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Die Volksabstimmung vom 11. Juli 1920

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Veriagjpo.tcimt Leer (Ostfriesl.)

t i n x . l p r . i » 3 6 W . Im Abonnement 61 Pf e i n » c h l i « B l . c h Z u s t e l l g e b ü h r

Folge 14 Hamburg, 20. J u l i 1950/ V . r l a g . o r t L*«r (OstfrU.I.) Jahrgang

Massenaustreibung und Menschenwürde

Die deutschen Völkerrechtler haben das Recht auf die Heimat als eines der wichtig- sten menschlichen Grundrechte bezeichnet.

Diese einheitliche Ansicht wurde auf der Hamburger Völkerrechtstagung v o m A p r i l 1950 folgendermaßen formuliert: . D i e Tren- n u n g der angestammten Bevölkerung v o n ihrem Heimatboden ohne ihren W i l l e n w i - derspricht bisher allgemein anerkannten Grundsätzen des Völkerrechtes. Daher sollte bei der Kodifikation der Grundrechte des Menschen das Recht auf d e n V e r b l e i b i n seiner Heimat ausdrücklich aufgezählt wer- d e n . '

Es w i l l uns selbstverständlich scheinen, daß diese Rechtsauffassung übereinstim- mend v o n der internationalen Wissenschaft zum mindesten insoweit bestätigt w i r d , als sie i n demokratischen, nicht totalitär regier- ten Staaten beheimatet ist. Denn w i r wis- sen aus eigenem Erleben und aus den täg- lich für uns sichtbaren Folgen der Massen- austreibung, w i e durch den Verlust der H e i - mat nicht n u r wirtschaftliche und psycholo- gische W i r k u n g e n für den Betroffenen ent- stehen, daß vielmehr hierdurch die Existenz v o n Familie u n d Einzelmensch i n ihren Grundlagen vernichtend getroffen w i r d . Es gibt jedoch heute noch Wissenschaftler i n der Welt, die e i n Völkerrecht für denkbar kalten, i n d e m die Verpflanzung ganzer V o l k s g r u p p e n als rechtlich zulässig gilt.

V o n diesen w i r d nicht nur die Frage auf- geworfen, ob internationale Interessen einen Transfer v o n V o l k s g r u p p e n rechtfertigen könnten. S i e glauben darüber hinaus z w i - schen einer innerstaatlichen Verpflanzung v o n Menschengruppen u n d einer solchen über die Staatsgrenzen hinaus oder einer freiwilligen u n d erzwungenen Umsiedlung unterscheiden z u können.

V o n einer Behandlung der Frage kann abgesehen werden, ob überhaupt eine M a s - senverpflanzung v o n Bevölkerungsgruppen i m staatlichen Interesse liegen kann, d. h.

ein geeignetes M i t t e l z u r Erhaltung des Friedens oder zur Förderung des internati- onalen Einvernehmens ist. A u c h der Unter- schied zwischen einer Verpflanzung inner- halb eines Staates oder über seine Grenzen h i n w e g scheint belanglos. Denn die Ent- scheidung ist ausschließlich davon abhängig, ob d e m Menschenrecht, dem einzelstaat- lichen Recht oder dem zwischenstaatlichen Recht der V o r r a n g eingeräumt w i r d .

Es hieße k o l l e k t i v e m Denken erliegen oder einen totalitären Staatsbegriff fördern, w e n n nicht die Menschenrechte i n dieser O r d n u n g d e n ersten Rang einnehmen wür- den. Denn Aufgabe v o n Staat und Staats- gemeinschaft ist Förderung u n d Schutz menschlicher Lebensgüter. Der Staat handelt innerhalb der eigenen Grenzen u n d b e i W a h r n e h m u n g internationaler Beziehungen als e i n Treuhänder der Menschheit, soweit menschliche Lebensgüter i n Betracht k o m - men, die v o n der ganzen Menschheit als schutzwürdig anerkannt sind. D e r zusam- menfassende Begriff für diese Güter ist d i e

V o n Frhr. von Braun, Göttingen Menschenwürde. Hieraus ergibt sich für alle Staaten die Pflicht, die menschliche Persön- lichkeit z u schützen u n d z u fördern, und das Verbot, den Menschen als Sache z u behan- deln. Der Mensch w i r d aber zur Sache ge- macht, wenn er ohne Berücksichtigung seines persönlichen W i l l e n s aus dem Lande seiner Staatszugehörigkeit vertrieben oder auch nur innerhalb der Staatsgrenzen umge- siedelt w i r d . Es gehört z u d e n Aufgaben der Staatengemeinschaft, auch solche Ueber- griffe z u hindern, die v o n einem Staat ge- gen seine eigenen Bürger begangen werden, und häufig ist aus solchem Grunde schon i n das innere Leben eines Staates eingegrif- fen worden.

Nachdem die Deklaration d e r Menschen- rechte durch die U N erfolgt ist, u n d damit jedem Menschen das Recht auf D o m i c i l überall i n der W e l t und auf Rückkehr i n sein Land bestätigt sowie die willkürliche

Entziehung der Staatsangehörigkeit ver- boten ist, kann die Verpflanzung v o n B e - völkerungsgruppen nicht mehr rechtens sein.

A u c h der Unterschied zwischen einer frei- w i l l i g e n u n d zwangsweisen Ueberführung v o n Menschengruppen u n d die Genehmigung freiwilliger Umsiedlungen kann i n der Pra- xis nur z u Streitigkeiten führen. Denn u m Freiwilligkeit z u sichern, müßte jedes be- troffene Individium zugestimmt haben, ohne daß e i n staatlicher oder politischer Druck die freie Willensentscheidung beeinträchtigt hätte. Diese Entscheidung des Einzelnen könnte selbst durch Mehrheitsbeschlüsse nicht ersetzt werden, d a e i n T e i l eines Staatsvolkes keinen Gesamtwillen hat, son- dern n u r aus einer V i e l z a h l v o n Einzel- personen besteht.

Ueber die Massenaustreibung der Deut- schen werden W e l t u n d Geschichte nach diesen Gesichtspunkten zu richten haben.

Ostdeutsche Kunst der Gegenwart

(Von unserem Berichterstatter) Düsseldorf. D i e Ausstellung der G e -

meinschaft ostdeutscher Künstler i n der Kunsthalle i n Düsseldorf, die bis zum 14.

August andauert, zeigt i n ausdrucksvoller A r t d e n Beitrag Ostdeutschlands zum ge- samtdeutschen künstlerischen Schaffen 6eit der Jahrhundertwende auf. W a r die E r - öffnungsfeier eine Stunde der Besinnung, in der alle Teilnehmer sich der Verbunden- heit des Ostens mit dem Westen bewußt wurden, s o w i r d die Ausstellung sekbst, die sich keineswegs n u r an die Kunstbeflisse- nen wendet, z u einer inneren Begegnung des west- und ostdeutschen Menschen i n erheblichem Maße beitragen. Im Gespräche mit vielen westdeutschen Besuchern erfah- ren w i r immer wieder, daß ihnen zwar d i e meisten der über 100 Namen der Künstler neu sind, daß sie i m übrigen aber vergeblich nach dem besonderen Charakteristikum der ostdeutschen Kunst suchen. M a g vielleicht das eine oder andere Landschaftsbild hin- weisen auf die Heimat des Künstlers, i n den Formen u n d Richtungen i6t k a u m ein Unter- schied zur westdeutschen M a l e r e i und Pla- stik erkennbar. Der Nichtexperte findet den Zugang z u den Bildern am schnellsten w o h l von den Farben her, die i n den Sälen der Kunsthalle i n allen Tönen schimmern, glühen und leuchten. D e r ostdeutsche Kenner ist beglückt über d i e Wiederbegegnung m i t über 200 W e r k e n (Gemälden, Aguarellen, Zeichnungen u n d Skulpturen) ostdeutscher Meister. Das Gemeinsame aber kommt a m stärksten zum Ausdruck i n den Sälen mit W e r k e n bereits verstorbener Künstler, w i e der Ostpreußen L. Corinth, K . K o l l w i t z , des Westpreußen W . Leistikow, des Posener L.

Ury, d e r Schlesier F. Erler, E . Grüthner, K . von Kardoff, A . Menzel, O. Mueller, H . Tüpke, und aus dem böhmisch-mährischen Raum A . H o l z e l und E. O r l i k . V i e l e dieser Meister hatten engsten Kontakt mit der Düs-

seldorfer Schule, u n d es wundert uns daher nicht, wenn manche Besucher erstaunt dar- über waren, deren W e r k e i n dieser ostdeut- schen Ausstellung wiederzufinden.

