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.
F r i e d e r i k e B r i o n
.E i n B e i t r a g z u r G o e t h e ' L i t e r a t u r.
Dr . Albe rt B i e l s c h o w s ky .
B R ES L AU.
V e r l a g d e r S c h l e t t e r’ sche n B u c h h an d l u n g E . F r a n c k .
1 8 8 0 .
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orliegende Mono graphie , ein Ergebniss ein ge hender Stu dien , hab e ich in Fo rm en gekl eid et , die sie auch dem w eiten K reis d er Gebildeten verstand lich und anzi ehend mach en so ll en . Ich hab e d eshalb nicht blo s m an ch es hinzugefügt, w a s d er G el ehrt eentb ehren konnt e, sond ern au c h mir man ch e Freiheit genommen, di e sonst in ein er stren g wiss enschaftli ch en Arb eit nicht b erechtigt wäre . S o hab e ich no ch n ach alter W eis e „Wahrheit un d D ichtung“ s tatt „Dichtung und Wahrh eit“, S esenh eim für S ess enheim et c. g e
schrieb en , fern er b ei d er Wiedergab e der jugendbriefe und Gedichte Go eth es nicht die diplo matisch e Ge
n auigk e it , wie z . B . B ern ays im „j un ge n Go ethe “, inn e gehalten, sond ern mir in d er Orthographi.e und Inter pun ctio n einige mo d e rn i s ir e n d e A e n d e ru n ge n erlaubt. Was ich sachlich n eu es zur Erläut erung ein es d er interes santesten p sychologischen Problem e aus
Goethes L eb en, d es sen Ve r s t än d n i s s ein eb enso hel les Licht auf Go ethes Charakter wi e Di ch t un gs w e i s e
zu werfen ge eignet ist, v orgeb racht hab e, da s zu
b e u rth e il e n , üb erla ss e ich d er c o mp e t e n t e n Kritik Ich m einerseits muss dankbar di e Förd erung, di e i ch
durch di e Fors chungen m ein er Vorgänger erfahren hab e, anerk enn en.
B ri e g, October 1 8 7 9 .
D . V.
i e d e r ik e Brion ist eine d er ge fe i e rt st e n deutsch en Frauenges talten . Sie ist es ge word en durch Go ethe . Ohn e di e B erührung mit
Go ethe h atte die Pfarrersto cht er von S es enh eim 1 ) spurlo s un d ge d äch t n i s sl o s ihre L eb ensbahn vollend et, wie taus end andere lieb enswürdige und schön e Pfarrerstöchter vor ihr und nach ihr. D enn nicht blo s di e Stätten , sondern au ch di e P erson en, di e ein grosser M ensch b erührt , sind „ eingew eiht, nach hundert Jahren klingt ihr Wort und ihre That d em Enkel wied er“. Go eth e hat ab er dies e Elsäss erin in ganz b esond erem Grad e hervorgehob en .
W enn wir „Wahrheit und Dichtung“ durchlesen , ziehen man ch e M äd chengestalten an uns vorüb er
Gretchen ‚ Käthch en , Friederike Brion , Lotte , Lili
do ch all e üb erstrahlt Fried erike . Si e u mfii e s s t das ganze Zaub erlicht Go ethe’sch er P o esi e, und wir können uns nicht satt sehen an d em a n muth ige n , klugen
Geschöpf voll er Natürlichkeit und Frische . Darum hat sich ihr auch das Interess e d er M enschen stär k er
zugewandt, als irgend ein er and ern Frau eng estalt aus Go eth e’ s L eb en . Die Go e t h e fo rs ch un g wird nicht mü d e, imm er vo n n euem ihren Spuren n a chzugeh en , j ed es D etail ihres L eb en s festzust ellen , ihre B e
zi ehungen zu Go eth e bis in ’ s kleinst e Fäserch en zu untersu ch en und blo sszulegen , um d en S chlüss el d es V erständnisses für Fried erike und Go ethe zu erlangen . Es i st , al s ob es sich um die Aufh ellung d er Ur
sa ch en w eltges chichtlicher Ereignisse hand elte, mit solch em Eifer wird das Ve rh ält n i s s zwisch en G o eth e und Friederike st u d i rt un d b espro ch en . Das ist di e Macht d er P o esi e ? Sie h ebt ein In dividuum au s d er M illi o n e n z ahl d er M ens chen h erau s und z w ingt die Million en Men sch en , di es em Individ uum ihr Inter ess e , ihre Li eb e, ihre V erehrung zu sch enken .
