tatsächlichen Altersgliede- rung der Bevölkerung der Bundes- republik am 1. April 1974 aus, und zwar hier begrenzt auf die weibliche Bevölkerung, ergeben sich folgende Abnahmeraten:

bis zum Jahr 2000 rund 10 Prozent bis zum Jahr 2025 rund 25 Prozent bis zum Jahr 2050 rund 45 Prozent bis zum Jahr 2075 rund 60 Prozent.>

*) Die Nettoreproduktionsrate ist eine statisti- sche Zahl, die unter Ausschluß aller Unsi- cherheitsfaktoren gewonnen wird und die angibt, wie groß die Zahl der von einer Müt- tergeneration, bezogen auf die Zahl 1000, hervorgebrachten Mädchen sein wird, wenn diese das Fortpflanzungsalter erreichen.

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Heft 46 vom 17. November 1977 2765

(4)

Soziale Regelkreise

Die jährliche Abnahmerate beträgt nach den gleichen Berechnungen im Jahr 2000 erst rund —7 und erst nach dem Jahr 2025 rund —13 auf je 1000 Einwohner.

Im übrigen würde selbst eine weitere Senkung der Sterblichkeit in allen Altersgruppen, etwa auf das schwe- dische Niveau, für die weitere Bevöl- kerungsentwicklung keine große Bedeutung haben. Auch dann, wenn alle Menschen 100 Jahre alt werden würden, müßten (statistisch) je Frau etwas mehr als zwei Kinder geboren werden, wenn auf lange Sicht der Bevölkerungsstand erhalten bleiben soll.

Nun sprechen aber eine ganze Reihe von Beobachtungen dafür, daß die Geburtlichkeit künftig eher noch weiter sinken wird. So ist bemer- kenswert, daß der Geburtenrück- gang die ehelichen Geburten stärker als die nichtehelichen erfaßt und daß nach dem Ausbleiben fünfter, vierter und dritter Kinder inzwischen auch die zweiten Kinder ausbleiben.

Ferner nimmt neuerdings auch die Kinderzahl der Ehen mit der Höhe der Schulbildung der Ehefrauen be- sonders eindrucksvoll ab (7). Fragt man nach den Ursachen dieser Ent- wicklung, so kann sicher nicht über- sehen werden, daß die Vervoll- kommnung der modernen Verhü- tungsmittel (orale Antikonzipientien, Intrauterinspiralen, Dreimonats- spritze und relativ gefahrloser Schwangerschaftsabbruch durch Fruchtabsaugung) erstmalig dazu geführt hat, daß keine Frau mehr gezwungen werden kann, ein nicht gewünschtes Kind auszutragen.

Aber dieser Komplex ist zu vorder- gründig, um der Wirklichkeit ge- recht zu werden. Entscheidend ist vielmehr, daß die Sorgepflicht für Kinder zu einer gesellschaftlichen Benachteiligung führt, die von den sich immer mehr emanzipierenden Frauen nicht mehr hingenommen wird. Am stärksten fällt hierbei die wirtschaftliche Benachteiligung ins Gewicht, die durch die letzte Kinder- geldgesetzgebung — fälschlich Fa- milienlastenausgleich genannt — noch wesentlich verschlimmert wurde.

Nun läßt sich aber die Tatsache nicht wegdiskutieren, daß zwischen dem Aufwachsen von Kindern und der Alterssicherung durch Renten, Pensionen und Kapitalerträge ein unauflösbarer Zusammenhang be- steht. Sicherlich kann zu Recht gel- tend gemacht werden, daß es nicht unbedingt einer gleichstarken Nach- folgegeneration bedarf, um eine ausreichende Altersversorgung zu ermöglichen. Aber der gesamte Gü- terbedarf und noch mehr die von den alten, nicht mehr arbeitsfähigen Menschen benötigten Dienstleistun- gen können immer nur von einer ar- beitsfähigen und dienstwilligen Nachfolgegeneration zur Verfügung gestellt werden.