Es w a r für die Jury keine leichte Aufgabe, aus den über 1500 eingesandten Bildern die A u s w a h l z u treffen, die zugleich auch die bedeutsamsten Stilarten umfaßt. Es ist d a - her nur verständlich, daß mancher Besucher manchen Künstler vermissen wird. Die Aus- stellungsleitung w i l l daher i n Einzelfällen Kunstwerke austauschen, um weitere Künst- ler i n ihren Arbeiten z u zeigen. U n d wenn w i r hier einige Namen ohne jedes Wert- urteil nennen, dann nur, um jedes einzelne Land anzusprechen. Es sind u . a. vertreten aus den baltischen Ländern G . v o n Boch- mann, R. Daudert, G. v . Stryk; aus Ostpreu- ßen E. Bischoff, A . Degner, K . Eulenstein, E. Mollenhauer; aus Danzig B. Paetsch, aus Westpreußen L. Bingmann-Drouese, F. H e l - dungsfeld, A . Kuhnau, B. Paetsch; aus Pom- mern P. Holzwig, H . Laabs, J . Utech; a u s Posen M . Rabcs; aus Schlesien A . Kanoldt, L. P. K o w a l s k i , M . M o l l , H . A . Raddatz, W . Ulfig; aus Böhmen und Mähren J . Hegen- barth, A . Kubin, J . Ressel, F. Stelzig u n d aus Siebenbürgen H . Helfer und A . Sukow von Heyendorff.

A l s Ergänzung der Ausstellung hat N i e l s v o n Holst i n einer ausgezeichneten Schrift

«Ostdeutsche Bildkunst" einen Ueberblidc über die ostdeutsche Kunst v o m frühen M i t - telalter bis z u m Ausgang des 19. Jahrhun- derts gegeben. Das Sozialministerium u n d das Kultusministerium des Landes N o r d - rhein-Westfalen haben die Gemeinschaft ostdeutscher Künstler bei dieser Ausstellung ein jeder W e i s e unterstützt. Es ist nur z u begrüßen, daß die Ausstellung i n allen B u n - desländern gezeigt werden soll, nicht z u - letzt angesichts der Notlage unserer ost- deutschen Künstler.

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20. J u H !950 / Seite 202 . W i r Ostpreußen' Folge 14 / Jahrg. 2

Die Volksabstimmung vom 11. Juli 1920

Einige Ereignisse am Rande Der Blumenregen

Bei bitterer F e b r u a i k l d l e traf dde Inter- alliierte Kommission i n Allenstein ein. Das polnische V o l k , durch etwa zwei Dutzend Mannlein u n d W e i b l e i n vertreten, hatte eich vor dem Bahnhof eingefunden, u m ihre Be- freier geziemend i m Sonntagsstaat mit B l u - men z u begrüßen. U m nach langer Nacht- fahrt schnell das Bett z u erreichen, stieg die Hohe Kommission eiligst i n die z u m Emp- fang bereitgestellten Wagen. Unter be- geisterten Zurufen ergoß sich über das erste Gefährt (mit preußischer Dienstßagge) e i n Blumenregen. Es war der vorausfahrende — Botenmeister i m Dienstwagen des A l l e n - stein er Regierungspräsidenten.

Die Erfinder des Korridors

Mitunter verzögerte sich die Post aus Frankreich nach Alienstein. Exzellenz Couget glaubte, die deutschen Dienststellen verantwortlich machen z u müssen. Es wurde ihm bedeutet, daß polnische Korridorsperren die Ursache seien. Bei neuerlicher Verzöge- rung entfuhr der ergrimmten Exzellenz der Ausruf: .Ich möchte den Idioten kennen- lernen, der d e n Korridor erfunden hatl"

Der Jäger Rennte

Sir E n i est A . Rennie, der britische Ober- kommissar i n AHen6tein, w a r e i n leklen- echaftlidier A n g l e r u n d Jäger. A l s oberster Chef eines Gebietes mit umfangreichen u n d hervorragenden fiskalischen Jagden stand es i h m nach deutschem Brauch frei, i n d e n Staatswaldungen u m Allenstein z u jagen.

Er wandte sich aber an den deutschen Be- vollmächtigten Frhr. v . Gay!, und dieser wies den Oberforstmeister an, i h m einen guten Bock freizugeben und dafür zu sorgen, daß er zum Schuß käme. Der zuständige Förster führte Rennie mehrfach, ohne daß der Oberkommissar Erfolg hatte. Eines T a - ges hatte sich Rennie i n Begleitung des Försters endlich a n einen starken Bock her- angepirscht. In diesem Augenblick trat z w i - schen i h m und dem Bock e i n starker Hirsch aus, den er auf sichere Entfernung härte e i - legen können. Er hatte schon den Finger gekrümmt, als ihm einfiel, daß er mit dem Oberforstmeister nur den Abschuß eines Rehbocks, aber nicht den eines Hirsches ver- abredet hatte. Infolgedessen setzte er ab.

In diesem Augenblick sprang der langge- suchte Bock ab. Der Förster war des Lobes voll über diese anständige Zurückhaltung des allmächtigen Oberkommissars. Es dürfte nicht v i e l e passionierte Waidmänner geben, die in einer Stellung, w i e Rennie sie damals bekleidete, 60 vornehm gedacht und ge- handelt hätten. Er bekam den Bock später doch.

W i e D u m i r . . .

M i t den englischen Soldaten gab es i m allgemeinen e i n gutes Auskommen. In dem Oftizier mußte man den Gentleman sehen, aber man mußte auf gleicher Haltung v o n der englischen Seite bestehen Dann waren die Engländer entgegenkommend. — Der neue englische Poüzeiinspekteur, Oberst H . , machte bei d e m Reächskommissar Besuch.

Mit M a n t e l , Mütze auf d e m Kopf und Reit- peitsche i n der H a n d begrüßte er freundlich Freiiherrn v o n G a y l , setzte sich sofort auf eine Ecke des Schreibtisches u n d klagte, daß es sehr kalt s e i . G a y l bestätigte das, ließ sich M a n t e l und Hut bringen, bekleidete sich entsprechend u n d setzte sich auf die

"Klere Ecke des Tisches. B e i immer freund- ' eher Unterhaltung, bot G a y l ihm einen Stubi a n u n d wählte selbst eine normale

Sitzgelegenheit. Oberst H . legte, immer freundlich lächelnd, Mütze, M a n t e l u n d PeSteche ab. G . rief d i e Ordonnanz u n d be- fahl: . N e h m e n Sie die Sachen des H e r r n Oberst u n d meine mit i n die Garderobe. Es ist wieder w a r m geworden." Beide haben sich seitdem immer gut verstanden.

Die Republik K l y n

D i e Grenzgegend u m Gilgenburg w a r b e i der Abstimmung eine Wetterecke. B e i der vorläufigen Grenzziehung v o r der A b s t i m - mung blieb die Baihnlinie Osterode—Gikren- burg bis etwa drei Kilometer hinter Gikjen- burg auf deutschem Gebiet. In der nächsten Nähe v o n GLlgenburg wohnte auf seinem Gut Bergung einer der energischsten u n d ein- flußreichsten Polenführer, Dr. W i l e m s k i , der fast täglich den Besuch des französischen Kreisoffiziers M a j o r Stoll empfing. Neben Bergling l a g die Kolonie K l y n . Sie w a r u m die Jahrhundertwende v o n einem Nachbar- gut abgezweigt u n d mit Kolonisten besiedelt worden, die n u r wenige M o r g e n Land be- saßen u n d als Zeitarbeiter auswärts ihr Brot verdienten. B e i der vorläufigen Grenzzie- hung w a r K l y n Niemandsland geworden und bildete fast e i n Jahr hindurch die selbständige Republik K l y n , die sich a l l e i n regierte, keine Steuern zahlte u n d e i n glück- seliges Eigendasein führte. W e n n auch die Bürger dieser Republik treudeutsch dachten, so verschmähten sie es doch nicht, für G e l d und gute W o r t e allerhand V o l k bei sich auf- zunehmen, das die Statistik i n ungünstiger W e i s e beeinflußte. K l y n blieb nach der Abstimmung, ohne seine V o l k s m e i n u n g kundgetan z u haben, dem deutschen Vater- lande erhalten. Während des russisch-pol- nischen Krieges wurde K l y n vorübergehend v o n den Russen besetzt.

Nach dem Siege

A m 12. J u l i 1920 teilte Freiherr v o n G a y l der Interalliierten Kommission i n A l l e n - s t e m die Ergebnisse der Volksabstimmung in Ostpreußen mit. Der britische O b e r k o m - mdssar gratulierte formell, die anderen V e r - treter schwiegen. Der französische Gesandte C h e v a i l y machte e i n betretenes Gesicht.

Nach längerer Pause schüttelte der Marguese Fracassi, der Vertreter Italiens, sein weißes Haupt und murmelte v o r sich h i n : „ W o bleiben die Sachverständigen v o n Paris?"

Die polnischen Vertreter waren nicht er- schienen.

