DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
EDITORIAL
Die Medizin im Lichte neuerer Logiken
Grundlagen
Die angewandte Medizin — in Diagnostik, Prognostik und Therapie — besteht im Grun- de aus folgenden Schritten:
0 der vorurteilsfreien, von Wunschdenken nicht beein- flußten Feststellung der Tat- sachen;
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der logischen Bearbei- tung dieser Tatsachen über Akkumulation, Analyse, Ge- wichtung bis zu induktiven oder (zuverlässiger, aber in praxi seltener:) deduktiven Schlüssen (Lit. u. a. bei [1]und [2]);
der Anwendung der unter (1) und (2) genannten Prinzi- pien auf den speziellen Kranken mit seinen Beson- derheiten, mit seinem psy- chosozialen Hintergrund, mit seiner Einmaligkeit, um das Beste gerade für ihn daraus zu machen.
Zwar wird die Medizin mit der ständig sich ausweiten- den Bedeutung physikali- scher, chemischer, immuno- logischer, morphologischer Verfahren immer mehr von einer Kunst oder von der In- tuition zur angewandten Wis- senschaft. Gleichzeitig ha- ben aber einige „neuere" lo- gische Verfahren die Frage aufgeworfen, ob und wie ein Arzt auch diese Methoden in den Dienst seiner Tätigkeit am Krankenbett stellen
kann. Zu einigen dieser „aty- pischen" Logiken („deviant logics" [4]) sei betont, daß der Ausdruck „neu" hin- sichtlich ihrer Erfindung si- cher nicht zutrifft: So hat z. B. Lukasiewicz seine mehrdimensionale Logik schon 1920 vorgelegt, ja schon Aristoteles Zweifel an den heute überwiegend gül- tigen binären Systemen — den Sätzen vom ausge- schlossenen Dritten — ge- äußert (Lit. u. a. bei [6]). Neu wäre eine breitere Anwen- dung, für die sich über die sogenannten exakten Wis- senschaften hinaus vielleicht kein Fach mehr eignet als die Medizin. Zweifellos führt die konventionelle Logik — die weitere Entwicklung und der bisherige Abschluß der Aristotelischen Syllogistik — zu einer kaum mehr zu über- treffenden Präzision. Ob aber nicht vagere Vorstellun- gen und Schlüsse der Rea- lität näherkommen, wie Du- hem schon 1904 für die theo- retische Physik annahm (zit.
n. 4): ist,gerade in der Medi- zin mit ihrer unübersehbar großen Zahl von Variablen, mit ihrer Zuwendung zum In- dividuum durchaus offen.
Verschwommenes Denken
(„fuzzy thinking")
„Fuzzy thinking" (am besten übersetzt mit undeutlichem oder verschwommenem
Denken) wurde von dem amerikanischen Ingenieur Zadeh (z. B. 7, 8) entwickelt, um Probleme zu lösen, de- ren Komplexität einer exak- ten Logik nicht zugänglich erschien. In der fuzzy set- Theorie gibt es alle Grade von Wahrscheinlichkeit zwi- schen 1 (= sicher) und 0 (=
ausgeschlossen), s. a. bei (1). Die Wahrheitswerte schwanken sinngemäß — wie bei anderen Systemen die- ser Art — von absolut sicher über ziemlich sicher, mehr oder minder sicher, wenig si- cher, unwahrscheinlich bis zu ausgeschlossen.
Die heute überwiegend sub- jektiv interpretierte Wahr- scheinlichkeitslehre als
„Maß vernünftigen Glau- bens" oder als „Einsatz bei einer fairen Wette" (1) reicht demgemäß über Werte von 1,0 bis 0. Zadeh und Bellman (8) gingen einen Schritt wei- ter und verzichteten — min- destens teilweise — auf Axio- me, Vollständigkeit, Konsi- stenz, wechselseitigen Aus- schluß (durchweg „heilige Kühe" der klassischen Lo- gik). Damit ist auch der Schritt getan von der physi- kalisch notwendigen Wahr- heit über die (rein formal be- gründete) grammatikalische Wahrheit bis zur semanti- schen (durch ihren Inhalt be- gründeten) Wahrheit als be- stimmendem Kriterium. Die Logik von Freges „Be- griffsschrift" (1867)
sowievon Russell und White- heads „Principia mathemati- ca" (1910) wurde damit auf- geweicht. Ebenso wie die noch zu besprechende mehrdimensionale Logik
1946 (60) Heft 25/26 vom 21. Juni 1985 82. Jahrgang Ausgabe A
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kommen solche Abschwä- chungen aber der Anwen- dung in der Praxis entgegen und machen eine Aussage auf der Grundlage der in der Medizin bis dato vorliegen- den Kenntnisse und Informa- tionen leichter und vielleicht wirklichkeitsnäher. Dies soll- te allerdings in meiner Sicht zur Vermeidung der häufi- gen Konfusionen an Bedin- gungen geknüpft sein:
• Man sollte sich bewußt sein, daß man einen Schritt weg von der klassischen Lo- gik oder ihrer modernen Fortentwicklung geht und daß man nicht aus Ignoranz oder aus den in der Medizin so beliebten ad hoc-Taktiken heraus handelt.
