Von DiETEK Blohm, Leipzig
Am 18. September 1991 ist er von uns gegangen, unser Wegbegleiter,
Betreuer und Freund — Prof. em. Dr. phil. habil. Wolfgang Reuschel,
langjähriger Ordinarius für Arabistik an der Universität Leipzig und
Mitglied der Deutschen Morgeniändischen Gesellschaft. Am Vormittag
des gleichen Tages hatte er ein letztes Mal aus dem Krankenhaus Grüße
und Wünsche an seine Mitarbeiter übermittelt. Es ist, als weilte er noch
unter uns und gäbe uns Hinweise für den Weg der Arabistik in Leipzig,
den er mit seinen Ideen jahrelang unter den obwaltenden Bedingungen
mitbestimmt und im Frühjahr 1990 neu festgelegt hatte. Wir Kollegen
und Freunde konnten das verhängnisvolle Voranschreiten seiner
schweren Krankheit nur erahnen, denn Wolfgang Reuschel wirkte bis
zuletzt mit großer Disziplin und hohen Anforderungen an sich selbst
und seine Mitarbeiter. An uns ist es nun, in seinem Sinne in kollegialer
Zusammenarbeit mit der arabistischen „Gemeinde" in Deutschland
weiter zu wirken.
Wolfgang Reuschel wurde am 16. November 1924 als Sohn des Stu¬
dienrates Dr. Arthur Reuschel und dessen Ehefrau Erna in Leipzig
geboren. Nach dem Erwerb des Abiturs 1942 wurde er in einer Einheit
des Luftnaehrichtendienstes unmittelbarer Zeuge des zweiten Weltkrie¬
ges und kehrte 1948 aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft zurück.
Seine dort erworbenen Russischkenntnisse gab er an Hörer der Volks¬
hochschule Leipzig weiter. Von 1948 bis 1952 studierte er Orientalistik,
Slawistik und Anglistik in Leipzig und Halle. Aus dieser Zeit stammten
zum einen seine für Kollegen und Studenten gleichermaßen überra¬
schend guten, anwendungsbereiten Russischkenntnisse und zum ande¬
ren die wissenschaftliche Nähe zu Gelehrten wie Carl Brockelmann und
Johann W. Fück.
Ab Juli 1952 war Wolfgang Reuschel an der Uiüversitätsbibliothek
Leipzig als Fachreferent für Slawistik und Orientalistik tätig; dabei
absolvierte er 1953/54 ein Zusatzstudium lür Bibliothekswissenschaf¬
ten an der Deutschen Staatsbibliothek in Berlin. Unter Anleitung seines
akademischen Lehrers Johaim W. Fück promovierte er 1957 in seiner
Wolfgang Reuschel — in memoriam
Inauguraldissertation über den arabischen Grammatiker Al-Halil ibn
Ahmad al-Farähidi zum Dr. phil. Diese Dissertation wurde 1959 im
Akademie-Verlag Berlin veröffentheht.
Im Mai 1960 wurde Wolfgang Reuschel Mitarbeiter am Orientali¬
schen Institut der Karl-Marx-Universität Leipzig. Im September 1960
wurde er mit der kommissarischen Leitung der Abteilung für moderne
Sprachen des Vorderen Orients beauftragt und im April 1961 in eine
Wahmehmungsdozentur berufen. In den zurückliegenden drei Jahr¬
zehnten hat er das Profd der arabistischen linguistischen und philologi¬
schen Forschungen an der Universität Leipzig und in der ehemaligen
DDR bestimmt und leistete damit, wie wir nunmehr ermessen können,
einen bedeutenden Beitrag zur Entwicklung dieser Wissenschaftsge¬
biete in Gesamtdeutschland. In seiner Dissertation, seiner Habilita¬
tionsschrift zu Tempus und Aspekt im Koran (1969) und den weiteren
Veröffentlichungen werden Grundlinien seiner Forschungstätigkeit
deutlich: gründliche Belegstudien, bevor wissenschaftliche Aussagen
getroffen werden, stete Bezüge modemer linguistischer Theorien auf
Leistungen der arabischen Nationalgrammatiker, kein Einschließen im
Gelehrtenstübchen gegenüber der modernen, heute verwendeten arabi¬
schen Sprache.
Unvergessen bleiben seine eindringliehen Hinweise, im Sinne von
Johann Fück und Hermann Paul Publikationen so aufzubauen, daß sie
nicht nur für die wenigen Eingeweihten, sondern für einen breiteren
Kreis von wissensehaftlich Interessierten verständlich und zugänglich
sind.