Die polnische Boljuwka

Für Rößel, A l l e n s t e i n - Land, Ortels- burg, Neidenburg u n d Osterode sowie für die westpreußischen Kreise Stuhm u n d R o - senberg wurde v o n den Polen sogenannte Bojuwkas (Kampfscharen) eingerichtet u n d unter dem Deckmantel v o n Sokol-, Gesang-, Arbeiter- u n d Schützenvereinen getarnt. Sie bestanden z u m größten T e i l aus axbeits- unhistigen u n d z u Gewalttätigkeiten neigen- den Jugendlichen. D i e W e r b u n g erfolgte ön ganzen Abstimmungsgebiet, aber auch i n Warschau u n d i m eigentlichen Polen. D i e Angeworbenen wurden jedoch n u r den oben genannten Kreisen zugeteilt. A n der Spitze der getarnten Vereine standen pomische Offiziere. Oberster Führer i m Abstimmungs- gebiet w a r der polnische Hauptmann N i e - mierski i n Allenstein, der d e m polnischen Komitee zugeteilt w a r u n d die A b t e i l u n g . M i l i t a r i a " leitete. Unter seinem Befehl standen Stoßtrupps v o n 150 bis 170 M a n n , die i n Untergruppen v o n zwölf M a n n einge- teilt waren. A l s Reserve wurde zuletzt eine aus Warschauern, Posenern u n d West- preußen bestehende Truppe v o n 300 bis 400 M a n n gebildet. Berner bestanden Pläne,

eine polnische V o l k s w e h r und eine M i l i z aufzustellen; es fanden sich aber i m A b - stimmungsgebiet keine Männer dafür. D a - gegen bestand die auf 2000 M a n n aufge- füllte Bojuwka bis i n den J u l i 1920 hinein.

Die Mannschaften erhielten monatlich tau- send M a r k Gehalt und entsprechende Z u - lagen u n d waren z u m größten Teil mit P i - stolen bewaffnet trotz des Waffenverbots der Interalliierten Kommission. Die erforder- lichen Waffenscheine stellten französische Kontrolloffäziere unter der H a n d aus.

Die Bojuwkas sollten w i e die entsprechen- den Polenverbände i n Oberschlesien i n den Grenzbezirken örtliche Unruhen hervor- rufen, u m den Polen Anlaß z u geben, mit irregulären Truppen i n die Grenzgebiete einzufallen u n d deutsche Gebietsteile ge- waltsam z u besetzen. Daß es i n Ostpreußen nicht dazu k a m , ist i n erster Linie auf den rassisch-pohrisdien K r i e g zurückzuführen, der in der Abstimmungszeit sich an der ost- preußischen Südgrenze entlang zog. A l s man den M i t g l i e d e r n der B o j u w k a Ende J u n i 1920 v o n polnischer Seite mitteilte, daß man ab M i t t e J u l i auf ihre Dienste ver- zichten wollte, versammelten sich ihre V e r - treter i m Hotel Copernikus i n Allenstein und beschlossen einhellig, ihre wertvollen Dienste nunmehr d e n — Deutschen anzu- bieten, vorausgesetzt, daß man sie anstän- dig bezahlen würde. Es wurde sogar der Gedanke erwogen, i n geschlossenem Zuge zum deutschen Reichskommissar z u ziehen und i h m eine H u l d i g u n g darzubringen. Doch nahm man davon Abstand. Einige der ge- kündigten Bojuwka-Leute suchten auf eigene H a n d mit dem Deutschen Heimatdienst Füh- lung zu nehmen u n d brüllten i n den letzten polnischen Versammlungen d e n v o n W o r - gitzki geprägten Schlachtruf: . E r m l a n d den Ermländern!* u n d .Raus mit den W a r - schauern!" begeistert mit. So zerfiel die stolze Kampfsöhar noch unmittelbar v o r der Entscheidung. D i e nationallitauische Zeitung .Balsas" i n M e m e l bemerkte dazu: . D i e Polen schufen bewaffnete Haufen u n d schüchterten die Menschen so ein, daß schließ lach nicht einmal die Polen v o n d e n Polen etwas wissen wollten."

Frau M a r i a Lehmann

Im Kreise Rößel fand sich k e i n geeig- neter M a n n als Kreisteilenleiter des Heimat- dienstes. D a sprang eine mutige u n d sehr energische Frau, M a r i a Lehmann, e i n u n d übernahm diese schwere Aufgabe. Für ihre ersten Fahrten über L a n d i n die entlegenen Dörfer fand sie zunächst keine Begleiter.

So mußte sie sich selbst eine kleine Schutz- garde bilden. Es waren rauhe und mitunter etwas fragwürdige Gestalten, die sich i h r anboten, aber sie schützten ihre Führerin.

Die Polen haßten sie wütend, u n d der fran- zösische Kreiskontrolleur hätte sie gern ausweisen lassen, wagte es aber nicht, w e i l sie das unbedingte Vertrauen ihrer K r e i s - insassen besaß. E r brachte aber seine A n - schuldigungen bei der Interalliierten K o m - mission i n Allenstein vor. Frau M a r i a Leh- mann sollte sich verantworten. Der Reichs- kommissar verschaffte i h r Gelegenheit, ihre Sache selbst z u verteidigen. A u s Ihrer in fließendem Französisch vorgetragenen V e r - teidigung wurde eine temperamentvolle A n - klage gegen die polnischen Umtriebe u n d den französischen Kreiskontrolleur, so daß der französische Gesandte sie mit dem ehrenden Beinamen .Jeanne d' A r e de B i - schofsburg" auszeichnete, der sie mit der bekannten Jungfrau v o n Orleans i n V e r - bindung bringen sollte. A b e r noch einmal empfangen wurde sie i n Allenstein nicht.

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Folge 14 / Jahrg. 2 . W i r Ostpreußen" 20. JuÜ 1950 / Seite 203

Dr. Schreiber auf der Abstimmungsfeier in Lübeck

Einigkeit und Recht und Freiheit!

A u f d e r A b s t a m m u n g » - G e d e n k f e i e r i n L ü b e c k a m ltt. J u l i h i e l t d e r S p r e c h e r d e r L a n d s m a n n s c h a f t O s t p r e u ß e n , S t a a t s - s e k r e t ä r D r . S c h r e i b e r , d i e f o l g e n d e R e d e :

Sehr verehrte Gäste, Lübecker Bürger u n d meine lieben ostdeutschen Landsleutel

D e r H e r r Bundeskanzler hat mich beauf- tragt, Ihnen z u sagen, daß er Ihnen dafür dankt, daß Sie durch Ihre Einladung i h n i n die Gemeinschaft dieser Feierstunde haben aufnehmen wollen, u n d er hat mich beauf- tragt, Ihnen z u sagen, w i e sehr er es bedau- ert, daß die Folgen seiner Krankheit, v o n denen Sie j a Kenntnis haben, i h n verhindern, hierher z u k o m m e n ; er hat mich beauftragt, Ihnen seinen herzlichen Gruß z u übermit- teln u n d Sie seiner Teilnahme a n unserer Feierstunde z u versichern. W i r wissen aus Gelegenheiten, bei denen er unter der hohen Verantwortung seines Amtes gesprochen hat, w i e e r d i e Dinge sieht, die uns heute hier zusammengeführt haben. E r hat i n sei- ner Regierungserklärung b e i der Ueber- nannte seines Amtes gesagt: . W i r können uns daher unter keinen Umständen mit einer v o n Sowjetrußland u n d Polen später einsei- tig vorgenommenen A b t r e n n u n g dieser G e - biete abfinden. Diese Abtrennung wider- spricht nicht n u r dem Potsdamer Abkommen, sie widerspricht auch der A t l a n t i k - C h a r t a . W i r werden nicht aufhören, i n einem geord- neten Rechtsgang unsere Ansprüche auf diese Gebiete weiter z u verfolgen", u n d er hat z u - sammen mit seiner Bundesregierung, d e m Bundesrat u n d d e r überwältigenden M e h r - heit des Bundestages z u dem kürzlichen A b - k o m m e n v o n Warschau i n feierlicher F o r m i m Plenum unserer V o l k s v e r t r e t u n g erklä- ren lassen: „Niemand hat das Recht, aus eigener Machtvollkommenheit L a n d u n d Leute preiszugeben oder eine P o l i t i k des Verzichts z u betreiben." Soeben ist sinn- gemäß diese gleiche Erklärung z u dem P r a - ger A b k o m m e n über das Sudetenland wieder- holt worden. Sie sehen daraus, daß er i n dieser Stunde unter uns weilt.

U n d n u n darf ich als Sprecher unserer Landsmannschaft Ostpreußen u n d zugleich i m Sinne der Sprecher aller anderen deut- schen Landsmannschaften) d i e vorgestern z u - sammen waren, versuchen, Ihnen das z u sagen, was ich für den K e r n und das eigent- liche Wesen dieser Stunde halte, die bedeut- sam ist durch die Zeit, i n der s i e stattfindet, u n d bedeutsam durch d e n O r t , a n dem s i e stattfinden darf. Es hat nicht damit sein Be- wenden, daß w i r heute w i e d e r sagen, was w i r alle wissen u n d w o r i n w i r übereinstim- men: daß w i r unsere Heimat z u Recht besa- ßen, u n d daß w i r unsere Heimat lieben, u n d daß W I T unsere Heimat niemals aufgeben dürfen. Es ist noch etwas anderes.

Ata ich v o r dreißig Jahren v o m Rhein nach meiner Geburtsstadt M a r i e n b u r g fuhr u n d damals mit vielen anderen meine Stimme i n die Urne legte, da w a r dieser T a g für mich e i n Erlebnis,- nicht deshalb, w e i l ich eine Pflicht erfüllte, die m i r selbstverständlich war, sondern w e i l ich erleben durfte, daß diese gleiche Pflicht Zehntausenden v o n a n - deren ebenso selbstverständlich war. U n d das Erlebnis dieses Tages w a r das Bewußt- sein der Gemeinschaft, der gleichen Pflicht- erfüllung u n d der gleichen Pflichtauffassung.