Auf diese Weise kommt es — gleich- gültig ob gewollt oder ungewollt — dazu, daß die. Kinderlosen und zu einem Teil auch diejenigen, die nur ein Kind aufgezogen haben, im Alter auf Kosten ihrer Generationsgenos- sen mit Kindern unterhalten werden müssen bzw. etwas härter ausge- drückt: von den Menschen mit Kin- dern schmarotzen.

Hier liegt nun auch der zentrale An- gelpunkt des „Regelkreises Bevöl- kerungsprozeß". Er kann nur wieder ungestört funktionieren, wenn eine Harmonie zwischen Leben und Ster- ben, Geburt und Tod dadurch wie- derhergestellt wird, daß auch die Kinderlosen und Kinderarmen in gleicher Weise wie diejenigen, die selbst Kinder großziehen, an den Kosten für die aufwachsenden Kin- der beteiligt werden.

Entscheidend ist folgender Zusam- menhang:

Diejenigen, die selbst keine Kinder großziehen, sind heute in der Lage, gesamtwirtschaftlich notwendige Leistungen durch andere erbringen zu lassen. Sie können also auf Ko- sten anderer ein aufwendigeres und kostspieligeres Leben führen und zudem höhere Altersversorgungsan- sprüche erwerben, wobei es völlig nebensächlich ist, ob dies bewußt angestrebt und gewollt wird oder schicksalsmäßig geschieht, denn das Problem ist keines der Senti-

mentalität, sondern ausschließlich ein solches der gesamtwirtschaftli- chen Kosten-Nutzen-Rechnung.

Geht man davon aus, daß die Auf- zucht und Ausbildung eines Kindes rund ein Zehntel des lebenszeitli- chen Einkommens seines Elternpaa- res erfordert — die Aufwendungen für Kinder sind, da Eltern und Kinder im gleichen Haushalt zu leben pfle- gen, schichtenspezifisch dem Ein- kommen der Eltern koordiniert —, so erscheint es angemessen, folgende Ausgleichsabgaben zu erheben: von kinderlosen Ehepaaren 20 Prozent des Nettoeinkommens, von Ehepaa- ren mit einem Kind und kinderlosen Alleinstehenden 10 Prozent des Net- toeinkommens. Solche Abgaben lassen sich unschwer in die Einkom- men-(Lohn-)steuertabellen einarbei- ten.

Sinnvoll wäre eine kontenmäßige Verbuchung der Ausgleichsan- gaben, damit bei der Geburt des er- sten und zweiten Kindes Rückerstat- tungen geleistet werden könnten.

Andererseits könnten solche Rück- erstattungen aber auch in pauscha- lierter Höhe vorgenommen werden, was die gesonderte Kontenführung überflüssig machen würde.

Angesichts des rapiden Geburten- sturzes in der Bundesrepublik ist in- zwischen bereits von anderer Seite (8) vorgeschlagen worden, mög- lichst bald bevölkerungs- und fami- lienpolitische Maßnahmen mit dem Ziel einer Erhöhung der Geburten- zahlen einzuleiten. Solche Maßnah- men versprechen allerdings nur dann Erfolg, wenn sie einen vollen Ausgleich der Familienlasten bewir- ken. Angesichts der leeren öffentli- chen Kassen erscheint es unmög- lich, dies auf dem Wege einer Erhö- hung der Beihilfen zu erreichen. Ge- gen eine solche Erhöhung spricht zudem ein gewichtiger Grund: Es kann keinesfalls als erwünscht be- trachtet werden, wenn gerade die Geburtenfreudigkeit derjenigen sti- muliert wird, die bereit sind, dem Staat Kinder zum billigsten Preis zu liefern. Vielmehr sollten vor allem in den gehobenen Sozialschichten mehr Kinder als gegenwärtig aufge-

(5)

ZENTREN

Gedanken zu einem „anhaltend aktuel- len Thema"