Mit seinem Wirken setzte Wolfgang Reuschel die Traditionen der
Leipziger arabistischen Schule, von Heinrich Leberecht Fleischer,
August Fischer und anderen fort. Er war Koautor aller drei Teile des
Lehrbuchs des modemen Arabisch, die ein geschlossenes Lehrwerk für
die Ausbildung von Arabisten, Übersetzern und Dolmetschern darstel¬
len und den exponierten Stand der lehrbezogenen Forschung und Aus¬
bildung im Modernen Hocharabisch in Leipzig ausweisen. Als Heraus¬
geber der Reihe „Modernes Arabisch" förderte er mit seinem Freund
Dr. Günther Krahl das Erscheinen von Publikationen zur arabischen
Sprachwissenschaft. Er war auch hier für Initiativen von Kollegen und
Absolventen offen, die außerhalb der Universität tätig waren, in der tra¬
ditionellen Arabistik nicht übliche Veröffentlichungen wie z.B. Lem-
wortschätze und politische Wortschätze auf den Weg zu bringen.
Beispielgebend engagierte sich unser Lehrer bei der Entwicklung und
Fördemng des wissensehaftlichen Nachwuchses. Bis zuletzt wurden
immer neue Bitten um Betreuung an ihn herangetragen, so daß insge-
samt 19 Doktoranden und 2 Habilitanden ihre Arbeiten unter seiner
Anleitung abschließen und verteidigen konnten. 4 weitere Habilita¬
tionsarbeiten hat er betreut, kann aber nicht mehr erleben, wie sie in
naher oder weiterer Zukunft verteidigt werden, nicht wenige Disserta¬
tionen müssen nun von seinen Mitarbeitern weiter betreut werden.
Wolfgang Reuschel zeichnete sich als konzeptioneller Vordenker aus
und verstand es, seine engeren und weiteren Mitarbeiter zu eigenständi¬
gen Leistungen zu motivieren, wie z.B. die stattliche Publikationsliste
der Angehörigen des Lehrstuhls Arabistik ausweist. Er war es, der
1968/69 nach Aufnahme der Sprachmittlerausbildung mit Arabisch in
Leipzig auf die Priorität der Lehrforschung hinwies. Er war es wieder¬
um, der mit dem Abschluß des Lehrbuchs des Modernen Arabisch Teil
III 1987 zur Orientierung auf neue Fachgebiete aufforderte:
— Grundlagenforschung zur Grammatik und Semantik des Modernen
Hocharabisch
— das linguistisch-philologische Erbe der arabischen Nationalgramma¬
tik und -lexikographie
— Arabisch des XIX. Jh.s
— soziolinguistische Themen wie Bilinguismus Arabisch/Französisch,
Arabisch/Hebräisch, Arabisch/Kurdisch und Sprachgebrauch sozia¬
ler Gruppen
— Computer und arabische Sprachwissenschaft
— übersetzungswissenschaftliche Themen.
Zugleich war er an der Weiterfuhrung der Forschungen zur Didaktik
und Methodik des Arabischunterrichts interessiert.
Marksteine bei der Diskussion solcher Ideen waren die seit 1978 durch¬
geführten intemen Arbeitstagungen des Lehrstuhls Arabistik, bei
denen Wolfgang Reuschel großes Durchhaltevermögen bewies. Als
befähigter Wissenschaftsorganisator hatte er seine Mitarbeiter am
Lehrstuhl Arabistik zu einer fest verbundenen, schöpferisch wirkenden
Gemeinschaft um sich geschart. Er hat sich bei der Auswahl junger wis¬
senschaftlicher Talente höchst selten geirrt. Sein förderndes und for¬
derndes, aber nicht gängelndes Engagement, seine „lange Leine" bei
Eigeninitiativen, seine drängenden Anfragen bei wissenschaftlichen
Diskussionen, sein sanfter Druck, seine Weisheit und Geduld im
Umgang mit seinen Mitarbeitern und seine eiserne Disziplin haben
Wolfgang Reuschel zur Integrations- und Bezugsperson gemacht, die
als Leiter von 1975 bis 1983 und noch einmal von 1990 bis 1991 an der
Spitze des Wissenschaftsbereichs Nordafrika/Nahost an der Universi¬
tät Leipzig stand.
Wolfgang Reuschel — in memoriam
Seine wissenschaftliehen und organisatorischen Fähigkeiten erfuhren
ihre Bestätigung durch seine Berufung zum außerordentlichen Profes¬
sor 1974 und zum ordenthchen Professor lür Arabistik an der Universi¬
tät Leipzig 1979. Von 1974 bis 1980 war er Mitglied der Arbeitsgi-uppe
Sprachmittler beim Wissenschaftlichen Beirat für Kultur-, Kunst- und
Sprachwissenschaften beim Ministerium für Hoch- und Fachschul¬
wesen, 1977 bis 1989 Mitglied der Fakultät für Kultur-, Sprach- und
Erziehungswissenschaften der Karl-Marx-Universität Leipzig und von
1985 bis 1989 Leiter der Fachgruppe Sprachwissenschaft der Sektion
Afrika- und Nahostwissenschaften.