Es w a r das Erlebnis der Gemeinschaft i m Bekenntnis zu unserem Lande und z u unse- rem V o l k e , das damals zerschlagen und zer- treten war.

D i e Frage, die der dreißigste Jahrestag dieses Ereignisses heute auf wirlt, eine Frage,

die zunächst a n unser deutsches V o l k geht, ist die, ob w i r uns damals i n der V o r a u s - setzung einer größeren deutschen Gemein- schaft geirrt haben oder nicht. D i e Frage dieser Stunde a n d i e deutsche Gemeinschaft ist die, ob w i r z u ihr gehören wollen, und zwar ganz und gar mit allen Rechten u n d mit a l l e n Pflichten, oder ob man uns einer fast zwangsläufigen naturrechtlichen Ent- wicklung aussetzen w i l l , die sich etwa so aus- drücken läßt, daß auf die Dauer, wenn eine Minderberechtigung praktisch geübt w i r d , auch das Gefühl einer Minderverpflidituog i n dem Minderberechtigten wachsen muß.

W i r haben die Entwicklung unseres Schick- sals nach der Austreibung i n geduldigen J a h - ren miterlebt und erst seit kurzer Zeit begon- nen, sie mitzugestalten. Im Zuge dieser Ent- w i c k l u n g stehen w i r i n einem bedeutsamen Abschnitt. W e n n man die Krankheit, unter der unser V o l k leidet, mit W o r t e n kennzeich- nen w i l l , dann drängt sich immer wieder die Feststellung auf: w i r waren eine staatliche Gemeinschaft; w i r w o l l e n eine staatliche G e - meinschaft sein. Eine staatliche Gemein- schaft k a n n n u r bestehen, wenn sie die M e n - schen aneinander bindet. Sie setzt voraus,

daß die echten Bindungen der menschlichen Gemeinschaft lebendig sind. D i e Entwick- l u n g dieser letzten Jahrzehnte aber ist e i n ununterbrochener Angriff auf die echten menschlichen Bindungen. Sie hat, nachdem die Bindung der Familie i n langsamerer Ent- wicklung schweren Gefahren ausgesetzt ge- wesen ist, eine wesentliche Bindung des Menschen, die an seine Heimat, jäh u n d brutal zerrissen, so daß heute die Frage auf- geworfen ist: welche Bindungen, welche echten u n d lebendigen Bindungen stehen uns heute denn noch zur Verfügung, u m die staatliche Gemeinschaft aufrechtzuerhalten?

U n d es k a n n nach meiner M e i n u n g keine größere Sorge geben, als die zerrissenen Bindungen jeder A r t aufs sorgfältigste wie- der z u knüpfen und sie da, w o sie schwach werden, wieder z u stärken. U n d diese B i n - dungen werden schwach, wo der Glaube d e r Vertriebenen an ein gemeinsames deutsches Schicksal gefährdet w i r d .

Ich sagte, w i r stehen a n einem bedeut- samen Augenblick dieser Entwicklungj denn man k a n n vieles proklamieren u n d verspre- chen u n d verkünden. A b e r einmal kommt der T a g , a n dem der W i l l e zur Tat sich be- währen muß; u n d e i n bedeutsamer Prüfstein für das, was a n Gemeinschaftsbewußtsein i n uns allen lebendig ist, w i r d die Entscheidung über den Lastenausgleich sein. Ich denke hier nicht a n das Wirtschaftliche, sondern ich denke daran, daß bisher, soweit m i r bekannt, ist, noch niemand öffentlich u n d k l a r gesagt hat, w i r leugnen das Recht der Vertriebenen auf einen solchen Ausgleich; sondern jeder hat erkannt: jawohl, es ist eine Pflicht, es ist eine sittliche Pflicht, diesen Ausgleich des Schicksals i m Rahmen des Möglichen herbei- zuführen. A b e r das genügt nicht. Das ge- nügt insbesondere nicht, wenn solche Erklä- rungen einen der grundlegenden Beruls- stände unseres V o l k e s nicht hindern, auszu- sprechen, daß eine höhere Belastung als e i n Prozent pro Jahr für i h n nicht tragbar ist.

M a n w i r d wissen müssen, daß, wenn die V e r - triebenen v o n einem Ausgleich s p r e c h e n , sie auch wirklich einen Ausgleich m e i n e n ,

(Lebhafter Beifall.)

Ich habe gesagt, ich spreche heute nicht v o m Wirtschaftlichen. D e n n diese Stunde u n d das, was i n dieser Stunde unter uns lebendig ist, das ist v i e l mehr. A b e r ohne die wirtschaftliche Seite des Lebens können

w i r n u n einmal nicht das leisten, was z u l e i - sten w i r geboren sind. Es ist e i n eigentüm- licher Zusammenhang, daß, als einmal v o r Jahrhunderten unsere Heimat deutsches L a n d wurde, dieses Geschehen die Antwort Europas auf eine lebenswichtige Frage war.

Europa mußte sich entweder dem ständig wachsenden Angriff des Ostens aussetzen und damit auf seine Zukunft verzichten, oder es mußte d e n Entschluß fassen, i m Osten die A b w e h r wachsen z u lassen. Diese A b w e h r ist geschaffen; sie ist gewachsen; w i r haben ihre Aufgabe getragen, solange das Schick- sal unserer Frauen u n d K i n d e r u n d auch u n - ser eigenes uns die Möglichkeit dazu gab.

Jetzt, w o w i r vertrieben sind, stellt sich her- aus, daß unser Schicksal v o n neuem eine W e g m a r k e ist, a n der sich grundsätzliche u n d wesentliche Entscheidungen Europas u n d so- gar der W e l t vollziehen werden.

V o n einem Punkt sprach ich 6chon. E s w i r d 6ich a n unserem Schicksal entscheiden, ob das deutsche V o l k eine Schicksals- gemeinschaft ist u n d bleiben w i l l . Es w i r d sich aber mehr entscheiden a n unserem Schicksal. W i r haben unsere Zukunft nicht auf Gewalt gestellt. W i r stellen unsere Z u - kunft auf den Glauben daran, daß, je mehr die W e l t zu einer W e l t zusammenwächst, u m so mehr das Recht der Maßstab für die O r d - nung werden muß, u n d daß dieser Maßstab des Rechtes n u r die Rechte des Menschen sein können, z u denen die ganze W e l t sich in der feierlichsten u n d verpflichtendsten Form bekannt hat u n d bekennt.

Und wenn ich sage, daß unser Schicksal eine Wegemarke i n dieser Entwicklung ist, dann meine ich das s o : wenn nicht die W e l t sich dahin verständigt, daß a n diesem unse- rem Schicksal die Herrschaft des Rechtes über die Macht, die Herrschaft der Menschen- rechte über andere Machtbestrebungen z u m Siege kommt, dann verzichtet sie auf die sittlichen Grundlagen, auf die sie ihre eigene Zukunft aufbauen w i l l . Daß heißt, wenn s i e unsere Zukunft endgültig vernichtet, vernich- tet sie damit die eigene Zukunft emar nach den Menschenrechten geordneten W e l t .

Sie mögen denken, das liegt 6o weit v o n uns, was k a n n ich einzelner z u diesen großen Entwicklungen tun? N u n , meine Freunde, manch einer w . r d unter Ihnen stehen, der früher einmal auf seinem Grundstück aus Gründen der Vernunft u n d aus Gründen des Zusammenlebens freiwillig einen Privatweg gestattet hat. E r hat dann sorgfältig darauf geachtet, daß diese Tafel, die den W e g a l s Privatweg bezeichnet, ja nicht unterging, da- mit nicht allmählich durch die Gewöhnung und duich die Verjährung seines Rechtsan- spruches auf seinem eigenen W e g Boden ver- loren ging. D i e W e l t und das Völkerrecht kannten lange das Recht des Eroberers, u n d das Völkerrecht hat sich i n den letzten Jahr- zehnten ganz zielstrebig i n der Richtung ent- wickelt, dieses Recht des Erobereis, werm nicht ganz abzuschaffen, so doch einzu- schränken. Es gibt Entwicklungen, durch die nachträglich die vollzogene Tatsache der E r - oberung Recht werden kann, dann nämlich, wenn deT Betroffene zustimmt, wenn der Be- troffene d e n Einspruch unterläßt, u n d dann, w e n n etwa durch Gewöhnung oder durch einen verjährungsähnlichen V o r g a n g die Uebereinstimmung der Allgemeinheit den Rechtstitel des Eroberers anerkennt.

W i r dürfen also nicht müde werden. W ! r müssen d i e Tafel mit dem Anspruch auf u n - ser Eigentumsrecht immer wieder errichten.