Dichtung un d Wahrh eit“ denn das ist d er ursprünglich e Tit el d er Goeth e’ sch en S elbstbiographie, n i cht W ahrheit un d Dichtung“ i st wirklich in erster Lini e ein e Dichtung und in zw eiter Geschi chte . Go eth e s elbst wollte darüb er s einen Les e rn kein e n
Zw eifel l ass en und darum hat er da s Buch so b e titelt . In d em Ab s chnitt üb er Fried erike hat j edo ch
die dichterische Phantasie mit den Th at s a c h e n b e sond ers frei geschalt et . Au ch das hat Go eth e mit v oll er Offenh eit b ekannt. Er sagte zu Eckermann , dass in d er Darstellung s ein es V erh ältniss es zu S e s e n heim k ein Strich enthalt en s ei , d er nicht erl ebt, a b e r k e i n S t r i c h s o , w i e e r e r l e b t w o r d e n ; (1. h . die Gru ndlagen d er Erzählung s eien wahr, di e Fo rm, di e G estaltun g, di e M o t i v i run g s ei en rein dichterischen Ursprungs . H ab en wir nun Anhaltspunkte , um fest
zustell en , was von d e r Go eth e ’ sch‘en Darstellung Wahrheit und was Dichtung s ei ? Wir hab en sol ch e. Die Briefe Go eth e’ s aus j en er und sp äterer Z eit, s ein e Dichtungen und die un ermüdlichen Fors chun gen
H e in r . Krus e’ s , S t o b e r ’s , Dün t z e r’ s , L öp e r ’s , Ad . B ai e r ’s und vor allem d es j etzigen t r e ffli ch e n Pfarrers von
S es enheim , hab en un s ein e M enge von Material geliefert, das un s zwar ni cht b efä higt,
üb erall so do ch in d en Hauptsach en di e W ahr heit von d er D ichtung zu untersch eiden und un s
ein e ziemlich b estimmte Vorstellung von d er \Virk li c h k eit zu ma ch en .
Go eth e kam am Anfang April 1 7 7 0 nach Strass burg, um dort seine j uristisch en S t udien , di e in L eipzig nicht s ehr vo rgeschritten waren , zu vollenden .
Er wurd e mit dem M ediciner Weylan d b ekannt, d er ihn in d er ersten Hälfte de s O c t o b e r ' r 7 7 o in di e Famili e d e s Pfarrers Brion in S esenh eim , m it d er W eyland verschwägert war, einführte . Die Famili e de s Pfarrers b estand damals aus si eb en Köpfen : dem Vater, der 5 3 Jahre alt war , d er Mutter, di e 4 6 z ahlte , vi er Tö chtern un d ein em Sohn e . Von d en vi er
Tö chtern war di e ält este nicht m ehr im Hau se . Si e war b ereits v e rh e ir ath e t . Von d en drei an deren w ar Maria
S al o m e a, di e Go ethe d em Vicar of
W
ak e fi e ld zu Li eb e Olivi e n ennt , 2 1 Jahre, Friederike etwa 1 9 Jahre und die dritte, S ophie‚ etwa 1 4 Jahre alt D i ese l etzte hat H e i n r. K ru se n o ch 1 8 3 5 als ho chb etagte Greisin gespro chen . Go eth e erwähnt sie gar nicht, da si e in sein e P a r all e li s ir u n g mit d er P ri mro s e ’s c h e n Famili en icht passt . Dagegen wird d er j üngst e Sohn ,
Christian (damals 7 Jahr e alt) , aufgeführt und zu Ehren s ein es englis ch en Vo rbild es Mo s es genannt. Go eth e s elb er hatt e w enige M onate zuvor sein 2 2 . L ebens j ahr b egon n en . Wir kenn en fa st genau d en Tag,
an w elchem Go eth e zum ersten Male in S es enh eim erschien . Go eth e v erl egt in „Wahr h eit und Dichtung“ d en ersten B esuch w i e all e folgend en in’ s Frühj ah r
und in d en S omm er. Natürlich
'
S ein Idyll konnte k ein en b esseren Hintergrun d hab en , al s grün end e W äld er un d Wies en , wogende S a aten , blüh end e Laub en u . s . w. Th at s a chli ch fi el der erste B esuchwi e s cho n b em erkt, in d en O ctob er, di e folgend en in d en Winter und erst di e letzten , w enn auch l ängsten , in das Frühj ahr und in d en Somm er 1 7 7 1 . Am 1 4. O ctob er 1 7 7 0 schreibt Go eth e an ein e Freundin
