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Academic year: 2022

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Berlin-Brandenburg- schlesische Oberlausitz

Inklusion

Broschüre des Diakonischen Werkes Berlin- Brandenburg- schlesische Oberlausitz

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1. Einleitung

3 Vorwort von Diakoniedirektorin Susanne Kahl-Passoth 5 Was ist Inklusion?

8 Theologische Betrachtung:

Inklusion als christliche Herausforderung der Kirchen 2. Beispiele aus der Praxis

11 Lobetaler Bio-Molkerei: miteinander arbeiten

13 Gebärdensprache in der Kita: wenn Kinder keine Grenzen kennen 15 leben lernen am EDKE: gesellschaftliche Teilhabe in der Praxis 19 Arbeit für alle: ein JobPATE hilft Menschen mit Beeinträchtigungen 21 Run of Sprit: laufen inklusive – gemeinsam Hürden überwinden

3. Schlussbetrachtungen

23 Inklusion um jeden Preis? Eine Anregung zum kritischen Denken 26 Schlusswort von Diakonievorstand Martin Matz: Und wie hältst du’s

mit der Inklusion?

2 Inhalt

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Einleitung 3

Liebe Leserin, lieber Leser,

kennen Sie noch die „Aktion Sorgenkind“?

1964 wurde sie als Initiative der sechs Spit- zenverbände der Freien Wohlfahrtspflege und des ZDF gegründet, mit dem Ziel der „Un- terstützung von behinderten Kindern“. Zum 1. März 2000 hat sie sich umbenannt in „Aktion Mensch“ und engagiert sich seither „für die gleich berechtigte Teilhabe aller Menschen in der Gesellschaft“.

Diese Änderung von Name und Ziel zeigt mir besonders anschaulich, was Inklusion bedeutet und wie sie über Integration hinaus- geht: Nicht das einseitige Engagement einer

„Mehrheitsgesellschaft“ für eine „Minderheit“

ist der Zweck, sondern als Mensch mit allen Eigenheiten und Besonderheiten in der einen Gesellschaft akzeptiert zu werden und an allen Lebensvollzügen teilhaben zu können. Ab wei- chungen von einer bestimmten „Normalität“

werden wahrgenommen und ernst genommen – allerdings nicht als Defizite des einzelnen Menschen, sondern als Verpflichtung der anderen Menschen, die Lebenswelt so zu ge- stalten, dass eine uneingeschränkte Teilnahme aller Menschen möglich ist.

Niemand soll über das definiert werden, was er nicht kann oder nicht hat: „Behinderte“ wurden sprachlich zu „behinderten Menschen“ und dann zu „Menschen mit Behinderung“. Denn Behinderung ist alles andere als ein Rand- phänomen: Gemäß einem Statement zum The- ma Inklusion auf der Konferenz für Diakonie und Entwicklung leben eine Milliarde Menschen mit Behinderung(en) auf der Erde – jeder siebte Mensch ist behindert.

Bis jede und jeder Siebte so an der Gesellschaft Anteil hat, wie es seinen oder ihren Wünschen Diakoniedirektorin

Susanne Kahl-Passoth

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und Möglichkeiten entspricht, wird noch ein langer Weg zu gehen sein – auch in unseren Kirchen und Gemeinden und in der Diakonie.

Doch es gibt Beispiele, die Mut machen: Eini- ge davon stellen wir Ihnen in dieser Broschüre vor. Sie mögen uns allen zur Anregung dienen, weitere Schritte kreativ zu denken und zu ge- hen, um der allgemeinen Teil habe in unserem jeweiligen kirchlichen oder diakonischen Ar- beitsfeld ein Stück näher zu kommen.

Schließlich entspricht diese Teilgabe, die Teil- habe ermöglicht, einem Bild vom Menschen, wie es grundlegend für Christinnen und Chris- ten ist: So beeindruckt mich etwa von allen Heilungserzählungen des Neuen Testamentes diejenige im fünften Kapitel des Johannes- evangeliums besonders. Jesus fragt den Men- schen zunächst nach seinem Willen („Willst Du gesund werden?“) und lässt ihn dann selbst 4 Einleitung

aktiv werden („Steh auf, nimm dein Bett und geh hin!“). Das eigentliche Heilungsgesche- hen indes ist ganz unspektakulär und schon gar nicht als „Wunderheilung“ geschildert.

Nicht die mirakulöse Genesung von einem Gebrechen steht im Mittelpunkt, sondern Jesu unprätentiöse Zuwendung ist für mich das eigentliche Wunder: Ein aus der Gesellschaft Ausgeschlossener wird mit seinen eigenen Wünschen, Möglichkeiten und Ressourcen ernst genommen und in seiner Individualität respektiert – er wird inkludiert.