W i r müssen, w e n n durch d i e Gewöhnung

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20. J u l i 1950 / Seit« 204 . W i r Ostpreußen'' Folge 14 / Jahrg. 1

oder durch gutes und schlechtes Wetter die Inschrift unleserlich w i r d , sie immer wieder erneuern und die Tafel dahin stellen, wo sie als ständige Bekundung unseres einmütigen W i l l e n s gegen den W i l l e n des Eroberers w e i t h i n sichtbar ist.

Darum ist jede Zusammenkunft unserer Schicksalsgemeinschaft, die diesem Ziele dient, ein Baustein, der ein Fundament baut oder es doch gegen den V e r f a l l sichert, auf dem, wie wir hoffen, die Entwicklung der Zukunft beruhen w i r d .

Ich weiß, es wäre vergebens, u n d niemand könnte diese Kräfte wieder zusammenfassen, w e n n es nötig wäre, uns zur Einigkeit zu mahnen. Diese Einigkeit, die unter uns be- steht, wollen w i r bewahren. W i r wollen un- ablässig u n d unermüdlich nach unserem Recht rufen, und w i r wollen glauben und vertrauen, daß der W i l l e zur Freiheit, der die freie W e l t trägt, uns nicht ausschließen kann, wenn er sich nicht selbst aufgeben w i l l .

Und so wollen w i r auf Einigkeit und Recht

und Freiheit unseren unerschütterlichen Glauben an die Zukunft aufbauen auch m i t dem Erlebnis dieser Stunde. U n d w i r w o l l e n in dem Gebet, das n u n seit dreißig J a h r e n die immer wieder gefährdeten ostdeutschen Menschen i n den politischen Kundgebungen ihrer Heimat begleitet, i n den W o r t e n des Niederländischen Dankgebetes, a l l diesen W i l l e n , a l l diesen Glauben, a l l dieses Ver»

trauen und alle unsere Liebe zusammenfas- sen, in dem Lied u n d i n dem letzten Aufc schrei u n d Gebet: Herr, mach uns frei!

Das „endgültig verlorene" Ostpreußen

Ein Briefwechsel Dr. Gille — Nordwestdeutscher Rundfunk W i r berichteten in Folge 12 unter der

Ueberschrift . W a s vom N W D R gesendet w i r d " über die geradezu verantwortungs- lose Einstellung, die bei einzelnen Stellen des N W D R zu der Frage der Wiedergewin- n u n g unserer geraubten Ostgebiete vorhan- den ist. In einer Sendung war z. B. gesagt worden, daß Ostpreußen und Oberschlesien für Deutschland endgültig verloren sein dürften.

In dieser Angelegenheit hat der stellver- tretende Sprecher der Landsmarinschaft Ost- preußen, Dr. G i l l e , an den Generaldirek- tor des N W D R , Minister a. D. Dr. Grimme, das folgende Schreiben gerichtet:

11. J u l i . Sehr geehrter Herr M i n i s t e r l A m 12. 6. wandte sich die Landsmann- schaft Ostpreußen durch ihren Geschäfts- führer an Sie und teilte Ihnen mit, daß i n Sendungen des Ihrer Verantwortung unterstehenden N W D R zu unserer For- derung auf Rückgabe der uns geraubten ostpreußischen Heimat in einer Weise Stellung genommen wird, gegen die w i r aufs schärfste Verwahrung einlegen müs- sen. H e r r Werner Baecker bezeichnet es i n einem Schreiben als .instinktlos und anmaßend", zu diesem Zeitpunkt über- haupt von einer Rückkehr in die Heimat zu sprechen. Frau Kohrs äußerte sich im Hamburger Wirtschaftsfunk wie folgt:

.Dabei muß man sich doch darüber klar sein, daß hier nur an die Gebiete jenseits der Oder und Neiße i n den Grenzen von 1937 ohne Ostpreußen und Oberschlesien gedacht werden kann, denn diese beiden Gebiete dürften für Deutschland endgültig verloren sein, da sich wohl auch bei den Westalliierten niemand finden wird, der seine Stimme für diese Gebiete erhebt."

Schließlich hat sich Herr Dr. Lothar Misch- ke dahin geäußert, daß er es für zwecklos halte, wenn w i r immer wieder unsere Rechtsansprüche geltend machen. M i t Rechtsbegriffen sei wenig anzufangen, e6 handele sich nur um eine Entscheidung brutaler MachtpoLitik.

Der Geschäftsführer der Landsmann- schaft hatte Sie gebeten, zu diesen V o r - fällen Stellung zu nehmen. Da bis zum heutigen Tage eine Antwort nicht einge- gangen ist, werde ich nun diese Angele- genheit auf einer Abstimmungsfeier der Ö6t- und Westpreußen in Düsseldorf am Sonntag, dem 16. 7., erörtern und in un- mißverständlicher Weise zum Ausdruck bringen, daß w i r unter keinen Umständen gewillt sind, diesen Verrat an unserer Heimat seitens maßgeblicher Mitarbeiter des N W D R stillschweigend hinzunehmen.

Ich werde die Vorwürfe auch gegen Ihre Person erheben, falls ich bis dahin nicht eine eindeutige Erklärung erhalte, daß Sie sich von diesen Entgleisungen Ihrer Mitarbeiter abselzen und gewillt sind,

diese Personen schnellstens aus dem M i t - arbeiterkreis des N W D R zu entfernen.

Diesen Brief werde ich nach dem 16. 7.

der Presse zur Veröffentlichung über- geben.

M i t vorzüglicher Hochachtung]

Dr. G i l l e . A m 17. J u l i , nach seiner Rückkehr v o n der Kundgebung in Düsseldorf, fand Dr.

Gille die folgende Antwort von General- direktor Dr. Grimme vor:

13. J u l i . Sehr geehrter H e r r G i l l e !

Ich erlaube mir, Ihnen als Anlage A b - schrift eines Schreibens an den H e r r n Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen zu übersenden, das 6ich mit der in Ihrem Brief vom 11. J u l i beanstandeten Sendung des N W D R befaßt.

Ich hoffe, damit Ihrem berechtigten A n - liegen Rechnung getragen zu haben.

M i t vorzüglicher Hochachtung Grimme Der i n diesem Schreiben erwähnte Brief von Dr. Grimme an Minister Kaiser hat den folgenden Wortlaut:

13. 7. 1950.

Sehr verehrter Herr M i n i s t e r ! Auf Ihr Schreiben vom 23. J u n i — 1-4-2555/50 — betr. Wirtschaftsfunk, teile ich Ihnen mit, daß ich der darin zum A u s - druck gebrachten K r i t i k der — übrigens nicht v o n Frau Kohrs verfaßten — Sen- dung . E i n e wirtschaftliche Notwendigkeit*

v o m 5. 6. 50 i n vollem Umfange beitrete.

Ich bedauere, daß diese befremdliche Auf- fassung über Ostpreußen und Oberschle- sien im Rahmen eine6 N W D R - K o m m e n - tars zu W o r t gekommen ist.

Sobald sich ein entsprechender Anlaß bietet, w i r d der N W D R diese Frage noch- male aufgreifen und in einem der Sache angemessenen Sinne behandeln."

M i t vorzüglicher Hochachtung und den besten Empfehlungen

Grimme Zu diesem Briefwechsel ist folgendes fest- zustellen:

1. Die Landsmannschaft Ostpreußen hat auf ihr Schreiben v o m 12. J u n i von General- direktor Dr. Grimme bisher Uberhaupt keine A n t w o r t erhalten.

2. Das Schreiben v o n Bundesminister Dr.

Kaiser an Dr. Grimme vom 23. J u n i wurde erst beantwortet, als Dr. G i l l e i n seinem Schreiben vom I i . J u l i an Dr. Grimme dar- gelegt hatte, daß er diese Angelegenheit auf der Kundgebung i n Düsseldorf erörtern und seinen Brief nach dem 16. J u l i der Presse übergeben werde.

3. Zu den Fällen Baedter und Dr. Lothar Mischke, die i n dem Schreiben der Lands-

mannschaft v o n 12. J u n i erwähnt w o r d e n sind, nimmt Generaldirektor Dr. Grimme überhaupt keine Stellung. In der Politischen Redaktion des N W D R sind also weiterhin Kräfte tätig, die es als instinktlos und a n - maßend erklären, daß w i r jetzt überhaupt v o n einer Rückkehr i n unsere Heimat spre- chen, u n d die — w i r verweisen auf unsere Ausführungen i n Folge 12 — der M e i n u n g sind, daß erst sehr v i e l später, wenn sich unsere internationale Position entsprechend gestärkt habe, der Anspruch auf Rückgabe der abgetrennten Gebiete folgen könne.

Es dürfte k l a r sein, daß die ganze A n g e - legenheit mit der unbefriedigenden A n t w o r t v o n Dr. Grimme an Dr. G i l l e keineswegs er- ledigt ist.