(vi ell ei cht Fri ede rike O e s e r in L eipzig)
„Ich h ab e einige T age auf d em Land e b ei gar angen ehm en L euten zugebracht. Di e Gesellschaft d er lieb enswü rdigen T ö chter vo m Haus e, die schön e G egend und d er freundli chste Himm el w eckten in m ein em Herz en j ed e s chlafend e Empfindung, j ed e Erinn erung an All es, wa s ich lieb e ; d a s s i c h k a u m a n g e l a n g t b i n , als ich s chon hier sitz e und an Si e schreib e“ Di e Wort e „kaum angelangt“ geb en un s di e Gewahr, dass Go eth e entw eder erst am s elb en
Tage o d er eh estens am Tage zuvor von S esenheim zurückgek ehrt war. D emnach dürfen wir den ersten B esu ch Go eth e’ s in di e Tage vom 1 0 .— 1 3 . O ctob er
1 7 7 0 s etz en . In dies en wenigen Tagen hat Go eth e,
n icht wie s ein e S child erung in „Wahrheit und Dich tung“ d enn darauf d ürften wir w enig Gewicht
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l egen sond ern , wie s ein B ri ef am 1 5 . Octob er an Fried erike lehrt, sich sofort in Fried erike ganz v er
liebt. Er schreibt an sie : Lieb e n eu e Freundin
'
“Warum nicht einfach „li eb e Freundin Freilich, für Go ethe hatt e da s „n eu e“ ein e s chw erwiegend e B e d eutung, h atte er do ch erst Tags zuvor an ein e a l t e Freundin geschrieb en . Die b eid en Briefe vom 1 4_
und 1 5 . O ctob er an di e alt e un d an die n eu e Freundin sin d zu charakteristisch für Go eth e und für di e Situation , als dass wir nicht Veranlassung hatten , si e hier ein zurücken .
A n M a m s e l l F.
S t ras s b u rg, am 1 4. Oct. 1 7 7 0 .
Soll ich Ihn en wied er einmal sagen , dass ich n o ch l eb e, und wohl leb e, und so v e rgn u gt als es ein Mittelzustand erlaubt, o der soll ich s chweigen , und lieb er gar nicht, als b e
i
s ch ämt an Sie d enken ? Ich d ächt e n ein . Vergebung erhalten , ist für m ein H erz
eb en so süss als Dank v erdien en , j a no ch süsser, denn di e Empfindung ist un eigennütziger. Si e hab en mich nicht vergessen , da s w eiss ich ; i ch hab e Si e nicht vergessen , das wissen Si e, ohngeachtet ein es
Stillschweigens , dess en Dau er ich n icht b erechn en mag. Ich hab e niemals so l ebhaft erfahren , wa s das s ei, vergnügt ohn e dass das H erz einigen Antheil hat, als j etzo , als hier in Strassburg. Eine aus
g e br e it e t e B ekanntschaft unter angen ehm en L euten , ein e aufgeweckt e mun t r e G es ellschaft j agt mir ein en
1 0
Tag na ch d em andern v o r ub e r , lasst mir w enig Z eit zu d enken , un d gar kein e Ruh e zum Empfind en , und w enn man n icht empfind et, d enkt man gewiss nicht a n s ein e Freunde. Genug, m ein j etziges L eb en ist v ollkomm en wi e ein e S chlittenfahrt , p r a ch t ig und klingelnd , ab er eb en so w enig für’ s H erz als es für Augen un d Ohren viel
Sie sollten wol nicht rathen , wi e m ir j etzo so unverhofft d er Einfall k ö mmt , Ihn en zu s chr eib en und w eil die Ursach e so gar artig ist , mu ss i ch’ s
Ihn en sagen .
Ich hab e einige Tage auf d em Land e b ei gar angen ehmen L euten zugeb racht. Di e G esellschaft d er l i e b e n s w u r d ige n T ö chter vo m Haus e, di e schön e G egen d un d der freundlichs t e Himm el w e ckten in m ein em H erz en j ed e schlafende Empfindung, j ed e Erinn erung an Alles, was ich li eb e ; dass ich kaum angelangt bin , als i ch scho n hi er sitz e un d an Si e s chreib e .