Wolfgang Reuschel drängte auf ein hohes Niveau der studentischen
Ausbildung und bestand darauf, daß alle Studenten der Arabistik in der
Lage waren, Quellen in Arabisch zu lesen, um ihre wissenschaftlichen Arbeiten auf eine solide Materialgrundlage zu stellen. Als passionierter
Hochschullehrer bereitete er sich auf jede Veranstaltung mit großer
Sorgfalt neu vor. Er war bekannt dafür, daß er auch unbeliebte Früh¬
oder Spättermine für seine Lehrveranstaltungen akzeptierte.
Arabische Grammatik, Sprachgeschichte, Sprachvergleich, spezielle
Probleme der arabischen Sprachwissenschaft waren seine Markenzei¬
chen. Übungen zum Neupersischen und zu klassischen Texten waren
seine stille Liebe. Zuweilen türmten sich die im Laufe der Lehrveran¬
staltung in seinem „Zimmer 3" zu Rate gezogenen Quellen der Sekun¬
därliteratur zwisehen den Teilnehmern.
Mit seiner Studentenschaft eng verbunden, fehlte er auf keinem Berg¬
fest und keiner Abschlußfeier als Ehrengast. Sein Humor blieb allen
Teilnehmern unvergessen.
Die Verweigerung von Studienaufenthalten im arabischen Raum, in
dem er durch deutsche und arabische Schüler 'min al-muhit ilä l-hali§'
zur Legende geworden war, konnte ihn nicht entmutigen, seine ganze
Kraft für die Entwicklung der Arabistik in all ihren Teilgebieten in der
Kombination von Tradition und Modeme einzusetzen. Ein Höhepunkt
in seinem Wirken war die internationale Fleischer-Tagung 1988, zu der
eine höchst beachtliche Anzahl von Kollegen aus den nunmehr alten
Bundesländern und dem Ausland mit Beiträgen erschienen war. Wolf¬
gang Reuschel ist es im wesenthchen zu verdanken, daß vor der
„Wende" 1989 und mit den neuen Möghchkeiten zur gesamtdeutschen
Zusammenarbeit kein absolutes Neuland beschritten werden mußte.
Dadurch konnten wir Leipziger Kollegen wieder Anschluß an die
gesamtdeutsche Arabistik gewinnen; inzwischen haben sich schon viel¬
fältige Arabeitskontakte entwickelt.
Der Verstorbene war auch wohlwollender Förderer bei der Entsen-
dung von Mitarbeitem zu Lehr- und Forschungsaufgaben an andere
Institute deutscher Universitäten, so nach Erlangen, Freiburg und Göt¬
tingen. Gem hätte er selbst als altes und neues Mitglied der Deutschen
Morgeniändischen Gesellschaft am XXV. Deutschen Orientalistentag
in München teilgenommen. Sein angegriffener Gesundheitszustand
erlaubte ihm aber nur, den Berichten seiner Mitarbeiter aufmerksam zu
lauschen und richtungsvi^eisende Schlußfolgemngen, vor allem im Sinne
des islamorientierten Hintergmndwissens für alle Gebiete der Arabistik
in Leipzig vorzutragen.
Seine Affinität zum Russischen und zur Slawistik ließ ihm aber die
Bedeutung der Zusammenarbeit mit den sowjetischen, polnischen und
tschechischen Kollegen nicht vergessen. Die herzlichen Beziehungen
mit den Kollegen in Moskau, Leningrad, Warschau, Krakau, Prag und
Bratislava werden wir fortsetzen. Gleiches gilt auch für die stabile
Zusammenarbeit mit den Arabisten der Universität Leeds. In der Zeit
des Umbruchs im Osten Deutschlands 1989/90 war es Wolfgang Reu¬
schel, der mit weitreichenden Vorschlägen zur Neugestaltung der Stu¬
dien- und Prüfungsordnung für den Studiengang Arabistik seinen Mit¬
arbeitern aus allen Teilbereichen vielfältige Anregungen zum Nachden¬
ken und Mitwirken gab. Selbst aus den philologischen Traditionen der
Arabistik der Universität Halle stammend, setzte er sich für die schwer¬
punktmäßige Beschäftigung mit dem modemen Vorderen Orient auf der
Basis gediegener arabischer Sprachkenntnisse, für den Erhalt der kom¬
plexen Stmktur des Leipziger Instituts ein. Die unter seiner Mitwir¬
kung, Anleitung und mit seinen Anregungen entstandenen Studien- und
Prüfungsordnungen für die Magister- und Diplomausbildung in der Ara¬
bistik und der Sprachmittlerausbildung mit Arabisch und das Stmktur-
modell für den Fachbereich Orientalistik und Afrikanistik sind sein Ver¬
mächtnis flir diejenigen, die sich nun bemühen, die Arbeit in seinem
Sinne weiterzufuhren.