Lassen Sie uns gemeinsam diesem Vorbild folgen und eine inklusive Gesellschaft gemein- sam gestalten!

Susanne Kahl-Passoth

Direktorin des Diakonischen Werkes Berlin- Brandenburg-schlesische Oberlausitz e.V.

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Einleitung 5

Was ist Inklusion?

Inklusion ist ein Wort mit lateinischen Wur- zeln. Ein Blick ins Wörterbuch hilft, um der Bedeutung, die es im soziologischen und pädagogischen Sprachgebrauch hat, näher- zukommen. Darin findet man Beschreibungen wie „die gleichberechtigte Teilhabe an etwas, das Miteinbezogensein“. Als Gegensatz wird

„Exklusion“ genannt, also die Ausschließung beziehungsweise Ausgrenzung.1 Als gesell- schaftliche Forderung formuliert, bedeutet In- klusion dementsprechend, dass jeder Mensch zur Gesellschaft gehört, dass jeder Einzelne Teil der Gesellschaft ist und miteinbezogen werden muss. Kein Mensch darf ausgeschlos- sen oder ausgegrenzt werden.

Alle Menschen sind als Individuen einzigartig, sie sind verschieden. Sie sehen unterschied- lich aus, verfügen über unterschiedliche Fähig- keiten und Kompetenzen, das ist normal und gut so. Darin zeigt sich die Vielfalt des gesell- schaftlichen Miteinanders. Es ist daher ein wichtiger Schritt, dass es allein bei der Forde- rung nach Inklusion nicht geblieben ist. Die gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft ist als unumstößliches Menschenrecht veran- kert. Dieses Recht gilt es, in allen gesellschaft- lichen Bereichen konsequent umzusetzen.

Jeder Mensch, unabhängig von Alter, Ge- schlecht, Hautfarbe, Behinderung oder Her- kunft erhält mit diesem Recht die Möglichkeit, sich an allen gesellschaftlichen Prozessen zu beteiligen. Inklusion bedeutet, dass alle Men- schen gleichberechtigt dazugehören, immer und von Anfang an.

1 http://www.duden.de/rechtschreibung/Inklusion, Abruf: 18.05.2012

Nachdem viele Jahre lang von Menschen mit Behinderungen, Selbsthilfeorganisationen und Verbänden aufgezeigt wurde, dass die beste- henden Menschenrechtsverträge Menschen mit Behinderungen nicht ausreichend schützen, wurde durch die UN-Generalversammlung eine Arbeitsgruppe ins Leben gerufen. Sie be- kam die Aufgabe, Vorschläge für ein Überein- kommen zur Förderung und zum Schutz der Rechte und Würde von Menschen mit Behin- derungen zu erarbeiten. Dieser Text wurde 2006 in der Generalversammlung unter dem Namen UN-Behindertenrechtskonvention ver- abschiedet.2

Die UN-Behindertenrechtskonvention3 besagt, dass alle Menschen die gleichen Rechte und Pflichten haben sollen. Dabei bekommt jeder einzelne die Unterstützung, die er braucht.

Menschen mit Behinderungen können selbst über ihr Leben entscheiden:

– Sie dürfen entscheiden, in welche Schule sie gehen wollen. Sie können die gleiche Schule besuchen, wie alle anderen Kinder.

– Sie dürfen entscheiden, was sie arbeiten wollen.

– Sie dürfen entscheiden, wie sie wohnen wol- len und mit wem sie zusammen wohnen wollen.

2 Vgl. dazu: Huxhold, Erika: „Die UN-Konvention – Geschichte und Perspektiven“, Beitrag auf der Tagung

„Die UN-Konventionen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen zwischen Alltag und Vision“ am 16. April 2008 in Berlin. Eine Veranstaltung des Deut- schen Paritätischen Wohlfahrtsverbands, orga nisiert vom Institut Mensch, Ethik und Wissenschaft.

3 In der deutschen Übersetzung zu finden unter: http://

www.un.org/Depts/german/gv-61/band1/ar61106.pdf;

Abruf: 18.05.2012

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– Sie dürfen entscheiden, was sie in ihrer Frei- zeit machen.

– Sie dürfen sich und ihre Interessen selbst in Politik und Gesellschaft vertreten.

Damit die Umsetzung dieser Rechte gelingt, müssen Barrieren abgebaut werden. Dazu zäh- len bauliche Barrieren genauso wie technische oder sprachliche Hindernisse. Alles muss für alle zugänglich sein.