Und daraus konn en Sie seh en , in wi e fe rn man s ein e Fr eund e vergess en kann , w enn’ s ein em wohl geht . Es ist nur das schwärm end e, zu b edau ernd e Glü ck , das un s unsrer selb st vergess en ma cht, das au ch das Andenk en an Geliebte v erdunk elt ; aber w enn man sich ganz fühlt, un d still ist und die reinen
Al s G . so w eit i n seinem Briefe gekommen war, regt sich in ihm sein Gewissen . Er w eiss, dass seine Darstellung nicht mehr au f
die letzten Tage passt un d fühlt sich gedrungen, der Freundin von dem
Se se nhe ime r Besuch M itthe ilunge n zu machen , benutzt j edoch diese
M itthe ilunge n in sehr geschickter Weise, um schmei chelha fte Bemerkungen
für die Empfängerin daran zu knüp fen.
I I
F r euden d er Liebe un d Freunds chaft geniesst, dann ist durch ein e b esond ere Symp athi e j ed e unter
b r o c h e n e Freundschaft, j ede h albv e r s ch i e d e n e Z a rtli ch k eit wied er auf einmal l eb endig. Und Sie, m ein e lieb e Freun din , die ich unter vielen vorzüglich so nenn en kann , n ehm e Si e diesen Brief als ein n eu es
Z e u g n i s s
, dass ich Si e nie v ergess en w erd e . L eb en Si e glücklich e t c .“
II.
A n F r i e d e r i k e B r i o n i n S e s e n h e i m .
S t ra s s b u rg, am 1 5. 0 ct. 1 7 7 0 .
Li eb e n eu e Freundin
'
Ich z w e ifi e n icht , Sie so zu n enn en ; d enn w enn ich mich anders nur ein kl ein wenig auf di e Augen
verst eh e , so fand m ein Aug’ im ersten Blick di e H offnung zu dies er Freund schaft in Ihrem , un d für u n sere H erz e n w ollt’ ich schwören ; Sie z ärtlich und gut, wi e ich Si e k enn e , sollten Sie mir da i ch Sie s o lieb hab e, nicht wieder ein bis chen gu n s t ig s ein ?
Li eb e , lieb e Freundin
'
Ob ich Ihn en was zu sagen hab e, i st w ohl kein e Frage ; ob i ch ab er j ust weiss , warum ich eb en j etz o
schre ib e n will , und was ich schreib en mö chte, das ist ein and eres ; so viel m erk ich an ein er gewiss en in nerlich en Unruh e, dass ich gern b ei Ihn en sein mö chte ; und in d em Falle ist ein Stückch en Pap ier s o ein wahrer Trost, so ein ge fiüge lt e s Pferd für mich , hi er, mitten in dem lärm end en Strassburg, als
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e s Ihn en in Ihrer Ruh e nur s ein kann , w enn S i e di e Entfernung von Ihren Freunden re cht l ebhaft fühlen .
Di e Um ständ e unsrer Rü ckreis e könn en Sie sich
o h n ge fäh r vorstellen , w enn Si e mir b eim Ab s chi ed e an s eh en konnten , wie leid es mir that ; und w enn Sie beoba chteten , wi e s ehr Weyl and nach Haus e eilte, s o gern er au ch unter and ern Um stän d en b ei Ihn en gebli eb en w äre . S ein e Gedank en gingen vo rwärts , m ein e z ur u c k , und so ist n atürli ch , da ss d er D iskurs wed er w e itl äufig n o ch interessant werd en konnt e
Endlich langt en wir an , und d er erste G edank e, d en wir hatten , d er au ch sch on auf d em W eg uns ere Freud e gew esen war, endigte si ch in ein Proj ect , Si e
bald wied er zu s eh en .