O Man sollte auch in diesen Fällen zunächst versuchen, durch Präzision, etwa im Sinne der klassischen Logik, weiterzukommen.
Mehrdimensionale Logiken
Obwohl zum Teil älter, unter- scheiden sie sich von der
„fuzzy logic" nicht grundle- gend. Die einfachste Form erweitert eine wahre Aussa- ge wie „vorhanden" und
„nichtvorhanden" um den Zwischenbegriff „möglich".
Dies ist schon der Kern der seit Aristoteles bekannten und benutzten sogenannten Modallogik. Auch hier wird der Arzt sofort die Bezie- hung zur Situation in der Praxis erkennen. Unter den vielen moderneren Formen seien beispielhaft nur Priors 4 Dimensionen (5) genannt:
O wahr, auch rein mathe- matisch (oder: wahr und als wahr bekannt);
• wahr, aber mathematisch nicht erwiesen (oder: wahr, aber nicht bekannt, ob wahr);
(i)
falsch, aber mathema- tisch nicht widerlegt (oder:falsch, aber nicht als falsch bekannt);
• falsch, auch rein mathe- matisch (oder: falsch und als falsch bekannt).
Darüber hinaus gibt es eine ganze Anzahl von mehrdi- mensionalen Logiken. Sie kommen gerade der Anwen- dung in Diagnostik und The- rapie sehr entgegen. Wir müssen uns daher fragen, weshalb sie sich gegenüber der klassischen, zweiwerti- gen Logik (richtig — falsch oder: vorhanden — nicht vor- handen) so wenig durchge- setzt haben.
Grenzen
mehrwertiger Logiken O Der erste Einwand be- steht darin, daß sie von ein- zelnen mit ganz verschiede- ner Nomenklatur und ver- schiedener Bedeutung ein- geführt wurden, wohl des- halb auch auf jeweils wenig Resonanz stießen.
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Auf der gleichen Ebene liegt, daß sie nicht annä- hernd so gut ausgearbeitet wurden wie die zweidimen- sionale, durch ihren Satz vom „ausgeschlossenen Dritten" gekennzeichnete Logik. Mehrdimensionale Lo-giken werden in den meistem Standardwerken sozusagen mit erwähnt, sie bilden aber nicht die einheitliche Be- griffssprache der Logiker, sozusagen ihre Basis.
(;)
Obwohl sich Computer in der Medizin aus Gründen, die wir an anderer Stelle mehrfach behandelt haben (z. B. 3) noch keineswegs als Universalmaschinen durch- gesetzt haben, sind alle wichtigen Anwendungen zur Zeit (und vermutlich auf lan- ge Zeit!) auf binäre Systeme (1 oder 0) eingerichtet. Die Umstellung auf multidimen- sionale Logiken würde eine heillose Verwirrung schaffen und den technischen Fort- schritt in der Praxis hem- men. Dies allerdings sollte Ärzte nicht hindern — und die meisten tun es schon mehr oder minder bewußt —, in ihren persönlichen Urtei- len mehrdimensionale Logi- ken zu gebrauchen. Auch darin ist das menschliche Gehirn zur Zeit eben den Maschinen überlegen.Literatur
(1) Gross, FL: Einige logische Grundla- gen und Grundfragen der Medizin. Dtsch.
Arztebl. 70, 2319, 2322, 2462, 2538, 2605 (1973). (2) Gross, R.: Der Kranke, der Arzt, die Technologie. Dtsch. Ärztebl. 70, 2888, 2897 (1973). (3) Gross, R.: Können Computer ärztliches Können ersetzen.
Dtsch. Ärztebl. 82, 912 (1985). (4) Haak, S.: Philosophy of logics. Cambridge Univ.
Press, 1980. (5) Prior, A. N.: Formal logic.
Oxford Univ. Press 1955. (6) Rescher, I. V.:
Many-valued Logic. New York, McGraw Hill, 1969. (7) Zadeh, L. A.: Fuzzy sets, In- formation and control 8, 1965. (8) Zadeh, L. A. und Bellman, R. E. in Epstein und Dunn: Modern uses of multiple-valued lo- gic. Dordrecht, Reidel, 1977.
Professor Dr. med.
Rudolf Gross
Haedenkampstraße 5 5000 Köln 41
Ausgabe A 82. Jahrgang Heft 25/26 vom 21. Juni 1985 (61) 1947