Nein,

für den Regelfall

.. Ich halte [Ärztezentren] für ei- nen Bestandteil des Praktiker-Eradi- cationsprogrammes. Wenn bisher vier Praktiker in je 8 km Entfernung praktiziert haben, war ein Gebiet von ca. 16 x 16 km ausreichend ver- sorgt und gleichmäßige Verteilung theoretisierend unterstellt, war die maximale Entfernung zum nächsten Arzt 4 km, die mittlere 2 km, was wohl bei der heutigen Motorisie- rungsdichte tragbar ist. Konzentra- tion auf einen Punkt vervierfacht die mittlere Entfernung; eine Busverbin- dung muß her. Der Bus kann aber nicht von Haus zu Haus fahren, folg- lich wird es jetzt oft zur Haltestelle so weit sein wie zuvor zum Arzt. Der Bus kann auch nicht jeden einzeln fahren. Auch der erste muß warten, bis die ganze Busladung abgefertigt ist. Gerecht, aber unschön. Pech, wenn ausgerechnet der letzte ein langwieriges Problem hat. Die tech- nische Ausrüstung kann gut sein und optimal genutzt werden. Und sie wird es! . . . Was wird nun passie- ren, wenn in einer Gemeinschaft von drei Praktikern und einem Interni- sten durch den neuen hessischen Honorarverteilungsmaßstab Finanz- probleme auftreten?

Ich weiß es nicht. Ich würde jeden- falls sofort vorschlagen, den Kolle- gen mit dem geringsten Ausbil- dungsdefizit freizustellen, daß er sich auf dem schnellsten Weg die Anerkennung als Internist verschafft usw. bis die Gemeinschaft nur noch aus Internisten besteht. Dann ist es sehr gut, daß das Raumkonzept ver- doppelt werden kann, denn späte- stens zu diesem Zeitpunkt wird noch eine Niederlassung von je einem Pädiater, Urologen, Gynäkologen und Orthopäden notwendig. Schön, aber teuer! Deshalb: Filialsprech- stunden für Fachärzte: Ja. Sie soll- ten sogar Pflicht werden, denn we- nigstens dort kann man erreichen,

daß der Facharzt Problemfälle sieht und nicht teuere Allgemeinmedizin betreibt. Aber Ärztezentren: Nein für den Regelfall. Es mag berechtigte Ausnahmen geben, die aber nur die Regel bestätigen.

Dr. F. Sember Turmstraße 5 7980 Ravensburg

GLOSSE

Sprachlogische Gedanken über einen Terminus technicus:

Bolus oder iactus?

Diskussion am Ende eines auf- schlußreichen Vortrags über Herz- therapie.-Ein anerkannter Fachkolle- ge hat erklärt, welche Mittel man im Notfall besser per infusionem und welche man besser als Bolus geben sollte. Frage eines Interessierten, was denn eigentlich ein Bolus be- deuten solle. Antwort des Fach- manns, das sei eben einfach eine Injektion. Gedanken des Zuhörers, der in seiner Jugend Latein gelernt hatte; o diese Fremdwörter! Bolus heißt auf gut deutsch „der Wurf".

Aber nicht der Wurf, der treffen soll oder auch trifft, der heißt iactus, und daher auch der bisher noch übliche Ausdruck, eine Injektion geben, also halt eben sachlich begründet und technisch einwandfrei spritzen. Bo- lus aber bedeutete dem Lateiner der Wurf mit dem Würfel im Glücksspiel, im übertragenen Sinne auch der Ge- winn für den Werfenden. Auch wenn wir unterstellen, daß der Vortragen- de die Medizin nicht für ein Glücks- spiel hält und daß nicht nur er, son- dern auch der Getroffene einen Ge- winn dabei hat, sollten wir nicht doch lieber bei der nun schon alt- hergebrachten Injektion bleiben?!

Der Soziodialekt hat eben seine Mucken. Seine deutsche Überset- zung heißt im übrigen Rotwelsch.