Es ist ein gar zu h erziges Ding um die H offnung wied er zu s ehen . Und wir and ern mit d en ver
w öh n t e n H erzchen , w enn uns ein bis chen was leid thut, gl eich sind wir mit d er Ar z e n e i da un d sag en : Li eb es H erzchen , s ei ruhig, Du wirst ni cht lange vo n Ihn en entfernt bl eib en , vo n d en L euten, die Du lieb st ; s ei ruhig lieb e s H erzch en
'
Und dann geb en wir ihm inzwischen ein Schattenbild , dass es d o ch was hat, und dann ist es geschickt und still wie ein kl ein e s Kind, d em die Mam a ein e Pupp e statt d es Apfel s gibt, wo von e s nicht essen sollte. Genug wir sind nicht hi er un d sehen Si e, dass Sie Unrecht hatt en'
Si e wollten nicht glaub en , dass mir d er Stadtlärm auf Ihre sü ssen L a n d fr e ud e n missfallen würd e.G ewiss, Mam sell, Strass b u rg ist mir no ch ni e so
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l eer vorgekomm en als j etzo . Zwar hoff ich , es soll b ess er w erd en , wenn d ie Z eit das And enk en un serer niedlichen und mu th w illi ge n Lustbarkeiten ein w enig ausgelöscht haben w ird , wenn ich nicht m ehr so lebhaft fühl en w erd e, wie gu t, wi e angen ehm m ein e
F reundin ist. D o ch sollte ich das v ergess en könn en o der w ollen ? N ein, ich will lieb er das wenig Herz weh b ehalten und. oft an Sie s chreib en .
Und nun no ch vi elen Dank , n o ch viele auf richtige Empfehlungen Ihren theu ern Eltern ; Ihrer
lieb en Schw ester viel hu ndert was ich Ihn en gern wiedergäb e“.
Hab en wir in d em ersten Briefe n u r etwas erzwungen e geistreich e K omplim ent e, die m ehr d em V erstand e als d em Herz en entsp rungen sind , so fin den wir hier einen breit en Strom warm er, auf
ri chtiger Empfindung. Und do ch könn en wir uns d es Ge fuhls nicht erwehren , dass Go eth e a n di e n eu e Freundin einmal s o s chreib en könnt e, wie an die alte . L eider ist di es er Bri ef d er einzige, der uns
aus d em Briefw echsel zwisch en Fried erike un d Go ethe erhalten ist . M öglich, dass im Go ethe ' Archive in W eimar no ch man che s chlumm ern . Wi e Go ethe di e ersten Tage in S es enh eim v erbracht hat, wissen wir nicht b estimmt. In s einem Briefe spricht er von
„niedlichen un d muthw i llige n Lustb arkeiten“. Ob damit di e Verkl eidungen , di e in „Wahrheit und. Dichtung“ erz ählt werden , gemeint sind, mu ss dahin gestellt bl eib en . D ort erz ählt er b eka nntlich , dass
er als arm er Student d er Theologi e in s ch äbiger Kleidung in S es enheim ei ngetroffen s ei , dass ihn
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am folgend en Morgen , nachdem ihm Fried erike gefallen hatte und er wied er gefallen w ollte, dies e V ermummung v erdro ss en , dass er nach Drus enheim geritten , dort di e F estkl eider d es
W
ir t h s s o h n e s G eorg Kl ein angel egt und mit ein em Kin d t aufk u ch e n in d er Hand wied er in S esenh eim erschien en s ei ; was d enn zu allerhand Ue b e rra s ch un ge n un d S cherz en Veranlassung gegeb en hätte . Im Gro ss en und Ganzen m ag diese Erz ählung richtig s ein . Gegen Einzel h eiten sin d B edenken erh ob en w o r d e n ö) . Go eth eb ericht et un s fern er, dass er am ersten Ab en d mit Fried erik e ein en Spazi ergang im M ond schein gemacht , d a ss er tief glü cklich n eb en ihr hergegangen und ganz ihren Red en gelau s cht hab e,
—
die nichts M on ds ch e in h aft e s an sich geh abt hätten . „Di e Klarh eit , mit d er si e sprach, ma chte die Na cht zum Tage“ .
Am and ern Tage sitzt Go eth e in Träum e ver sunk en auf F r i e d e r ik e n s Li eblingsplatz , ein er kl ein en b ewaldeten Anhöh e , di e durch ein e Tafel als
„F r ie d e r ik e n s Ruhe“ b ez eichn et Auf ihr hatten sich Familienmitglieder, Verwandt e, Freund e eingeschri e ben ; Go eth e s etzt e sp äter seinen Nam en
darunter und fugt e di e Vers e hinzu
D em Himmel wachs’ entgegen Der Baum , der Erde Stolz.
Ihr Wetter, Sturm u nd Regen , Verschont das heilige Holz
'
Und sol l ein Name verderben ,
So nehmt die obem in Acht
'
Es mag der Dichter sterben, D er diesen Reim gemacht .
