Hajo Seng
Leben mit Autismus
→ autistisches Erleben
Autistisches Erleben
frühe Stimmen autistischer Menschen:
Temple Grandin (1986)
„Emergence Labeled Autistic“
Dietmar Zöller (1989)
„Wenn ich mit euch reden könnte“
ab den 1990er Jahren: autistische Communities Here, with people who shared my language, meaning flowed freely and easily.
Autistisches Erleben
ab Ende der 1990er Jahre: selbstorganisierte Gruppen in Deutschland unzählige biographische Darstellungen
autistische Projekte Autreat (1996) AutScape (2004) Aspies (2004)
Autismus-Forschungs Kooperation (2007) autWorker (2009)
Workshops „Autistische Fähigkeiten“
> 150 Workshops
> 1000 autistische Menschen
vorwiegend Jugendliche u. junge Erwachsene
Perspektiven im Autismusspektrum
Er erinnerte sich, wie er sich in einem Spiegel anstarrte und versuchte, seinen Mund zu Bewegungen zu zwingen.
„Alles was das Bild tat, war zurück zu starren“.
Er erinnerte einen Arzt, der seinen Eltern sagte, Tito könne nicht
verstehen, was um ihn herum geschieht, und er erinnerte die
Antwort seines Wahrnehmungs-Selbst:
„‚Ich verstehe sehr gut‘, sagte der Geist in dem Jungen.“
Autismus aus einer Verhaltensperspektive
Fokus auf Verhalten
Defizite: Kommunikation Sozialverhalten
Interessen, Routinen
Entfremdung, Verkennung
„Störung“
Das Gefühl der Entfremdung vom eigenen
sozialen Umfeld ist ein Kernbestandteil des
Erlebens autistischer Menschen.
Wie erleben autistische Menschen ihren Autismus?
anders sein
ausgeschlossen sein stigmatisiert sein
unpassendes soziales Umfeld
Entfremdung von der eigenen Umgebung zunehmende Exklusion
Verlust von Selbstbestimmung
Das Autistischsein verbindet sich vor allen Dingen mit der Erfahrung, ausgeschlossen zu sein.
Also ich sag mal Exklusion.
Wie erleben autistische Menschen ihren Autismus?
missverstanden werden
andere Ich-Wahrnehmung
missverstandene Reaktionen
andere Körperwahrnehmung, andere psychische Bedürfnisse als kompromittierend erlebte Verhaltensweisen
andere Kommunikationsweisen
verkannte Fähigkeiten und Potenziale
Ich würde sagen, die Denkweise von uns ist anders als die von anderen.
ich denk viel komplizierter als die,
zum Beispiel mein Bruder oder Mutter.
Perspektivwechsel
Ich bin hier unter Leuten, die genau so sind wie ich, da fühlt man sich eigentlich schon relativ wohl.
Also da [unter autistischen Menschen] versteht man sich schon innerhalb von 'ner kurzen Zeit extrem freundschaftlich und kennt sich dann in einer kurzen Zeit schon sehr gut.
Und auf einmal wurd' ich sowas von verstanden, es war nix unklar.
Also im Autismus, alle Autisten
untereinander können sich verstehen, obwohl sie anders formulieren.
Blick von innen
Wenn man halt Autist ist, dann hat man quasi seine eigene Gedankenwelt
wenn ich innerlich richtig, und macht sich sein eigenes dann bin ich innerlich Gedankenbild.
gut aus-… aufgebaut,
freu mich innerlich richtig.
Ich benutz manchmal Fachbegriffe, die andere gar nicht kennen,
hab ich das Gefühl. Also die Normalos gar nicht kennen so;
so will ich es meinen.