Für ein europäisches Flüchtlingsamt

R h e i n f e l d e n . A u f d e r d e u t s c h - f r a n z ö s i s c h e n P a r l a m e n t a r i e r - K o n f e r e n z i n R h e i n f e l d e n , a n d e r 45 d e u t s c h e A b g e o r d n e t e — d a r u n t e r v i e l e V e r t r i e b e n e — u n d e b e n s o v i e l e f r a n z ö s i s c h e A b g e o r d n e t e t e i l n a h m e n , w u r d e v o n d e r K o m - m i s s i o n f ü r F l ü c h t l i n g s f r a g e n d e r K o n f e r e n z f o l g e n d e r B e s c h l u ß g e f a ß t , i n d e m das A r b e i t s - e r g e b n i s d e r K o m m i s s i o n z u s a m m e n g e f a ß t w i r d :

„ D i e a n d e r z u m 19. J u n i a u f V e r a n l a s s u n g des G e n e r a l s e k r e t ä r s d e r E u r o p a i s c h e n P a r l a - m e n t a r i e r - U n i o n e i n b e r u f e n e n D e u t s c h - F r a n z ö - s i s c h e n K o n f e r e n z b e t e i l i g t e n P a r l a m e n t a r i e r v e r p f l i c h t e n s i c h , a l l e s N ö t i g e z u v e r a n l a s s e n , u m d i e S c h a f f u n g e i n e r S o n d e r k o m m i s s i o n f ü r F l ü c h t l i n g s f r a g e n (a. D . P . , b. F l ü c h t l i n g e , c. V e r t r i e b e n e ) b e i m E u r o p a r a t z u e r r e i c h e n z w e c k s B i l d u n g e i n e s E u r o p ä i s c h e n F l ü c h t l i n g s - a m t e s , w e l c h e s d u r c h a l l e N a t i o n e n m i t t e l s e i n e r m o r a l i s c h e n u n d m a t e r i e l l e n H i l f e u n t e r - stützt w e r d e n s o l l . S i e e r a c h t e n es f ü r w ü n - s c h e n s w e r t , d i e h e u t e a u f d i e F r a g e d e r D P « u n d a u f d i e j u r i s t i s c h e S e i t e des P r o b l e m s d e r S t a a t e n l o s e n b e s c h r ä n k t e Z u s t ä n d i g k e i t d e s H o h e n K o m m i s s a r s b e i d e r U N O a u f d e n g e - s a m t e n F l ü c h t l i n g s f r a g e n k o m p l e x a u s z u d e h n e n , i n s o w e i t das P r o b l e m , i n t e r n a t i o n a l g e s e h e n « z u B e s o r g n i s s e n A n l a ß g i b t . "

M r . N e w m a n besuchte Flüchtlingsbetriebe

S U i e r s t a d t / T s . D e r a m e r i k a n i s c h e L a n d e s - k o m m i s s a r f ü r H e s s e n , M r . N e w m a n , b e s u c h t e m i t J o u r n a l i s t e n a m 12. J u n i d i e G l a s i n d u s t r i e d e r H e i m a t v e r t r i e b e n e n i n S t r i e r s t a d t i m T a u n u s . D i e B e t r i e b e , d i e z u m g r ö ß t e n T e i l a u s d e m S u d e t e n l a n d , b e s o n d e r s a u s G a b l o n z , h i e r Ihre n e u e n W e r k s t ä t t e n e r r i c h t e t h a b e n , b e z e i c h n e t e M r . N e w m a n a l s f o r t s c h r i t t l i c h u n d w e g w e i s e n d f ü r d i e g e s a m t e G l a s i n d u s t r i e . B e - s o n d e r s w u r d e h e r v o r g e h o b e n , d a ß d i e F l ü c h t - l i n g s b e t r i e b e , d i e m i t K r e d i t e n v o n i n s g e s a m t 350 000 D M w i e d e r e r r i c h t e t w u r d e n , s c h o n h e u t e w i e d e r M i l l i o n e n w e r t e s c h a f f e n . D i e G l a s - i n d u s t r i e d e r H e i m a t v e r t r i e b e n e n i n S t r i e r - s t a d t b e s c h ä f t i g t b e r e i t s m e h r a l s 500 A r b e i - t e r . H i e r b e i w u r d e b e k a n n t , d a ß d e r h e s s i s c h e S t a a t 500 000 D M als K r e d i t e z u e r m ä ß i g t e n Z i n s e n f ü r F l ü c h t l i n g s b e t r i e b e b e r e i t g e s t e l l t h a t .

M ü n c h e n . In M ü n c h e n t r a f e n s i c h D e l e g i e r t e a u s a n n ä h e r n d 100 K r e i s e n B a y e r n s , d i e r u n d 200 000 o r g a n i s i e r t e M i t g l i e d e r v e r t r a t e n , u m d i e b e i d e r T a g u n g v e r t r e t e n e n V e r b ä n d e z u e i n e m L a n d e s v e r b a n d d e s Z . v. D . z u -

s a m m e n z u s c h l i e ß e n . D e r Z . v . D . s t ü t z t s i c h d a m i t a u f d i e L a n d e s v e r b ä n d e aP.er B u n d e s - l ä n d e r u n d u m f a ß t i n s g e s a m t 1,5 M i l l i o n e n V e r t r i e b e n * .

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Folge 14 / Jahrg. 2 . W i r Ostpreußen* 2. J u H 1950 / Seite 205

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Gebt uns unsere Heimat wieder 1

Dr. Gille sprach auf der Abstimmungsfeier in Düsseldorf

A u f d e r A b s t i m m u n g s f e i e r , d i e a m 1*. J u l i i n D ü s s e l d o r f s t a t t f a n d — w i r b e r i c h t e n d a r ü b e r a n a n d e i e r S t e l l e d i e s e r F o l g e — h i e l t d e r S t e l l v e r t r e - t e n d e S p r e c h e r d e r L a n d s m a n n s c h a f t O s t p r e u ß e n , D r . O i 11 e, d i e H a u p t r e d e .

D r . G i l l e , v o n den Tausenden mit stür- mischem Beifall begrüßt, führte i n seiner Rede u . a. folgendes aus:

D r e i volle Jahrzehnte sind seit jenem 11. J u l i 1920 ins Land gegangen. W a s ge- schah damals? Es w a r nicht so, daß w i r ost- u n d westpreußischen Menschen damals z u einem Reich hinströmten, das etwa i n Glück u n d Fülle lebte. Deutschland wurde wenige Monate vorher i n Versailles i n Ket- ten gelegt. N o t u n d Sorge mußten also i n den nächsten Jahren erwartet werden.

Dennoch bekannten sich damals die O s t - u n d Westpreußen z u ihrem Land, nach d e m der Pole seine H a n d ausstreckte. Sie be- kannten sich z u Deutschland, das sich i n N o t und Sorge befand. D i e Heimatliebe hat w o h l k a u m jemals so ohne jede Spur einer

In der Politik gibt es vorsichtige M e n - schen, die meinen, es störe, wenn w i r immer wieder so rufen. Es störe die Geruhsamkeit, die Behaglichkeit, es störe vielleicht auch amtliche Schritte der deutschen Politik. Ich glaube nicht, daß diese Menschen recht haben. W i r kommen nicht mit dem Stand- punkt weiter, daß w i r die Taktik einschla- gen: Immer daran denken, nie davon spre- chen I W e n n w i r das Z i e l erreichen wollen, w e n n w i r wollen, daß das ganze deutsche V o l k immer daran denkt, dann müssen w i r doch reden! Sonst denkt man vielleicht doch nicht daran. Es kann auch nicht schaden, wenn die Führung der deutschen Politik und die Führung der internationalen Politik immer wieder daran erinnert w i r d , daß das Problem der Ostvertriebenen immer noch ungelöst ist. Deshalb müssen w i r reden, auch auf die Gefahr h i n , daß w i r hier u n d d a etwas unangenehm auffallen. A u c h w e n n der Zungenschlag einmal nicht ganz mit amt- lichen Noten und Verlautbarungen überein-

M,« I, „ I M » » . ,

fiUifcfMino - wi5K0XI«Äiß-Qkc- Selbstsucht und eines Eigennutzes Ausdruck

finden können, w i e damals. W i r konnten keinen klingenden Lohn erwarten für dieses Bekenntnis, sondern w i r konnten n u r er- warten, daß w i r gemeinsam mit unseren deutschen Brüdern u n d Schwestern i n allen T e i l e n des Reiches Not, Sorge u n d Elend gemeinsam tragen mußten. W i r bekannten uns trotzdem z u Deutschland. W i r möchten gern, daß auch das westliche Deutschland das heute weiß u n d sich dessen erinnert!

N u n leben w i r seit 1945 getrennt v o n der Heimat, i n N o t und Sorge, i n einem Elend, v o n dessen Ausmaß sich k a u m jemand eine rechte V o r s t e l l u n g machen kann. In dieser Zeit der N o t treten w i r hier zusammen und bekunden unseren W i l l e n :

Ost- u n d westpreußische Heimat! W i r lassen dich nicht! N i e u n d nimmerl Komme, was kommen m a g ! Jahre kön- nen vergehen, vielleicht auch Jahr- zehnte. Solange Menschen leben, die dieses Deutschland ihre Heimat nennen, werden w i r nicht aufhören, z u rufen u n d z u schreiben: .Gebt uns unsere Heimat w i e d e r ! " (Langanhaltender stürmischer Beifall.)

stimmt. A b e r w i r sind i n diesen Fragen mit der verantwortlichen Führung der deutschen Politik gar nicht uneins. W i r w o l l e n an die- sem T a g mit Dankbarkeit anerkennen, daß der Deutsche Bundestag u n d die Deutsche Bundesregierung i n einer seltenen Einmü- tigkeit sich für unsere Heimat ausgesprochen haben gegenüber dem frevelhaften V e r - such der Marionettenregierung Pieck-Grote- w o h l , auf dieses Stück Deutschland z u ver- zichten. (Pfui-Rufe.)

