Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 105⏐⏐Heft 30⏐⏐25. Juli 2008 A1583
P O L I T I K
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ie Kehrtwende kam plötzlich, aber nicht ganz unerwartet:Die Große Koalition will die Alters- grenze für Kassenärzte wieder ab- schaffen. Im Zuge des jetzt anste- henden Gesetzes zur Weiterentwick- lung der Organisationsstrukturen der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) soll die sogenannte 68er-Re- gelung fallen. Die niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte könnten dem- nach ihre Kassenpraxis künftig auch über das vollendete 68. Lebensjahr hinaus fortführen und wieder selbst bestimmen, wann sie ihre Kassenzu- lassung zurückgeben und die Praxis einem Nachfolger überantworten.
Die Abschaffung der Altersgren- ze hatte die parlamentarische Staats- sekretärin im Bundesgesundheits- ministerium, Marion Caspers-Merk, bei den Beratungen des Bundestages über einen FDP-Antrag zum Thema am 26. Juni in Berlin angekündigt.
Wörtlich sagte sie: „Passen strikte Altergrenzen, ab wann man nicht mehr beruflich tätig sein darf, ei- gentlich noch in eine Gesellschaft des längeren Lebens? Wir meinen:
Nein. Denn wir brauchen aktive Äl- tere und ihren gesellschaftlichen Beitrag. Deshalb ist es auch folge- richtig, über die 68er-Regelung für Ärzte und Zahnärzte neu nachzu- denken. Wir werden Ihnen deshalb gemeinsam mit den Koalitionsfrak- tionen vorschlagen, diese Zwangs- verrentungsgrenze aufzuheben.“
Unter Seehofer eingeführt
Eingeführt hatte die Altersgrenze der frühere Bundesgesundheitsminister Horst Seehofer mit dem Gesund- heitsstrukturgesetz von 1993. Seit- her heißt es im § 95 Absatz 7 Satz 3 des Sozialgesetzbuches V: „Im Übri- gen endet ab 1. Januar 1999 die Zu- lassung am Ende des Kalendervier- teljahres, in dem der Vertragsarztsein 68. Lebensjahr vollendet.“ Der Gesetzgeber wollte damit in Zeiten der Überversorgung den jungen Ärzten weiterhin den Zugang zur ambulanten Versorgung ermögli- chen. Die Alten sollten Platz ma- chen – für den Nachwuchs und für dessen frisches medizinisches Wissen. Das Bundesverfassungsge- richt schob später allerdings noch eine eigenwillige Erklärung nach:
Ältere Ärzte seien wegen der nach- lassenden körperlichen und geisti- gen Leistungsfähigkeit möglicher- weise sogar eine Gefahr für ihre Patienten.
Viele ältere Ärzte protestierten ve- hement gegen die Zwangspensionie- rung. Einige beschritten den Klage- weg über mehrere Instanzen, andere wandten sich an die Petitionsaus- schüsse. Doch alle Anstrengungen, den Gesetzgeber zum Einlenken zu bewegen, waren vergeblich. Bewe- gung in die festgefahrene Situation kam erst mit dem Vertragsarzt- rechtsänderungsgesetz, das am 1. Ja- nuar 2007 in Kraft trat. Neben einer weitgehenden Liberalisierung der vertragsärztlichen Tätigkeit ermög- lichte das Gesetz auch erstmals Aus- nahmen von der 68er-Regelung – bei festgestellter Unterversorgung. In ei- nem solchen Fall dürfen Ärzte so lange in der Praxis bleiben, bis die Unterversorgung wieder behoben ist.
Vor allem die neuen Bundeslän- der sollten von der Ausnahmerege- lung profitieren, denn dort trat der Ärztemangel zuerst offen zutage.
Bei der Debatte im Bundestag lobte Caspers-Merk die guten Erfahrun- gen mit der Ausnahmeregelung und forderte: „Machen wir sie doch zur Regel.“ Allerdings bestritt der SPD- Abgeordnete Peter Friedrich, dass die angestrebte Aufhebung der Al- tersgrenze im Zusammenhang mit dem Ärztemangel stünde. Friedrich
meint, es gebe keinen Ärztemangel.
Gleichwohl sieht er viele Vorteile in der Aufhebung – etwa mit Blick auf die Alterssicherung der Ärzte, zu der ein Praxisverkauf zur richtigen Zeit entscheidend beitragen kann.
Während die FDP ohne Wenn und Aber für die Abschaffung der Altersgrenze eintritt (Konrad Schi- ly: „Die Regelung ist, um es dem Thema entsprechend zu formulie- ren, veraltet.“), bezweifeln die Grü- nen die Notwendigkeit, „gleich die komplette Ruhestandsregelung für Vertragsärzte abzuschaffen“. Auch Frank Spieth (Die Linke) zeigt sich eher skeptisch. Einige Abgeordnete in der Debatte sprachen sich dafür aus, dass bei einer Abschaffung der Altersgrenze zumindest die weitere Eignung der betroffenen Ärzte ge- prüft werden müsse. Zudem sei auch auf die Verpflichtung zur per- manenten Fortbildung zu achten.
Politische Rückzugsgefechte
Im Wesentlichen sind dies politi- sche Rückzugsgefechte. Dass die Altersgrenze fallen wird, kann als sehr wahrscheinlich gelten. Auch der Bundesrat hat sich Anfang Juli der Forderung angeschlossen. Die Frage ist nur, wann genau. Das Gesetz zur Weiterentwicklung der GKV-Organisationsstrukturen wird zum 1. Januar 2009 in Kraft treten.Das könnte der Termin für den Weg- fall der Altersgrenze sein. In der Diskussion ist allerdings auch eine frühere Stichtagsregelung – etwa rückwirkend datiert auf den Abstim- mungstermin im Bundestag. Das wäre Mitte Oktober dieses Jahres.
Zu spät kommt die Regelung für die 6 337 Ärztinnen und Ärzte, die nach Auskunft der Kassenärztlichen Bundesvereinigung seit 1999 ihre Zulassung zurückgeben mussten. I Josef Maus