Die Bundesrepublik Deutschland hat im Mai 2009 das Übereinkommen der Vereinten Natio- nen über die Rechte von Menschen mit Behin- derungen, die Behindertenrechtskonvention, unterzeichnet. Damit sind die Forderungen dieses internationalen Übereinkommens zur Umsetzung von Inklusion rechtlich verankert.

Zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskon- vention in Deutschland wurden Aktionspläne auf Bundes- und Landesebene entwickelt.

Eine wesentliche Voraussetzung für das Gelin- gen von Inklusion ist zudem, dass die Barrieren in den Köpfen abgebaut werden. Um gesamt- gesellschaftlich das Denken und Handeln zu verändern, um das Recht auf gleichberech- tigte Teilhabe wirklich zu leben, muss jedem Menschen bewusst werden, dass Inklusion den Alltag aller bereichert und wichtig für das gesellschaftliche Miteinander ist.

Als Menschenrecht geht Inklusion alle Men- schen an, und jeder einzelne muss dafür etwas tun. Bis Inklusion in allen gesellschaftlichen Bereichen tatsächlich gelebte Wirklichkeit ist, sind noch viele Dinge zu tun und einige Weichen zu stellen. Aber wenn alle mitmachen, wird Inklusion gelingen.

Jeanette Pella Geschäftsführerin

leben lernen gGmbH am EDKE 6 Einleitung

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Einleitung 7

Literatur:

Huxhold, Erika: „Die UN-Konvention – Ge- schichte und Perspektiven“, Beitrag auf der Tagung „Die UN-Konventionen über die Rech- te von Menschen mit Behinderungen zwischen Alltag und Vision“ am 16. April 2008 in Berlin.

Eine Veranstaltung des Deutschen Paritä- tischen Wohlfahrtsverbands, organisiert vom Institut Mensch, Ethik und Wissenschaft.

Online-Handbuch Inklusion als Menschen- recht: www.inklusion-als-menschenrecht.de;

Abruf: 18.05.2012

Übereinkommen über die Rechte von Men- schen mit Behinderungen/Convention on the Rights of Persons with Disabilities (CRPD) vom 13.12.2006. Resolution 61/106 der General- versammlung der UNO. In Kraft getreten am 03.05.2008.

In der deutschen Übersetzung zu finden unter:

www.un.org/Depts/german/gv-61/band1/

ar61106.pdf; Abruf: 18.05.2012

Was heißt eigentlich Inklusion? – Eine Erklä- rung in leichter Sprache, Inklusion in Sachsen, Lebenshilfe Sachsen: www.inklusion-in-sach- sen.de/de/in-leichter-sprache/091002-Inklusi- on-in-leichter-Sprache.pdf; Abruf: 18.05.2012

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Theologische Betrachtung: Inklusion als christliche Herausforderung der Kirchen

Biblische Ursprünge

Eigentlich müsste uns Christinnen und Christen die Idee einer inklusiven Kirche spätestens seit den biblischen Heilungsgeschichten im Umfeld Jesu geläufig sein. Beispielsweise die Heilung des Besessenen von Gerasa. Ihre Geschichte ist schnell erinnert: Nahe des Sees Genezareth lebte, weitab von der normalen Zivilisation und peinlich gemieden vom gewöhnlichen Volk, ein von unreinen Geistern zerrissener Mann. „Bei Tag und Nacht“, so berichtet das Markus-Evangelium, „schrie er unaufhörlich in den Grabhöhlen und auf den Bergen und schlug sich mit den Steinen.“ Als nun Jesus in seine Nähe kam, stürmte er auf ihn zu und flehte ihn an, rasch weiterzugehen, um seine innere Zerrissenheit durch dessen Gegenwart nicht noch weiter anzufachen. Jesus aber hielt an, ging auf ihn zu und befahl den unreinen Geistern, den Körper des geplagten Mannes zu verlassen. Sie ließen tatsächlich von ihm ab und fuhren in die Schwei ne herde, die in der Nähe weidete. Die tausend Schweine aber, nun selbst von diesen Dämonen besessen, stürzten sich kopfüber in den nahe gelegenen See und ertranken. (Markus 5, 1-20)

Ob der besessene Mann an etwas litt, was wir heute als eine bestimmte chronisch-psy- chische Erkrankung und damit als Behinderung bezeichnen würden, wissen wir nicht. Wir se- hen aber die Reaktionen der Mitmenschen. Sie spiegeln die Sichtweisen und Deutungsmuster von Krankheit und Behinderung wider, die für das soziokulturelle Umfeld Jesu typisch und dominierend sind. Noch stärker als körperlich Kranke und Behinderte galten Menschen mit geistigen oder psychischen Auffälligkeiten als von Gott für eine persönliche Schuld bestraft.