Nach So phie Brion hatten die Bauern den P latz „ Nachtigallen
w e ld el “ genannt .
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An dies em stillen Platz e find et Fri ed erik e Go ethe . Ein e Unterhaltung ents pinnt sich, die von Go ethe m it gro sser L ebhaftigk eit geführt wird. Hatte si e b ei d em gestrigen Mo n d s ch e in gan g di e Unko sten d es G esprächs üb ernomm en , so erstattete i ch di e S chuld nun r eichlich von m einer S eite“. Zusamm en kehren sie in das Pfarrh aus zurück . Nach Tisch b egab en s i ch die j ungen L eute in „ ein e g e r aumige
Laub e “, wohl di e b erühmte Jas mi n l aub e gegenüb er dem Pfarrhaus . D ort erzählt Go eth e, wi e er an gi e bt ‚
das M ärchen von d er n euen M elusin e, da s er sp ät er in Wilhelm M eisters Wand erj ahre aufgenomm en hat . Ob Go ethe wirklich dies es M ärch en erzählt hat und
ob in d er j etzt vorliegend en Form , ist m ehr als zweifelhaft. D enn m an kann kaum ann ehm en , dass Go ethe , der F ri e d e rik e n s Neigu ng gewinn en wollt e , ein M ärchen zu m b esten gab , in d em d er H eld sein e Geliebte treulos v erlässt . Au ch sonst musste an dem M ärchen Manches fü r j unge M ädchen an stössig s ein . Es scheint vielm ehr, dass Go ethe aus ein er b estimmten Ab sicht, auf die wir sp äter zurückkomm en w erden , dieses Märchen an Stelle ein e s and ern ges etzt hat. Genug Go eth e v erbringt einige reizend e Tage in S e s enheim , d eren vollen Na chklang wir in j en em ersten Bri efe an Fried erike sp üren, und langt mit ein em „\Vi d e rh ak e n im Herzen “ in Strassb urg an . Go ethe wied erholte wo hl b ald s ein en B esu ch . Jed en
falls ist er im D ecemb e r dort gew e sen, na chd em er sich mit d en hüb sch en Vers en angekündigt hatte
Ich komme bald, ihr goldnen Kinder,
Vergebens sper re t uns der Winter In unsre warmen Stuben ein .
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Wir w ollen uns zum Feu er setzen , Und tau sendfä ltig u n s ergötzen,
Un s li eb en w ie die Engelein .
Wir wollen kleine Kränzchen winden, Wir wo llen kleine Sträusse he n binden
Un d wie die kleinen Kinder sein.
U eb er di esen \Nin t e rb e su ch hat Go eth e an Freund Ho rn b erichtet. D er Brief, in dem es geschieht, liegt in W eimar w o h l v e rs ch l o s s e n . Nur E ck ermann hat ihn ges ehen un d ch ar ak t e ri s i rt ihn mit den Wo rten
„d er glücklich e Jüngling scheint sich in d ern Tau m el d er süssesten Empfindun gen zu wiegen und s ein e
Tage halb träum erisch h in zus chl e n d e rn “
Ob Go eth e no ch w eitere B esu ch e wahren d des Wint ers in S es enh eim gema cht hat , wiss en wir nicht, kön nen es j edo ch al s wahrs cheinlich b etra chten . A n d ere rs eits ist es mir eb enso wie H errn v. L öp e r 6) in hoh em Grad e wahrscheinlich , dass w ährend d es
W int ers Frau Brion mit ihren To ch t e r n einen länge ren B esu ch i n Strassburg m achte. Go eth e s etzt frei lich diesen Stadtb esuch in d en Somm er 1 7 7 1 . D o rt hin p asst er künstl eris ch s ehr gut . Go eth e will s ein e
sink end e N eigung zu Fried erike, s ein e L o ssagung von ihr mo t i vi r e n . Was ist da geeign eter, als das s er si e gerad e z u d er Z eit ein e etwa s unglü cklich e Rolle in d er Stadt spiel en lasst, w o s ei n e N eigung zu er l ös ch en b egann ? Nun ist ab er d er S omm er 1 7 7 1 in
Go eth e’ s L eb en s o be setzt, dass man j en en B esuch kaum unterb ringen k ann . Fern er, ist es n icht viel glaubhafter , dass ei n e Landfamilie während des Winters ein en l ängeren Aufenthalt in der Stadt
n immt, als währen d d e s Somm ers ? Ist es nicht a uf
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Der Mon d von seinem Wo lk e nhugél
Schien schläfrig au s dem D uft hervor ; Die Winde schwangen leise Flügel,
Umsauste n sch auerlich mein Ohr ;
Die Nacht schuf tausend Ungeh euer Doch tausen d facher w ar mein Muth ; Mein Geist w ar ein verzehren d Feuer, Mein ganzes Herz z e rflo ss in Gluth .