M e i n e lieben Landsleute! W i r haben dazu deutlich unsere Ansicht gesagt. M a n kann nur auf etwas verzichten, w a s man einmal besessen hat! Ich weiß nicht, mit welchem Rechtstitel die H e r r e n Pieck und Grotewohl auf Ost- u n d Westpreußen, auf Pommern und Schlesien verzichten wollten! Leute die- ses Schlages haben niemals dieses Land besessen! In dieser Forderung wissen w i r uns mit der überwiegenden Mehrheit des deutschen V o l k e s einig. Manchmal werden w i r allerdings nicht den Eindruck los, als ob m a n dieses Problem doch sehr unter einem materiellen Geschichtspunkt sieht.

Manchmal schwingt e i n T o n i n den Erklä- rungen mit, der bedeuten könnte: . J e eher Ihr zurückkommt, desto schneller werden

w i r mit den Sorgen fertig, die Ihr uns heute bereitet!" Dieser T o n darf im Rahmen u n - serer Forderung auf Rückgabe der Heimat niemals zu hören sein. Es geht j a nicht u m etwas Materielles. Es geht um v i e l mehr.

Unser staatliches und gesellschaftliches L e - ben krankt hoffnungslos daran, daß Bindun- gen, die i n früheren Jahrzehnten selbst- verständlich waren, heute nicht mehr gelten und sich nicht mehr durchsetzen können.

W i r müssen deshalb alles, was an echten Bindungen, ohne die eine Ordnung und G e - meinschaft nicht auskommen kann, noch vorhanden ist oder wieder hergestellt wer- den kann, suchen und danach streben, diese Bindungen wieder z u r Geltung kommen z u lassen. Es gibt keine stärkere Bindung für eine Gemeinschaft u n d eine Ordnung, als die heiße Liebe z u dem Boden, aus dem m a n entstammt.

In dieser Stunde muß ich aber auch e i n ernstes W o r t der K r i t i k sagen. A l l e r d i n g s hatten w i r geglaubt, das, was w i r hier vor- zutragen haben, etwas geräuschloser, v i e l - leicht sogar ohne Inanspruchnahme der Oeffentlichkeit, erledigen zu können. Das ist aber leider nicht möglich. Ich habe einige ernste W o r t e an den Nordwestdeutschen Rundfunk z u richten. M e i n e Damen u n d Herren! Im Laufe der vergangenen Wochen ist es mehrfach vorgekommen, daß i n Sen- dungen des N W D R zu unserer Heimatfrage, zu unserer heimtpolitischen Forderung sehr, sehr törichte W o r t e gefallen sind! (Pfui- Rufe.) In einer Sendung des Wirtschafts- funks wurde ganz nüchtern „festgestellt", daß Ostpreußen und Oberschlesien für uns endgültig verloren wären. (Dr. G i l l e gibt dann die bekannten Einzelheiten wieder, d i e auch i n seinem an anderer Stelle dieser Folge veröffentlichten Briefwechsel mit D r . Dr. Grimme enthalten sind.)

Meine lieben Landsleute! W i r haben ver- sucht, das durch einen Schriftwechsel z u klären. Die Antwort w a r jedoch, daß m a n es . a l s instinktlos u n d anmaßend" empfinde, wenn die Heimatvertriebenen dauernd nach ihrer Heimat riefen! (Erneute Pfui-Rufe.) D a - her richte ich jetzt also i m v o l l e n Bewußt- sein der Verantwortung, die w i r uns selbst gegeben haben u n d auch tragen, an M i n i - ster Grimme die dringende Bitte, sich e i n - mal seine Mitarbeiter etwas genauer unter die Lupe z u nehmen! (Anhaltender Beifall, Zurufe: Sehr richtig!)

W i r sind unter keinen Umständen gewillt, uns v o n verantwortungslosen Schwätzern, die entweder z u dumm oder z u böswillig sind, u m das Problem i n seiner ganzen Größe zu sehen, unsere Forderung auf Rückkehr i n unsere Heimat, hinter die sich der ganze Bundestag, die Bundesregierung u n d dar- über hinaus weite Kreise Westdeutschlands stellen, etwa „wurmstichig" machen z u las- sen. D a muß schnellstens W a n d e l geschaffen werden. W h * erbeben unsere warnende Stimme u n d rufen alle Instanzen auf, die Leute restlos z u beseitigen, die auf G r u n d der chaotischen Verhältnisse v o n 1945 auf solche wichtigen Posten gelangt sind u n d noch immer unbemerkt a n Stellen sitzen, a n denen sie nichts zu suchen haben! (Stürmi- scher Beifall.)

Es ist nicht zweckmäßig, i m Rahmen einer Feierstunde i n die Niederungen des politi- schen Tageskampfes zu gehen. Erwarten Sie, meine lieben Landsleute, also nicht, daß ich zu den vielen brennenden Problemen SteW

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80. J u l i 1950 / Seite 206 . W i r Ostpreußen" Folge 14 7 Jahrg. 2

lung nehme, die uns heute auf den Nägeln brennen und um die hart u n d erbittert ge- rungen w i r d .

Einen Gedanken aber möchte ich ausspre- chen. Vielleicht hilft das auch, das Problem lösbar zu machen. Ich meine den Lasten- ausgleich. Ich bitte, die Dinge einmal ganz ruhig u n d leidenschaftslos v o n einer ande- ren W a r t e zu sehen. In einigen Reden k l a n g schon an, daß es nicht a l l e i n damit getan ist, den deutschen Osten zurückzuverlangen u n d sich dann i n Düsseldorf eine D-Zugkarte zu lösen u n d i n Königsberg auf dem Haupt- bahnhof wieder auszusteigen, den alten, vielleicht verrosteten Hausschlüssel z u neh- men und aufzuschließen u n d dann da wie- deranzufangen, w o w i r 1945 aufgehört haben. W e n n eines Tages die glückliche Stunde der Rückkehr schlägt u n d die Mög- lichkeit gegeben ist, die deutschen Ost- gebiete wieder z u deutschem Land z u machen, dann steht v o r uns, j a v o r dem ganzen deutschen V o l k eine Aufgabe v o n einer Größe, w i e sie Deutschland wahr- scheinlich noch nie gestellt war, eine Auf- gabe, die nicht allein v o n den paar M i l l i o - nen Heimatvertriebenen gelöst werden kann.

H i n t e r unserem Rücken muß e i n wirtschaft- lich gesundes Deutschland stehen, das i n einer sozial gerechten O r d n u n g eine G e - meinschaft aller deutschen Menschen bildet.

W e r soll diese Aufgabe aber einmal lösen?

W i r ? Unsere Kinder? Sie werden diese Auf- gabe z u lösen haben. A b e r nehmen w i r ein- mal an, daß es noch Jahre dauert. Sind dann unsere K i n d e r überhaupt i n der Lage, diese A r b e i t zu leisten, w e n n es nicht anders w i r d als bisher? Das ganze deutsche V o l k — nicht nur wir allein — muß fordern, daß die

Fähigkeiten, die beruflichen Anlagen unse- rer heranwachsenden Jugend geschult wer- den, auch wenn sie nicht gleich verwertbar sind. Dann können sie eines Tages i n der Lage sein, diese große Aufgabe anzupacken.

A b e r auch w i r Erwachsenen, die i m beruf- lichen Leben gestanden haben, dürfen nicht die Hände i n den Schoß legen. E i n Sprich- wort lautet: . W e r rastet, der rostet!" W e n n w i r aber fünf bis zehn Jahre unsere beruf- lichen Fähigkeiten nicht mehr üben, dann gehen sie eines Tages verloren. Diese Ent- wicklung befürchten w i r besonders i n der Landwirtschaft, bei unseren ostvertriebenen Bauern. Sie müssen mit dem Boden i n V e r - bindung gebracht werden. W i r w o l l e n k e i n Eigentum haben. Unsere Bauern wären auch schon mit dem Boden verbunden, wenn sie auf Pachtland wieder den Pflug ziehen könn- ten. W i r bitten daher, d e n Lastenausgleich auch i n diesem Sinne z u verstehen. Die M i t - tel u n d die Möglichkeiten müssen geschaffen werden, damit die jetzt brachliegenden be- ruflichen Möglichkeiten der ostdeutschen Menschen nicht rasten u n d nicht rosten, j a schließlich verloren gehen. Ferner müssen Möglichkeiten geschaffen werden, daß w i r unseren K i n d e r n das gleiche Bildungsgut und fachliche Können weiterreichen können, wie es der einheimischen Bevölkerung mög- lich ist. D a n n können unsere K i n d e r i n unsere Fußstapfen treten, falls e i n T e i l v o n uns vielleicht für die Lösung der großen Aufgabe nicht mehr die nötige Spannkraft haben sollte. D e r Lastenausgleich — unter diesem Gesichtspunkt gesehen — ist e i n Opfer Westdeutschlands für die W i e d e r - gewinnung der deutschen Ostgebiete! (Bei- fall.)

einen direkten Lastenausgleich zugesagt.

