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Archiv "Unsere Beziehung zur Kindesankunft: Machen oder kommen lassen" (14.10.1983)

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Schadenersatzansprüche (in Form von Gruppenversicherungen für alle der Organisation angeschlos- senen Ärzte) erheblich niedrigere Prämien verlangen als etwa eine Einzelversicherung.

Der vorherrschende Eindruck, den das Gesundheitswesen in den USA derzeit vermittelt, ist Offen- heit zu neuen Formen. Es gibt eine Vielzahl von Experimenten, die von der Regierung politisch unter- stützt und finanziell gefördert wer- den. Trial and error - Versuch, Irrtum und Korrektur sind die vorherrschenden Suchverfahren nach neuen Lösungen. Dabei wird keineswegs mit der Axt der Wald der Regulierungen und Regeln sinnlos abgeholzt. Es werden aber Schneisen geschlagen, durch die Neues ausprobiert werden kann, bevor man es in einem Gesetzge- bungsverfahren zur verbindlichen Norm für alle macht. Dies hebt sich vorteilhaft von allen hierzu- lande praktizierten Verfahren ab, ein Jahrhundertgesetz nach dem anderen als zwingendes Recht oh- ne Lücke zu verabschieden, sie ausnahmslos in derselben Legisla- turperiode noch - und weiter in allen folgenden - zu novellieren, um sie schließlich nach etwa einer De.kade durch eine neue Jahrhun- dertlösung abzulösen. ln den USA traut man mehr der Erfahrung als den Prognosen der Experten und Interessenten, um sich durch Aus- probieren vom Guten zum Besse- ren vorzuarbeiten. So bieten die vielfältigen Entwicklungstenden- zen in den USA sicherlich auch ein gutes Anschauungsmaterial für den Fall, daß bei uns auch einmal Nägel mit Köpfen beabsichtigt sind.

Anschrift des Verfassers: Professor Dr. rer. pol.

Frank E. Münnich Ordinarius für

Volkswirtschaftslehre,

insbesondere Wirtschaftstheorie, Seminar für _theoretische und ahgewandte Sozialökonomik der Universität München

Ludwigstraße 28 RG 8000 München 22

Unsere Beziehung zur Kindesankunft

Machen oder kommen lassen

Peter Petersen und Alexander Teichmann

Nachdem es in jüngster Zeit gelungen ist, Kinder auf dem Weg der extrakorporalen Befruchtung entstehen und austragen zu lassen, erscheint es notwendig, unsere Beziehung zur Kindesankunft neu zu überdenken. Auch wenn Techniken der homologen und hetero-

logen Insemination seit langem angewandt werden und die

Behandlung der funktionell sterilen Frau in den letzten 10 Jahren große Fortschritte erzielt hat, werfen doch die neuesten Entwick- lungen Fragen auf, welche auch für die Gesamtheit der bisher praktizierten Formen forcierter FruchtbarmachunQ Gültigkeit haben.

Es geht im wesentlichen um zwei Fragen:

~ Wie sind wir- und unsere Pa- tienten- gegenüber Zeugung und Empfängnis eingestellt? Wie ist unsere grundsätzliche Haltung zur Kindesankunft?

~ Welche Erlebnisweisen -leibli- cher, seelischer und geistiger Art- stellen sich im Zusammenhang mit Zeugung und Empfängnis ein?

Welche anthropologischen Pro- zesse werden bei der Fruchtbar- keit anschaulich?