Dr. med. Friedhelm Otto Bürgermeister-Stocker-Ring 34 8898 Schrobenhausen

zogen werden, da hier die besten Voraussetzungen für einen begab- ten und auch von den äußeren Be- dingungen her besonders begün- stigten Nachwuchs bestehen. Dazu aber ist es unerläßlich, daß die Vor- teile, die Kinderlosigkeit heute mit sich bringt, respektive die Nachteile der Kinderkosten durch wohlabge- wogene Ausgleichsmaßnahmen neutralisiert werden, wie das weiter oben eingehend begründet worden ist.

Man wird sich allerdings darüber klar sein müssen, daß damit nur ein weiterer Absturz der Geburtenzah- len wird aufgehalten werden kön- nen. Die Frage, ob der gegenwärtige Bevölkerungsstand nach Möglich- keit erhalten bleiben soll, ist demge- genüber politischer Natur. Sie läßt sich aus der Regelkreisbetrachtung des Bevölkerungsprozesses nicht ableiten, denn zweifellos ist ein funktionsfähiger Regelkreis auch bei sinkenden Bevölkerungszahlen möglich, allerdings wohl kaum unter einem Geburtensturz des gegenwär- tigen Ausmaßes.

Sollte also die Frage nach der zah- lenmäßigen Bestandserhaltung un- serer Bevölkerung von den politi- schen Entscheidungsinstanzen po- sitiv beantwortet werden, so müßte der volle Ausgleich der Kinderlasten auch auf dritte und weitere Kinder ausgedehnt werden. Dazu wäre am besten ein kombiniertes System von Zulagen und Steuerermäßigungen geeignet, d. h. die Basiskosten müß- ten in Form von Beihilfen ausgegli- chen werden, während die erhöhten schichtenspezifischen Kosten bei der Steuerbemessung berücksich- tigt werden müßten. Die hierbei an- fallenden Belastungen des Bundes- haushaltes wären bereits im vorab durch die Ausgleichsabgabe abge- deckt.

• Wird fortgesetzt

Literatur beim Verfasser.

Anschrift des Verfassers:

Dr. med. Ferdinand Oeter Rösrather Straße 692 5000 Köln 91 (Rath)

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Heft 46 vom 17. November 1977 2767

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

• Klimasimulationen (RCP 4.5 und 8.5) für den Zeitraum 2040 bis 2070 werden über den ÖKS15 Datensatz bereitgestellt, die zukünftigen landwirtschaftlichen Szenarien werden basierend

Die befragten Arbeitgeber und IV- Mitarbeitenden sind sich einig, dass Unter- nehmen Menschen mit Beeinträchtigungen aus einer moralischen Selbstverpflichtung zu sozialer

 35 VZÄ bei der Betreibergesellschaft, direkt und indirekt sowie über Abgeltungen insgesamt 90-100 VZÄ , 1.5% der regionalen Beschäftigung.  Insgesamt jährliche Umsätze von

Die Fähigkeit zu Regeneration, Erholung ist in hohem Maße abhängig von zur VerfUgung stehendem Einkommen. Die AOK- Daten enthalten Angaben zum beitragspflichtigen

AoA = Analysis of Alternatives (bei kontrolliertem Risiko ausreichend = kein Stoffbedingtes gesundheitliches Risiko für den Verwender (z.B. keine Fruchtschädigung zu erwarten). SEA

• Es ist gut, wenn immer dieselbe Person dein Kind in der Eingewöhnung begleitet. Dies kann neben Mama oder Papa auch eine andere vertraute Person sein.2. • Sei

62,3% der Südtiroler im Alter von 14 und mehr Jahren setzen sich zugunsten anderer ein, indem sie kosten- los Personen helfen, mit denen sie nicht zusammen- leben

Personen, die der Meinung sind, dass man den meisten Mitmenschen vertrauen kann Persone che ritengono che gran parte della gente sia degna di fiducia. Personen, die der