Im Lichte unserer modernen Erkenntnisse würden wir heute eine Psychose, eine Schizo- phrenie oder eine andere Psychopathologie diagnostizieren. Im jüdisch-antiken Denken gab es dafür aber keinerlei Erklärungen. Deshalb wurden solche Krankheits- oder Behinde- rungsbilder kurzerhand als Ausdruck der Be- ses senheit durch ‚fremde Mächte und Ge wal ten’

gedeutet.

Eben weil sie von ‚fremden Mächten und Ge- walten’ in Besitz genommen waren, mussten psychisch Kranke aus der ‚Normalgesellschaft’

ausgeschlossen werden, um nicht andere zu kontaminieren. Dass diese soziale Quarantäne die Situation des Betroffenen nochmals ver- schärfte, dass diese Dämonisierung zur sozialen Exklusion führte, das alles war sogar als ge- rechte Strafe Gottes religiös legitimiert.

Genau gegen diese soziale Ausgrenzung von Behinderungen richtete sich das heilsame Handeln Jesu. Dass er den Besessenen gerade nicht meidet, dass er als Mann Gottes ausge- rechnet an einem von Dämonen besetzten und deshalb von Gott verlassenen Menschen Gottes Nähe demonstriert, das war für Zeitge- nossen Jesu ungeheuerlich. Es war ein Affront gegen alle gewohnten Denk- und Handlungs- muster.

Paradigmenwechsel

Das Leitbild der Inklusion hat mittlerweile den engen Zirkel fachwissenschaftlicher und fach- politischer Diskussionen der Heilpädagogik be ziehungsweise der Behindertenhilfe verlas- sen und ist auch gesellschafts- und staatspo- litisch hoch offiziell. Bestes Beispiel ist die 2006 verabschiedete UN-Behinderten rechts- 8 Einleitung

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kon ven tion. Mit ihr läutet die Weltgemeinschaft den entscheidenden Paradigmenwechsel ein.

Natürlich, auch vor der UN-Behindertenrechts- konvention ging es etwa der Behindertenhilfe um die Teilnahme und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am gesellschaftlichen Le- ben. Das ist nicht neu.

Neu dagegen ist: Menschen, deren vom Durchschnitt abweichende körperliche oder seelische Ausstattung nicht ausreicht, die Zu gangsbarrieren zu den verschiedenen Berei- chen des gesellschaftlichen Lebens zu über- winden, erreichen nicht die volle und effektive Teilhabe in der Gesellschaft, indem man deren vermeintlichen Defizite durch medizinisch- therapeutische Maßnahmen ausgleicht und sie dem Normalmaß angleicht. Deren volle und effektive Teilhabe an den Bürger- und Menschenrechten einer Gesellschaft wird nur dann gefördert, wenn sie in ihrem Sosein akzeptiert, in ihren je eigenen Kompetenzen und Entwicklungspotentialen unterstützt und die sie behindernden Barrieren in ihrem Um- feld abgebaut werden.

Und zu diesen behindernden Barrieren zäh- len nicht nur zu hohe Bordsteinkanten, hohe Trittbretter in unseren Bussen und Bahnen, fehlende Gebärdensprache auf unseren Fern- sehkanälen oder fehlende Behördenformulare in leicht verständlicher Sprache, die auch den durchschnittlich ausgestatteten Menschen das Verstehen behördlichen Auskunftsbegeh rens erleichtern würden. Zu diesen behindern den Barrieren zählen vor allem auch die Barrieren in den Köpfen und Herzen der Mehrheits- gesellschaft, die – bewusst oder un bewusst – Menschen mit Behinderungen aufgrund ihrer vermeintlichen Defizite letztlich als

Einleitung 9

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Minus-Varianten eines vollgültigen, wirklich lebenswerten und gelingenden menschlichen Lebens wahrnehmen. Diese Abwertungen sind – offen oder subtil – in unseren Reaktionen und Handlungsmustern den betroffenen Menschen gegenüber zu spüren und schädigen damit de- ren Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen in ihr eigenes Humanvermögen schwer.

Teilhabe bedeutet nicht einfach nur Teilnahme am, sondern Teilgabe zum gesellschaftlichen Leben: Menschen mit Behinderungen nehmen nicht nur – wie alle anderen auch – von den kul turellen, ökonomischen und politischen Er- rungenschaften einer Gesellschaft, sie geben – wiederum wie alle anderen auch – zu allen diesen Bereichen etwas Eigenes hinzu. Vielen Menschen erschließt sich – oftmals durch das alltägliche oder berufliche Zusammenleben mit behinderten Menschen – der tiefe Sinn jener Einsicht, dass eine Lebensführung mit Behin- derungen eine eigene Sinnhaftigkeit hat.