Der Mythos der Machbarkeit

Machbar ist alles technisch Hand- habbare, sei es mit medizinischen, psychologischen oder sozialen Mitteln. Zunächst einmal ist der Begriff Machbarkeit wertneutraL Es handelt sich um reibungslose, möglichst perfekte Abläufe. Trei- bendes Motiv im Falle der forcier- ten FruchtbarmachunQ für die von uns angewandte somatapsycho- soziale Technik ist der Wunsch der Frau oder des Paares, ein Kind haben zu wollen, oder im Falle der Abruptio graviditatis, ein Kind

nicht haben zu wollen. Das Pro- dukt des positiven Wunsches ist das gemachte, das des negativen das weggemachte Kind. Unsere Sprache läßt Differenzierungen zu, die den Sachverhalt verdeutli- chen: "Ich will von dir ein Kind gemacht haben" oder dagegen

"Ich möchte mit dir ein Kind (zeu- gen oder empfangen)". Im Satz

"Ich will von dir ein Kind" klingt der persönliche Besitzanspruch an, ebenso wie in "Ich mache dir ein Kind". Hier wird Besitz ergrif- fen von einem fremdbestimmten Wesen, das ausschließlich abhän- gig von den Wünschen der Eitern ist und heute mit Hilfe einer einsei- tig hochspezialisierten Technik verwirklicht werden kann.

Der Schwangerschaftsabbruch ist im Prinzip der gleiche Vorgang des Machens, nur mit umgekehr- ten Vorzeichen. Seine juristisch- moralische Rechtfertigung soll dieser Produktionsvorgang durch das Grundgesetz (Artikel 2) finden, nach dem die freie Entfaltung der Persönlichkeit geschützt ist. Die Persönlichkeit entfaltet sich durch den Besitz eines Kindes- also der Verwirklichung des Kinderwun- sches- oder durch die Ablehnung eines Kindes auf dem Wege des

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen Beziehung zur Kindesankunft

Schwangerschaftsabbruches zur Sicherstellung der eigenen Le- bensperspektive.

Das System des Machens ist ein geschlossenes System. Es ist ein Regelkreis mit kalkulierbaren Grö- ßen, wobei der Sollwert jeweils durch den vorhandenen oder nicht vorhandenen Kinderwunsch eingestellt wird. Die selbstbestim- mende Ankunft des Kindes ist da- bei nicht vorgesehen. Sie wäre ein unkalkulierbares Ereignis. Wis- senschaftlich ist dieses System konsequent und durch eine jahr- hundertelange abendländische Denktradition abgesichert, die an unseren Medizinschulen und me- dizinischen Fakultäten zur Stan- dardausbildung gehört.

Wenn der Kinderwunsch zur Be- sessenheit wird, so ist das Ziel ein dem Schicksal abgetrotztes Kampfkind. Die Berichte über der- artig ins Leben gezwungene Kin- der und ihre Vorgeschichte sind erschreckend. Sie erinnern an ei- nen „Machtkampf ohne Men- schenrechte". Der Mythos des Ma- chens beherrscht Denken und Handeln. Tiefenpsychologen spre- chen vom „Herakleswahn" oder von der „Messiasphantasie" der Eltern, wo das Kind als Heilbringer für ihre tiefgehenden Schwierig- keiten benutzt wird.

Wie das spätere Schicksal derartig erzwungener Kinder aussehen kann, schildert Manfred Stauber (1979) in seiner umfangreichen Untersuchung über die Psychoso- matik der sterilen Ehe. Es handelt sich in diesem Beispiel um den 5jährigen Verlauf der Behandlung einer Patientin mit der damaligen Diagnose „funktionelle Sterilität".

Bei der Aufnahme in die Kinder- wunschsprechstunde (der Berlin- Charlottenburger Universitäts- Frauenklinik) wirkte die 24jährige Patientin unruhig, getrieben, vol- ler Resignation und depressiver Klagen. Ihr Mann — sonst wenig anteilnehmend — bestätigt sie in ihrem dringenden Kinderwunsch.

Die Diagnose: somatisch unauffäl- lig; chronifizierte Neurose mit

Konversionssymptomatik. Neben zahlreichen psychosomatischen Beschwerden in der Bauchregion, einer unaufgelösten Elternbin- dung und sexuellen Störungen er- schien ihr Kinderwunsch extrem überwertig. Deshalb und wegen phobischer Ängste wurde zu einer ambulanten psychotherapeuti- schen Behandlung geraten, die die Patientin jedoch nach wenigen Monaten abbrach. Unmittelbar da- nach wurde die Patientin gravide.