Ich sah Dich und d ie milde Fre u de
Floss au s dem süssen Blick auf mich . Gan z war mein Herz an D ein er Seite Un d j eder Athe mzug für D ich .
Ein ro se n farbe s Frühlingswetter Lag auf dem lieblichen Gesicht
Und Zärtlichkeit ‘fii r mich , ihr Gotter
'
J ch ho fi’ t ’ es, i ch verdient’ es nicht“. 7 )
Fruhling war es draussen u n d Frühling' im Inn ern d er b eid en Li eb end en . Ihr e H erz en erschlo ss en sich v öllig einand er und ein e o ffene Erklärung b ekräftigte ihren Bund. Go eth e selb er sagt b ei der S child erung dies es B esu ches in „Wahrh eit und Dichtung“ „Ich war g r e n z e n l o s g l ü c k l i c h an ihrer S eite“ und fern er : „an j en em stillen Platz e (F r i e d e rik e n s Ruh e
)
erfolgte d i e h erzlichste Umarmung und di e t r e uli ch s t e V ersicherung, dass wir un s v on Grun d aus liebten “
S ein e D arstellung st eigert sich zu u n ge w o hn lich e r
W ärm e, un d n o ch einmal lasst er Fried erike in ihrer ganzen An mu t h und H errlichkeit vor uns eren Augen
vo rüb erzieh en.
„Ihr W es en , ihre Gestalt trat ni emals reizender hervor, als wen n si e sich auf ein em erhöhten F uss pfad hinb ew egte ; di e An mut h ihres B etragens schien mit d er b e bl ümt e n Erde und die unverwüstlich e H eiterkeit ihres Antlitzes m it d em blauen Himm el
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zu wetteifern . Diesen er
'
uicklich en A eth er, d er sie umgab , brachte sie au ch mit nach Haus e , und esliess sich bald b em erken , dass si e V erwirrungen aus
z ugl e i ch e n und die Eindrucke kleiner unangenehm er Zufälligkeiten l eicht w e gzul ö s ch e n verstand.
D ie reinste Freud e, di e man an ein er geliebten P erson find en kann, ist die, zu sehen , dass sie and ere erfreut. F ri e d e rik e n s B etragen in d er G esellschaft war allgemein w o hl th ät ig A uf Spaziergängen
s chwebte sie, ein b el eb ender G eist, hin un d w ieder un d w usste die Luck en auszufüllen , welch e hie un d da entstehen mo chten . Die L eichtigkeit ihrer B e
w e gun ge n hab en wir schon gerühmt und am all er zierlichsten war sie, w enn s ie li ef. So wie das R eh
s e in e B e s t immun g gan z zu erfüllen sch eint, w en n es leicht üb er die keimenden Saaten w e gfii e gt , so s chien
au ch Si e ihre Art und W eis e a m d eutlichsten aus zudrücken , w enn sie etwas V erge ss en e s zu hol en,
etwas Verloren es zu suchen, ein entferntes Paar herb eizurufen , etwas N o t h w e n d ige s zu b estellen , üb er
Rain und Matten leichten Laufe s hineilte
Di e Tage vergehen in u n ge t rübt e s t e m Fro hsinn , und als der Ab schied naht, giebt Friederike Go e th e n in aller Form ö ff e n t l i c h ein en Kuss . Dies e That sache, die Go ethe in Wahrh eit und Dichtung“ aus
d r ück l i ch hervo rhebt, b estätigt uns zur Genüge, dass
F ri e d e r ik e n s Eltern von d er im „N a c ht igall e n w al d e l “ erfolgten Erkl ärung Ke n n t n is s erhalten hatten und Go eth e un d Fri ederike s eitd em als Verlobte b e trach teten . Nur mit Schm erzen trennten sich diesmal
d ie B eid en von einand er.