Es verbleibt, auf das zu verweisen, was Wolfgang Reuschel „Saih qabi-
latinä " oder unser „wälid ", wie ihn einer seiner arabischen Schüler liebe¬
voll nannte, noch gern getan hätte:
Er hätte nun endlich Zeit gehabt, sich maßgeblich an der Abfassung
einer Grammatik des Modernen Arabisch zu beteiligen, eine Arbeit, die
nun seinen Schülern bleibt, die gem auf seinen konzeptionellen Rat
gehört und ihm einen bedeutenden Teil des „Werkes" überlassen hät¬
ten, und dies vor allem auf seinen Spezialgebieten, der arabischen
Bedeutungsstmktur und der Nominalsyntax.
Er hätte stärker die philologisch-historische Methode in Lehre und
Forschung eingebracht und sich insbesondere dem älteren Arabisch,
Wolfgang Reuschel — in memoriam
vor allem aueh dem Koran wieder zugewandt, iiber den er ja mit Blick
auf den Aspekt- und Tempusgebraueh habilitiert hatte.
Schließlich und endlich hätte er es noch gern auf sich genommen, der
erste Direktor eines erneuerten Orientalisehen Instituts zu sein und
dieses nach seinen Vorstellungen zu gestalten und zu führen.
Uns als seinen Mitarbeiter/innen obliegt es, im Sinne unseres Weg¬
begleiters, Betreuers und Freundes für die Arabistik und Orientalistik
seinen Weg fortzusetzen und uns von seinen wissenschaftlichen und
menschlichen Ansprüchen leiten zu lassen.
Von Walther Hinz, Göttingen
Der vorliegende Aufsatz ergänzt meinen gleich betitelten Beitrag zu
dieser Zeitschrift, Band 141, 1991, 16-32. Die Ergänzungen sind epi¬
graphischer, paläographiseher und historischer Art.
Mit meiner 1991 vorgeschlagenen Lesung der Buchstaben g und p
dürfte die Entzifferung der altsinaitischen Schrift abgeschlossen sein.
Ich hatte sämtliche Sinai-Inschriften, in welchen die Buchstaben g und
p vorkommen, transliteriert und übersetzt. Unberücksichtigt blieb aus
diesem Grund einzig die Inschrift Sinai 352. Sie ist stark beschädigt und
ließ sich bisher nicht entziffern. Es handelt sich bei ihr um eine Fels¬
inschrift auf einer 30 x 19 cm großen Stele. Gefunden wurde sie beim
Eingang zu Grube L der einstigen Türkisminen in Saräbit al-Hädim im
Südwesten der Sinai-Halbinsel.
Die von Benjamin Sass' von Sinai 352 angefertigte Zeichnung 40
ist, wie ein Vergleich mit der Aufnahme Abbildung 41 erweist, zuverläs¬
sig. Nur an einer Stelle scheint mir seine Zeichnung von der Aufnahme
abzuweichen, nämlich an der von rechts her gezählten Spalte II, beim
ersten Zeichen nach der Lücke. Ich halte den oberen Teil der Stelle für
den Überrest eines 1. Darauf folgt, auf der Aufnahme deutlich erkenn¬
bar, ein m. Es handelt sich meines Erachtens also um zwei Buchstaben,
nicht um einen einzigen.
Besagte Inschrift Sinai 352 scheint inhaltlich manches mit Sinai 353
gemein zu haben. Sie stammt jedoch nicht wie die Nr. 353 von dem Gru¬
bendirektor Ptah-Batn, sondem anscheinend von einem weiteren Gm-
bendirektor im einstigen Wawat. Demnach dürfte sich die Anzahl der
Türkisminen-Direktoren auf insgesamt sechs belaufen haben, die sich
auf den Zeitraum zwischen 1244 und 1204 v.Chr. verteilten.
Auch der Gmbendirektor von Inschrift 352 erwähnt auf der Stele
offenbar seine Frau. Allem Anschein nach bekundet er in seiner In-
' In: Genesis oj Ihe Alphabet and its Development in den Seeond Millennium B. C.
Wiesbaden 1988. (Ägypten und Altes Testament, Band 13.) Abbildung 40,
abgeändert gezeichnet nach Fig. 5 in William F. Albright: The Proto-Sinaitie Inseriptions and their Decipherment. Cambridge/Mass. 1966. (Harvard Theologi¬
cal Studies. Band 17.)