Die Schwangerschaft war geprägt durch dauernde Beschwerden und sehr häufige Arztbesuche.

Eine Hyperemesis gravidarum, Schwindelgefühl, Depression, starke Schmerzen im Unterleib, rektale Inkontinenz, Kopfschmer- zen und Wirbelsäulenbeschwer- den verschafften ihr ein ständiges Umsorgtwerden von den oft ratlo- sen Ärzten.

Nach der Geburt eines Kindes war sie bitter enttäuscht, daß sie keine Tochter bekommen hat, was bei ihrer Problematik verständlich ist.

Mit ihrem Kind kommt sie nicht zurecht. Einerseits verhält sie sich überprotektiv, andererseits meint sie selbst, sie sei zu lasch, da das Kind zu bockig sei.

Wie wir aus einem angeforderten Arztbrief wissen, zeige das jetzt 3jährige Kind neurotische Störun- gen wie Diarrhoen, Tremor und schwere Eßstörungen. Die Patien- tin spreche von Ausbruchtenden- zen, daß ihr alles zu viel werde, und sie leide verstärkt unter Schlafstörungen, Appetitstörun- gen und Ängsten. Die Partnerbe- ziehung ist zerrüttet und gibt kei- ne Basis für das Kind.

Epikritische Reflexion: Was wäre geschehen, wenn die Patientin kein Kind bekommen hätte? Ange- sichts ihrer Neurose hätte sie ver- mutlich analoge Situationen her- beigeführt, mit denen sie ebenso- wenig fertig geworden wäre. Je- doch: Wieweit hätte die Patientin noch gezielter mit den Quellen ih- res Kinderwunsches konfrontiert werden können, bevor eine soma-

tische Sterilitätsbehandlung flan- kierend durchgeführt wurde?

Von einer anderen, nahezu grotes- ken Motivation des Kinderwun- sches können wir im Fall einer un- gewollt schwangeren jungen Frau berichten. Es war ihr die Freigabe des Kindes zur Adoption vorge- schlagen worden, welche sie mit Entschiedenheit unter folgender Begründung ablehnte: In ihrem Heimatmilieu, einem Unterkunft- stadtteil mit Asozialen, gehört Kin- derkriegen und Kinderhabenwol- len zur Legitimation des Frau- seins. Familien haben hier noch sechs bis neun Kinder. Eine Frau, die ein Kind weggibt, gilt als un- menschlich. Hier ist der Kinder- wunsch ein archaisches Frucht- barkeitsmotiv: Es geht um den Be- sitz möglichst vieler Kinder. Die Individualität des einzelnen Kin- des wird nicht in Betracht gezo- gen — deshalb ist zwar der Schwangerschaftsabbruch ohne weiteres denkbar, denn ein Kind ist ja ersetzbar, nicht aber die Adoption, denn bei der Freigabe zur Adoption stünde die Individua- lität des Kindes, nicht aber die ar- chaische Große Mutter im Mittel- punkt. Der Mythos der Großen Mutter und der Mythos der Mach- barkeit sind eine unheilige Ehe eingegangen. Diese Mythen in sich selbst zu überwinden gelingt nur reifen Persönlichkeiten. Den Entschluß zur Adoptionsfreigabe findet man deshalb vorwiegend bei solchen Konfliktschwangeren, die voller Verantwortung weniger an sich, vor allem aber an die Ent- wicklung ihres werdenden Kindes denken.

Phänomene der Kindesankunft Der Kinderwunsch ist ein individu- alistischer psychologischer Vor- gang. Auch dem herakleischen Mythos des Machens liegt ein indi- vidualistischer Prozeß zugrunde, in dem das Machenkönnen als Selbst-Verwirklichung, besser:

Ich-Verwirklichung erscheint.