Eine spezifische Weise zu denken und wahrzunehmen
anders denken, anders wahrnehmen
soziale Welt analytisch und rational Objektwelt intuitiv
anderes Verhältnis von Innen- und Außenerleben Übersetzen von Gedanken in Sprache
Ich wollte nen Text schreiben, son Satz wie „Die Katze jagt den Hasen“ und
dann stand da am Ende „D K ja d H“, weil ich war eigentlich noch mit der Hand beim Schreiben von „Die Katze“
war, aber in Gedanken schon längst,
„Was passiert dann mit dem Hasen?“
Beispiel 1: Hannah
sprachfern (spricht undeutlich), schreibt ungern
wird deswegen häufig unterschätzt
legt großen Wert auf Regeln und Gerechtigkeit assoziative Verknüpfungen
Ich kann mir Wege merken im Kopf;
ich brauch kein Navi,
ich find' den Weg überall hin.
Also ich brauch' so keine Karte,
wenn ich wo irgendwo hin will.
Mod.: Also sind das die Geschichten, die sich da entwickeln, oder sind es dann die Figuren, die da auf-
Hannah: Die Figuren.
Mod.: auftauchen. [..] hast du da für dich so Lieblingsfiguren Hannah: Nö.
Mod.: mit denen du arbeitest, oder da geht's Hannah: unterschiedlich
Mod.: geht's eher die unterschiedlichen Figuren auszutesten Hannah: Ja.
Mod.: und damit dann auch zu arbeiten Hannah: Ja.
Co-Mod.: Auch sich da 'reinzuversetzen in die Figuren
Hannah: Nö.
Autistisches Denken?
Was es bedeutet, wie Hannah zu denken:
sehr viele Informationen in kurzer Zeit komplexe Informationen ad hoc
sehr präzise Informationen
und weiter:
ausgeprägte, stringente Logik / starker Gerechtigkeitssinn gutes Gedächtnis / gute Orientierung
Gedanken übersetzen
assoziative Verknüpfungen
emotional eher offen, verletzbar
Eine andere Perspektive
Orientierung an der Sache hohe Genauigkeit
Beispiel 2: Matti
– offenes W-Lan im Bahnhof
– günstige Unterkünfte recherchieren – Erreichbarkeit recherchieren
– Auswahl und Kontaktdaten – anrufen, reservieren
– Weg via Navi finden
Wenn meine Mutter wüsste, was ich hier mache ...
Matti
sprachfern?
sprachlich versiert stringente Logik?
eher pragmatische Logik sehr strukturiertes Denken bildhaft, assoziativ?
analytisch
gute Orientierung, gutes Gedächtnis?
schlechter Orientierungssinn emotional offen, verletzbar?
offen als Persönlichkeit
unscharfe Trennung von Innen- und Außenerleben
Ein anderes autistisches Denken?
Was es bedeutet, wie Matti zu denken:
Muster und Strukturen erkennen
Dinge in ihrer Komplexität verstehen
„Theory of Function“: Intuition für funktionale Zusammenhänge
und weiter:
wenig ausgeprägte Logik, höhere Flexibilität
eher schlechtes Gedächtnis / schlechte Orientierung weniger „Übersetzungsverlust“
sprachlich versiert
Eine andere Perspektive
kreative Sprache
kreative Ausdrucksweisen analytisches Denken
Autistisches Denken, autistisches Wahrnehmen
Temple Grandins (Selbst-)Beobachtungen
autistische Menschen sind Bilderdenker Denken in Bilder statt in Sprache
assoziatives Denken / analytisches Denken
unterschiedlicher Grad der Integration sprachlichen Denkens bewusstes Unbewusstes
eigene Erfahrungen
kein Bilderdenker aber Strukturen
Denken in Mustern bzw. Strukturen statt in Sprache eher Hören als Sehen
Musik / Mathematik
Es gibt ein ganzes Spektrum autistischer Denkstile Diversität aber nicht beliebig
Sprache und Denken
Der Mensch wohnt in der Sprache
„Sprache ist das Haus des Seins“, stellte Mar- tin Heidegger fest. Der Mensch wohnt sozusa- gen in diesem Haus der Sprache, er ist Teilneh- mer an der Sprache und benötigt sie, um zur Welt in Kontakt zu treten. Eng verbunden ist Sprache auch mit der Endlichkeitserfahrung des Menschen. „Wer spricht, ist nicht tot“, sagte Gottfried Benn.