(Beifall.) W i r verlangen einen Rechts- anspruch u n d eine echte Vermögensumschich- tung. (Beifall.) Der Lastenausgleich darf n i e u n d nimmer i n der F o r m v o n Fürsorge- maßnahmen nach dem V o r b i l d des Sofort- hilfegesetzes erledigt werden. (Beifall.)

Im Rahmen dieser Erörterungen haben w i r seit M o n a t e n e i n Gesetz gefordert, das d i e Möglichkeit schafft, die Schäden e i n w a n d - frei festzustellen, die w i r alle erlitten haben.

Die Erörterungen k r a n k e n daran, daß jeder v o n Zahlen ausgeht, für die der Nachweis fehlt. W i r sehen aber auch unsere Forde- rung zur Schadensfeststellung nicht nur i m Sinne einer Untermauerung unserer mate- riellen Ansprüche i m Lastenausgleich. Durch eine amtliche Nachprüfung u n d Feststellung muß bescheinigt werden, w i e groß unser) Opfer gewesen ist, das w i r für Deutschland haben bringen müssen. W i r möchten e i n für alle M a l bescheinigt haben, daß w i r nicht als Bettler u n d Lumpen aus dem Osten ge- kommen sind, sondern daß w i r aus einer wohlgeordneten, blühenden deutschen W i r t - schaft, a n der Generationen gearbeitet haben, herausgeworfen worden sind. (Bei- fall.) Es scheint nötig z u sein, daß unsere K i n d e r wissen, aus welchem Nest sie ge- kommen sind. Diese Dinge haben nichts mit G e l d z u tun. Es fällt i n das Gebiet der B i n - dungen, aus denen rechtliche Verpflichtun- gen erwachsen.

M e h r möchte ich i n dieser Stunde z u d e n Problemen der Politik nicht sagen. Diese Stunde steht j a unter dem flammenden Leitwort: . G e b t uns unsere Heimat wieder 1"

A u c h i n Zukunft werden w i r , w i e i n d e r Vergangenheit, diszipliniert unsere Forde- rungen vertreten. W i r werden uns nicht z u ungesetzlichen Maßnahmen hinreißen lassen.

Ich weiß nicht, ob der Westen Deutschlands überhaupt richtig begriffen hat, was er der disziplinierten H a l t u n g dieser M i l l i o n e n - masse der Heimatvertriebenen eigentlich verdankt! (Zurufe: Sehr richtig!) Es hätte auch anders sein können!! Diese acht M i l - lionen kamen i n N o t u n d Elend. Sie fühlten sich gebunden an die sittlichen Maßstäbe, die sie auch i n der Heimat anerkannten. Es hätte auch dahin kommen können, daß sie sich aus V e r z w e i f l u n g v o n diesen Bindungen gelöst hätten. W a s wäre dann w o h l aus Deutschland geworden? W a s wäre aus dem A u f b a u dieses Landes geworden, w e n n w i r i n den fünf J a h r e n die N e r v e n v e r l o r e n hätten u n d uns nicht mehr einer schicksals- gebundenen Gemeinschaft verpflichtet ge- fühlt hätten? W i r werden aber unsere bis- herige Linie nicht verlassen. Westdeutsch- land k a n n gewiß sein, daß die Heimat- vertriebenen eine Gemeinschaft sind, i n der die sittlichen Grundsätze noch gelten. (Bei- fall.)

W e n n i n dieser Stunde Tausende v o n Menschen hierher gekommen sind, d a n n nicht deshalb, w e i l sie hoffen oder glauben, daß sie einen T e i l des Lastenausgleichs mit nach Hause nehmen können, sondern, u m zu bekunden, daß sie i n der Liebe zur H e i - mat tren stehen, auch wenn es ihnen schlecht geht. Sie bekunden, daß sie noch nicht v e r - gessen haben, was sie dieser Heimat schul- dig sind. (Beifall.)

Oft w i r d uns die Frage vorgehalten: H e i - matvertriebene, w o h i n geht E U C T W e g ? W i r wollen die A n t w o r t geben: W e n n es nach unserem W i l l e n geht, dann s o l l unser W e g nicht i n e i n neues Chaos, i n neues U n h e i l gehen, sondern dann s o l l unser W e g a l s Heimatvertriebene gemeinsam mit der e i n - heimischen Bevölkerung i n harter u n d zäher A r b e i t i n eine schönere, bessere deutsche Zukunft u n d i n e i n geeintes Europa führenl"

(Langanhaltender, stürmischer Beifall.)

Nicht als Bettler gekommen!

I m Rahmen der politischen Auseinander- setzungen fallen auch einmal harte und bittere Worte. Es geht j a nicht u m kleine Dinge. Bei uns geht es u m Sein oder Nicht- sein. M a n muß doch dafür Verständnis haben, daß man das nicht mit leisen W o r t e n sagen kann, was gesagt werden muß. W i r Heimatvertriebenen legen entscheidenden W e r t darauf, daß die Bevölkerung West- deutschlands unser politisches W o l l e n auf dem Gebiet der Heimat- oder der Innen- politik nie so verstehen möchte, als ob w i r einen K e i l oder eine Angriffsspitze gegen die einheimische Bevölkerung bilden w o l l e n . Nichts liegt uns ferner. W e n n überhaupt eine Gruppe v o n Menschen k e i n Interesse daran haben darf, das deutsche V o l k aufzu- splittern und i n Richtungen u n d Bestrebun- gen aufzuspalten, die nicht mehr z u ein- ander finden, dann sind das w i r Heimat- vertriebenen. W i r wissen, daß unsere For- derung auf Rückkehr i n die Heimat nur dann verwirklicht werden kann, wenn das ganze deutsche V o l k geschlossen diese For- derung als eine Herzenssache erhebt

N o t w e n d i g ist es aber, i n diesem v o m K r i e g so heimgesuchten Westdeutschland, das die unerhört schwere Last v o n acht M i l l i o n e n heimatvertriebenen Menschen z u tragen hat, zu einem A u f b a u einer ehr- lichen, neuen sozialen O r d n u n g zu kommen.

Vielleicht haben gerade w i r dem deutschen V o l k hierbei etwas z u bieten. Niemand k a n n so w i e w i r vorurteilslos u n d frei v o n Hemmungen u n d Bindungen, die Besitz und W o h l s t a n d j a immer bedeuten, bei der Lö- sung solcher Fragen sein. Vielleicht steckt darin sogar der Sinn unseres Schicksals.

Vielleicht müssen w i r dieses harte und schwere Schicksal tragen, w e i l w i r dem deutschen V o l k helfen sollen, eine gerechte O r d n u n g des Wirtschaftslebens z u finden,

die auch Zeiten der Stürme u n d der N o t überdauern k a n n .

Das J a h r 1950 w i r d für uns Heimatvertrie- bene vielleicht i n v i e l e n Dingen e i n J a h r d e r E n t s c h e i d u n g werden. I n diesem J a h r werden vielleicht Fragen z u r Entscheidung heranreifen, die für uns wirt- schaftliche Bedeutung haben. Das Problem des Lastenausgleichs geht mit einem Tempo in die Beratungen, w i e w i r es uns schneller kaum denken können. Ich k a n n mitteilen, daß bereits a m nächsten M i t t w o c h der V i z e - kanzler Blücher die Vertreter der Heimat- vertriebenen empfangen w i r d , u m mit ihnen Grundsatzfragen des Lastenausgleichs z u erörtern. D e r V i z e k a n z l e r erfüllt damit e i n Versprechen des Bundeskanzlers, das dieser uns v o r Wochen gab. Damals sicherte er uns zu, daß diese schweren Fragen nicht eher i n Ausschüssen oder i m Bundeskabinett behan- delt würden, ehe er als Leiter der deutschen Politik nicht Gelegenheit gehabt habe, mit den Vertriebenen-Vertretern i n aller Ruhe und Gründlichkeit z u sprechen. In dieser Unterredung u n d auch später werden w i r uns immer wieder auf den Standpunkt stel- len, daß w i r einen Rechtsanspruch darauf haben, daß e i n T e i l der Lasten, die w i r bis- her getragen haben, auf breitere Schultern gelegt w i r d . Es muß mit offenem V i s i e r ge- kämpft werden. W i r wissen, daß es nicht leicht ist, diese Fragen z u lösen. W i r den- ken auch nicht daran, Forderungen z u er- heben, die die Wirtschaft i n Gefahr bringen könnten. W i r dürfen natürlich nicht den A s t absägen, auf dem w i r sitzen. Grundsätze aber, w i e sie der Bundesfinanzminister i n letzter Zeit verkündet hat, stehen einem ge- rechten Lastenausgleich i m Wege. Die v o n ihm geäußerten Gedanken sind völlig u n - vereinbar mit der feierlichen Regierungs- erklärung der Bundesregierung. Sie hat

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