Demgegenüber gehören folgende vier Phänomene der Kindesan- Ausgabe A DEUTSCHES ÄRZTEBLATT 80. Jahrgang Heft 41 vom 14. Oktober 1983 93

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kunft einer anderen Dimension des Erlebens an: Ergriffensein und Notwendigkeit; ahnende Gewiß- heit; gesteigerte Wahrnehmung;

Dreierbeziehung.

Ergriffensein und Notwendigkeit sind überpersönlicher Natur. Ihre Wahrnehmung bedarf einer be- sonderen Sensibilität und Bereit- schaft, einer inneren Haltung, die von der zielgerichteten Einstel- lung des Machens höchst ver- schieden ist. (Im Begriff der den Philosophen der Antike so wichti- gen „Kontemplation" wird diese abwartend schauende, besinnli- che Art der Wahrnehmung, bezo- gen auf das Selbst und die Um- welt, verdeutlicht). — Eltern mit ei- ner solchen Haltung berichten übereinstimmend von einem Wil- len, der außerhalb ihrer selbst bei der Zeugung wirkt, ohne aber psy- chische Projektion zu sein. Es ist ein Wille, jenseits von Willkür und Wunsch. Das Ergriffensein wird anders erlebt als die sexuelle An- ziehung mit ihren erotischen Qua- litäten von Lust und verführeri- schem Spiel. Erotik ist beheimatet in unserer seelischen Empfin- dung, sei sie grobsexuell oder als feinste Differenzierung. Hier aber waltet eine Kraft, die von einigen Paaren als Notwendigkeit bezeich- net wird, nicht jedoch als Zwang.

Die Verse Goethes in den orphi- schen Urworten können das ver- deutlichen:

„Nötigung"

„Da ist's denn wieder, wie die Sterne wollten:

Bedingung und Gesetz; und aller Wille ist nur ein Wollen, weil wir eben sollten, und vor dem Willen schweigt die Willkür stille;

das Liebste wird vom Herzen weg- gescholten, dem harten Muß bequemt sich Will und Grille".

Zur Illustration ein Fall aus der Praxis (nach W. Dmoch 1982):

„Ein 42jähriger japanischer Ge-

schäftsmann hatte die 17jährige Tochter eines Freundes bei sich zu Besuch in Deutschland. Das Mädchen war sehr behütet erzo- gen und hatte, wie es später for- mulierte, vom Vater immer die Er- mahnung bekommen, niemals mit einem fremden Mann allein in ei- nem Zimmer zu sein. Dieser Ge- schäftsfreund des Vaters aber war für sie wie ein Stellvertreter des Vaters: verehrt, geachtet, vertrau- enswürdig.

Bei Arbeiten in einem Archiv traf sie mit diesem Mann in einem ab- gelegenen Raum zusammen, und wie sie später erzählte, entstand binnen Minuten eine intensive, ge- spannte Situation. Sie fühlte sich von ihm gefaßt, und trotz ihrer Ge- genwehr kam eine sexuelle Be- gegnung zustande, welche zur Schwangerschaft führte. Beide sprachen wochenlang nicht mehr darüber, obwohl sie sich gelegent- lich sahen. Das Mädchen kam nach einem Suizidversuch zur

Schwangerschaftskonfliktbera- tung in die Frauenklinik, seltsa- merweise vom Kindesvater beglei- tet. Er drückte seine tiefe Beschä- mung und gleichzeitig sein Unver- ständnis über sein Handeln aus.

Einerseits kritisierte er sein Ver- halten als verabscheuungswürdig, andererseits konnte er sich dem Eindruck des unwiderstehlichen Ergriffenseins nicht entziehen, das er deutlich von einem bloß se- xuellen Impuls unterschied. Immer wieder betonte er sein Nicht-ver- stehen-Können. Ähnlich sprach das Mädchen. Freilich war sie von den möglichen sozialen Konse- quenzen der Schwangerschaft viel stärker belastet, da sie in nächster Zukunft nach Japan zurückkehren sollte.