ORF: „Sprache ist das Haus des Seins“, 2017
Autismus bedeutet getrenntes Denken
Sprach- und Wahrnehmungsverarbeitung decken sich nicht
sprachliche und wahrgenommene Wirklichkeiten unterscheiden sich (mindestens) zwei Ebenen des Wirklichkeitserlebens
sprachlich: konzeptbasiert, sozial vermittelt wahrnehmungsbezogen: spezifisch, fragmenthaft
In-der-Welt-Sein
soziale Wirklichkeit Selbstwahrnehmung
Zusammenspiel von
Angeborenem und Erworbenem
sozialen, psychischen und sozialen Aspekten Individuum und (soziale) Umwelt
Was bedeutet getrenntes Denken?
Der Weg vom Selbst zum (sozialen) Ich:
setzt voraus: Überlagerung von
(Spiegel-)Bild und Bezeichnung Wahrnehmung und Sprache
bedeutet: Maskierung
das Selbst hinter der Person die Wahrnehmung hinter der Sprache
Ohne vollständige Überlagerung:
Selbst: Selbstbezug statt soziale Rolle Fokus: Objektwelt statt soziale Welt Welt: Verbundenheit statt Distanz
Ein Spektrum autistischer Denkstile
Objekte, Bilder ↔ Muster, Strukturen visuell ↔ auditiv ↔ taktil ↔ …
sprachfern ↔ sprachnah sprechen ↔ schreiben
Objektperspektive ↔ sprachliche Perspektive
weitere Aspekte (etwa Motorik)
Wahrnehmungsverarbeitung
erzeugt Verweise: Erinnerungen, Erwartungen etc.
verwandelt Sinneseindrücke in Zeichensysteme
Denken bedeutet abbilden
Denken und Zeichensysteme
Zeichensystem Sprache:
Begriff ↔ Logik ↔ Schriftbild / Sprachklang Deuten, Bedeuten, Konzept, soziale Beziehungen
visuelles Zeichensystem:
Bilder, Objekte ↔ Strukturen, Relationen Raum, innen & außen
auditives Zeichensystem:
Klang ↔ Melodie
Ton ↔ Rhythmus
Zeit, Schwingungen, Wiederholungen
andere Zeichensysteme (insbes. körpernahe Wahrnehmungen)
Ein Spektrum autistischer Denkstile
Fazit
Die Perspektive bestimmt den Rahmen:
Erkennen autistischer Menschen Entwicklung ihrer Potenziale
Unterstützung und Inklusion
Perspektivwechsel
zeigen Wege zu einer Inklusion autistischer Menschen hinterfragen vermeintliche Selbstverständlichkeiten ermöglichen ein neues Verständnis von Autismus:
Lebenswelt autistischer Menschen
Zusammenspiel unterschiedlicher Aspekte (sozial, psychisch und biologisch)
multidimensionales Spektrum unterschiedlicher Denkstile
Zum Schluss
Gottfried Mind 1768 – 1814
Bern (Worblaufen) Straßenkind
sonderbegabt kränklich
wortkarg
menschenscheu
„Katzen-Raphael“
Zum Schluss
Verleihet mir schön zu werden im Innern, was ich aber von außen her habe, dass es dem Innern befreundet sei.
(Sokrates, Phaidros)
In Gottfried Minds Bildern
verwirklicht sich ein Erleben, das in sich ruht,
tief in der Welt verwurzelt
und in einem umfassenden Sinne eins ist.
http://autsocial.de
https://siam-workshops.de
http://autistische-faehigkeiten.de