Dennoch war auch von dieser Pa- tientin die Erlebnisqualität des Er- griffenseins, des Überwältigtwer- dens zu erfahren; freilich hatte sie Mühe, diese subjektive Erfah- rungsqualität zu trennen von der Erfahrung der körperlichen Ge- walt durch diesen Mann. Bei der Rückbesinnung auf die minuten- lang anstehende Atmosphäre der

Spannung war ihr dies jedoch möglich."

Nicht nur dem Arzt ist bekannt, daß gar nicht so selten Frauen ei- ne uns eigentümlich scheinende Gewißheit der Konzeption zu ei- nem Zeitpunkt besitzen, zu dem das, was in der klassischen Gynä- kologie als unsichere Schwanger- schaftszeichen betrachtet wird, noch nicht vorhanden ist und auch keine klinisch-biochemische Methode der Schwangerschafts- diagnostik eine objektive Ent- scheidung ermöglichen könnte.

Diese Ahnung der Frau findet ihr Pendant in der selteneren Ahnung des Mannes im Hinblick auf die stattgehabte Zeugung, die eben- falls empirisch belegbar ist. Diese Ahnung geht bis zur Gewißheit.

Die ausbleibende Menstruation und der positive Ausfall von Schwangerschaftstesten werden zum sekundären Zeichen für die ursprüngliche Gewißheit. Daß dennoch auch Gynäkologen ver- gleichsweise selten mit Wahrneh- mungen dieser Art konfrontiert werden, mag daran liegen, daß ih-

re existentielle Ursprünglichkeit vor der rationalen Wissenschaft-

lichkeit der Medizin keinen Platz hat und leicht als Einbildung und Spinnerei einer überspannten Frau abgetan wird.

Ähnliches gilt für den Zustand ge- steigerter Sinneswahrnehmung.

Dieser wurde bisher überwiegend von Frauen berichtet. Er dauert et- wa 24 Stunden im Anschluß an die konzipierende Geschlechterbe- gegnung. In diesem veränderten Zustand erscheint den Frauen ihr eigener Leib, ihre eigene Stim- mung und die Welt heller und lichtvoller. Diese lichtvollere Leib- und Weltwahrnehmung zur Zeit der Konzeption faßte eine Frau in folgende Worte: „Unerklärlich gu- te Laune — also Ausdruck einer leiblichen Stimmung — herrschte für etwa einen halben Tag ... Ich nahm dann alles in einer mir un- wirklich vorkommenden Intensität wahr, nicht wissend, daß wir sonst meist deprimiert durch die Welt gehen."

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen Beziehung zur Kindesankunft

Frauen unterscheiden diese ver- änderte Wahrnehmung und Stim- mung eindeutig vom höchsten Lustgefühl des Orgasmus, ebenso von euphorischer Stimmung und von Halluzinationen.

Die Partner können Zeugung und Konzeption als Ankunft eines Drit- ten erleben. Zwar entsteht diese Dreierbeziehung unterhalb der Bewußtseinsschwelle, gelegent- lich aber wird in der spannungsge- ladenen Geschlechterbegeg nung das Dritte bewußt von den Paaren als zwischen ihnen Entstandenes wahrgenommen. Sei es, daß sie die Worte dazu finden: „es ist ein Kind entstanden" oder: „etwas",

„jemand" ist zwischen uns da. Es stellt sich die Wahrnehmung von etwas Bestimmtem ein, ohne daß unsere Sprache dafür selbstver- ständlich einen Namen bereithiel- te — die Selbstverständlichkeit ver- läßt uns angesichts des Außerge- wöhnlichen. Doch es ist nur des- halb etwas Außergewöhnliches, weil wir die Fähigkeit zur Ahnung, zum Schweigen und Schauen weitgehend verloren haben. So kann sich die Einsamkeit des ein- zelnen über die Offenheit der Zweierbeziehung zur Dreierbezie- hung wandeln. Diese phänomena- le Vierheit (Notwendigkeit, Gewiß- heit, gesteigerte Wahrnehmung, Dreierbeziehung) zum Zeitpunkt von Konzeption und Zeugung ist keine neue Entdeckung, es sind teilweise altbekannte Erlebnisse.

Jedoch können sie heute bedeu- tungsvoll und hilfreich werden, wenn wir nach solchen anthropo- logischen Kriterien für die Ankunft eines Menschen suchen, die empi- risch fundiert sind. Aus diesen Kri- terien können wir Hinweise erhal- ten, ob wir als Ärzte handeln oder besser auf Handeln verzichten sollten.

Ein Kind kommen lassen

Kommenlassen ist nicht Passivität.

Kommenlassen heißt: in aktiver Erwartung sein, ohne das Kom- men zu erzwingen. Die Haltung des Kommenlassens ist ganz an-

dersartig als die des Machens. Die herakleisch-heroische Haltung des Machens maßt sich im Ex- tremfall an, die Dinge nach dem eigenen Bilde, dem eigenen Wunschbilde, letztlich nach eige- ner Willkür oder nach irrationalen, schwer durchschaubaren Motiven zu gestalten. Kommenlassen ist aktive Hingabe, basierend auf sen- sitiv gesteigerter Wahrnehmung.

Aber weder die zeugende Hingabe des Mannes noch das aktive Emp- fangen der Frau ist ein Tätigsein aus der Sphäre des Machens.

Kommenlassen ist kein Fatalis- mus. Vielmehr heißt es, aus inne- rer Einsicht in die Notwendigkeit des eigenen Fruchtbarkeitsschick- sals zu handeln. Dazu gehört Spürsinn und innere Wahrneh- mungsfähigkeit. Ein Kind kommen lassen kann sowohl den Termin wie die Anzahl der Kinder betref- fen. Wir können Konzeptionster- mine zwar verhindern, aber wir können sie nicht festlegen — wir können nur bereit sein. Es heißt zu Recht im Volksmund: „Das Kind kommt, wann es will."

Daß auch die Anzahl der Kinder nicht nur unserem bewußten Vor- satz anheim gegeben ist, mag fol- gende Kasuistik illustrieren: Eine 35jährige Sozialarbeiterin stammt aus einer 9-Kinder-Familie. Da sie sich in dieser kinderreichen Fami- lie zu kurz gekommen fühlte, hatte sie sich vorgenommen, nur zwei Kinder in die Welt zu setzen. So kam es nach der Geburt ihrer er- sten zwei Kinder zu zwei legalen Schwangerschaftsabbrüchen und zur Sterilisation beim zweiten Ab- bruch. Die definitive Kontrazep- tion scheint wie ein Schock ge- wirkt zu haben: Fast unmittelbar danach merkte sie, daß sich ihr Leben so nicht erfüllen könne, ob- wohl sie privat - und beruflich in befriedigend zu nennenden Ver- hältnissen lebte. Sie bemühte sich intensiv um eine Refertilisierung, die schließlich auch Erfolg hatte.

Sie gebar danach ein Kind mit Mi- krozephalie bei Listeriose und hat- te im gleichen Jahr noch einen Spontanabort. Zum Zeitpunkt un-

seres Gespräches befand sie sich in der 11. Schwangerschaftswo- che ihrer siebenten Gravidität mit ausgeprägter Hyperemesis gravi- darum. Obwohl mehrere Ärzte von weiteren Schwangerschaften ab- geraten hatten, hatte sich diese siebente Schwangerschaft einge- stellt nach Teilnahme an einer ein- wöchigen Tagung über „Dimen- sionen vorgeburtlichen Lebens", die bei dem Paar Erschütterung und intensive Besinnung bewirkt.

Bei dieser Frau ist zwar auch eine seelische Störung erkennbar, wie sie unter anderem von Molinski (1972) oder neuerdings von Teich- mann (1983) beschrieben ist, und sie selbst spricht von Problemen mit ihrem Mann. Entscheidend aber ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, daß diese Frau sich zunächst gegen eine größere An- zahl von Kindern wehrte. Im Laufe von sechs Jahren mußte sie die bittere Erfahrung machen, daß es ihr offenbar zukäme, mit mehreren Kindern ein sinnerfülltes Dasein zu führen. Im Nebensatz erwähnte sie auch, daß ihr Mann und sie sogar das Nest dazu gebaut hät- ten: Sie bewohnen ein großes Landhaus mit großem Garten, wo fünf Kinder gut und gern aufwach- sen könnten. Erst über die Jahre lernte diese Frau die mediale Hal- tung des Kommenlassens — eine Haltung, die zwischen der Überak- tivität des Machens und passiver Spannungslosigkeit liegt.

Im Leben unserer Zeit gibt es ener- giegeladene Aktivitäten oder ab- geschlaffte Passivität. Die Mitte fehlt — es fehlt auch die Schwin- gung, die in einer fruchtbaren Spannung beide Extreme verbin- den könnte. Unter diesen beiden Extremen ist die Haltung des akti- ven Bereitseins, des aufmerksa- men Schweigens, der Hingabe, ohne sich selbst aufzugeben, in Vergessenheit geraten. Dabei ge- hört es zu unserem ärztlichen Ethos: bereit zu sein, ohne gleich zu handeln, geduldig zuzuhören, ohne Ratschläge zu erteilen, und das Gehörte schweigend in uns zu bewegen — vielleicht hat die heute häufig nur noch strafrechtlich be- Ausgabe A DEUTSCHES ÄRZTEBLATT 80. Jahrgang Heft 41 vom 14. Oktober 1983 97

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deutungsvolle Schweigepflicht auch diesen Sinn für uns Ärzte, nämlich die Probleme unserer Pa- tienten zuerst in uns aufzuneh- men, sie zu durchdringen, bevor wir zur Tat schreiten.

Kommenlassen ist eine Frage des Sich-Zeit-Lassens - wer handelt, ohne auf seine persönliche Zeit als selbständige Wesensgestalt zu achten, der handelt destruktiv, sol- ches Handeln ist nicht zukunfts- trächtig: "Le temps ne respecte rien qui s'est fait sans lui." (Die Zeit schont nichts, was ohne sie zustande kam).

Es hängt von unserer Verantwor- tung ab, wie die Kinder von mor- gen aussehen werden. Damit be- stimmen wir das Gesicht der zu- künftigen Weit. "Die Schöpfung geht weiter" (F. Künkel): Mit unse- rem sensiblen oder blinden Han- deln sind wir die Transformatoren der Schöpfung - ganz gleich, ob wir die Schöpfung als Christen mit einer religiösen Haltung oder als naturwissenschaftlich ausgebilde- te Ärzte betrachten. Das Thema ist weder nur wissenschaftlicher noch nur psychologischer, noch nur soziologischer Art - es geht um eine geistige Bewußtheit über die Ankunft des Menschen.

Literatur bei den Verfassern Anschriften der Verfasser: Prof. Dr. med. Peter Petarsen Arbeitsbereich Psychotherapie im Zentrum Frauenheilkunde Medizin

der Medizinischen Hochschule Hannover

Pasteurallee 5 3000 Hannover

Dr. med. Alexander Teichmann Zentrum Frauenheilkunde - der Universität Göttingen Humboldtallee 3

3400 Göttingen

Anmerkung der Redaktion: Von denselben Verfassern wird in einem der nächsten Hefte des DEUT- SCHEN ÄRZTEBLATTES ein an die- ses Thema anknüpfender Aufsatz unter dem Titel "Der Kampf um die Fruchtbarkeit" veröffentlicht.

Gesetzlich geforderte Entscheidungshilfe

,,Medizinische Orientierungsdaten''

Cornelia S. Behrens, Klaus-Dirk Henke, Maria Rita Heuser, Bernt-Peter Robra und Friedrich-Wilhelm Schwartz*)

Fortsetzung von Heft 40/1983 und Schluß

Demographische Struktur als Ausgaben-Determinante Die Bevölkerungszahl und die Al- ters- und Geschlechtszusammen- setzung determinieren Art und Umfang der Gesundheitsleistun- gen und damit auch der Gesund- heitsausgaben. Änderungen der absoluten Zahlen der Wohnbevöl- kerung (einschließlich Wande- rungsbewegungen definitionsge- mäß eingeschlossener Ausländer) sind gering. Im Jahre 1970 betrug die Wohnbevölkerung im Jahres- durchschnitt 60,7 Millionen, im Jahr 1980 61,5 Millionen Einwoh- ner. Das demographische Bild ist durch Geburtendefizite, sinkende Mortalitätsraten und durch eine zunehmende Alterung der Bevöl- kerung gekennzeichnet.

Um zu bestimmen, welchen Ein- fluß Änderungen der Bevölke- rungsstruktur nach Alter und Ge- schlecht auf die Ausgabenent- wicklung des Gesundheitswesens haben, wurden verschiedene Computerauswertungen durchge- führt, die Daten über die Bevölke- rungssstruktur mit gegebenen Al- ters-Kosten-Relationen bzw. Al- ters-Morbiditäts-Relationen ver- knüpften (2, 3, 4, 5).**)

Insgesamt vermitteln diese ver- schiedenen Berechnungen ein im wesentlichen übereinstimmendes

Bild: von 1970 auf 1980 ist durch

..,.. Änderung der absoluten Bevöl- kerungszahl

..,.. Änderung der Altersstruktur der Bevölkerung

..,.. Änderung der Geschlechts- struktur (kleine Zunahme der "teu-

ren" Frauen)

ein Kostenanstieg von insgesamt 4 bis 5 Prozent (Faktor 1,04 bis 1 ,05) zu erklären.

Dabei ist zu beachten, daß nur Än- derungen in der Anzahl der Perso- nen in den einzelnen Alters- und Geschlechtsgruppen berücksich- tigt werden konnten. Eine Intensi- vierung geriatrischer Versorgung (z. B. Herzschrittmacher, Beta- Blocker) aufgrund neuer Behand- lungsmethoden konnte dagegen nicht beschrieben werden,

')Zusammenfassung eines Gutachtens mit dem Original-Titel "Analyse der Ausgaben- entwicklung in der gesetzlichen Krankenversi- cherung (GKV) in den Jahren 1970 bis 1980 im Hinblick auf die Formulierung .Medizinischer Orientierungsdaten' für die ,Konzertierte Ak- tion im Gesundheitswesen', März 1983". Er- gebnisse eines Arbeitskreisesam Zentralinsti- tut für die kassenärztliche Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland (ZI), Köln, 1983.

Mitglieder: Diplom-Volkswirt Maria Rita Heu- ser, Privatdozent Dr. med. Friedrich-Wilhelm Schwartz (beide Zentralinstitut Köln); Cornelia S. Behrens, M. A.; Prof. Dr. rer. pol. Klaus-Dirk Henke (beide Institut für Volkswirtschaftslehre an der Universität Hannover- Schwerpunkt: Öffentliche Finanzen -) und Dr. med. Bernt- Peter Robra, M.P.H. (Institut für Epidemiologie und Sozialmedizin an der Medizinischen Hochschule Hannover, Hannover)

'')Die Ziffern im Text beziehen sich auf die Literaturangaben im Sonderdruck. (Das Gut- achten kann beim Zentralinstitut für die kas- senärztliche Versorgung, Haedenkampstr. 5, 500 Köln 41, angefordert werden).

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