Inklusion als Muss für die Kirchen

Das Leitbild der Inklusion behinderter Menschen gilt für alle menschlichen Lebensberei che – und natürlich auch für unsere Kirchen. Es ist umfassend. Für alle christlichen Kirchen ist in- klusive Praxis ein Muss. Kirchliche Praxis, die nicht nur einfach menschenrechtsverträglich, sondern am Urbild eines pastor bonis, eines Guten Hirten, also am Stifter des Chris tentums selbst sich orientiert, wird sich mit Blick auf Menschen mit Behinderungen im urbiblischen Sinne als wahre Freiheits- und Gleichheits- assistenz erweisen müssen oder sie verfehlt das paulinische Diktum: „Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann und Frau; denn ihr alle seid ‚einer’

in Christus Jesus.“ (Galater 3, 28)

Zugegeben, inklusive Praxis ist durchaus her ausfordernd. Sie hat in Kirche und Ge- sellschaft nicht nur mit der allgegenwärtigen Macht solcher Gewohnheiten zu kämpfen, die Menschen mit Beeinträchtigungen und Auffälligkeiten ausgrenzen und damit in ihrer Menschwerdung behindern.

Sie hat mitunter – auch das ist ein unausweich- licher Teil menschlicher Lebensrealität – mit begrenzten Ressourcen, mit Zielkonflikten, mit Widersprüchlichem zu kämpfen, die alle gut gemeinten Anstrengungen letztlich vereiteln können. Wie sind etwa die inklusive und damit die gemeinschaftliche Vorbereitung und Feier der Konfirmation von Jugendlichen mit und ohne geistige-seelische Beeinträchtigungen konkret möglich? Hier wird man viel Kreativität entwickeln müssen und können.

Inklusive Praxis ist ein unabgeschlossener Prozess, der auch vom Scheitern bedroht ist.

Sie wird nicht den Himmel auf Erden erzeugen.

Gleichwohl wissen sich die Kirchen selbst unter dem Zuspruch Gottes. Dieser Zuspruch stiftet keine Gewissheit des Gelingens, wohl aber die Zuversicht, dass menschliches Be- mühen nicht im Desaster enden muss.

Hier ist unbedingt Vaclav Havel zuzustimmen:

„Hoffnung ist eben nicht Optimismus: Sie ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut aus- geht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat – ohne Rücksicht darauf, wie es ausgeht.“

Prof. Dr. Andreas Lob-Hüdepohl Professor für Theologische Ethik an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin

10 Einleitung

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Beispiele aus der Praxis 11

Lobetaler Bio-Molkerei: miteinander arbeiten

„Am liebsten arbeite ich mit den anderen bei- den Kollegen hier im Molkereilager. Wir bela- den zusammen die Paletten und den LKW. In einer Schulung habe ich gelernt, wie ich den Hubwagen bediene. Die Gruppenleiter erklären mir alles“, erzählt Ricardo Roloff begeistert von seiner Arbeit im Lager der Bio-Molkerei Lobe- tal. Ricardo Roloff ist 21 Jahre alt und wohnt bei seiner Mutter in Bernau. Nach Beendigung der Förderschule erhielt er seine berufliche Orientierung im Berufsbildungsbereich der Hoffnungstaler Werkstätten gGmbH. Anfangs probierte er sich im Dienstleistungsbereich aus, wechselte jedoch nach einem Praktikum in die Kommissionierung der Molkerei.

Für die Lobetaler Bio-Molkerei bedeutet Erfolg mehr, als mit hochwertigen Produkten schwar- ze Zahlen zu schreiben. Die Molkerei ist so konzipiert, dass sie soziale und ökologische Verantwortung in den Arbeitsalltag integriert. In diesem Betriebszweig der Hoffnungstaler Werk stätten arbeiten 24 Menschen mit und ohne Behinderung zusammen. Dieses Modell bewährt sich unter dem Dach der Hoffnungs- taler Stiftung Lobetal seit über 100 Jahren.

Zurzeit besteht das Team um Molkereimeister Michael Kuper aus 16 behinderten Mitarbeite- rinnen und Mitarbeitern, vier Molkereifachar- beitskräften, zwei Vertriebsmitarbeiterinnen und einem Lageristen. Gemeinsam arbeiten alle an einem Ziel: mit den Joghurt- und Käse- produkten unter der Marke Lobetaler Bio eine ernährungs-, sozial- und ökologisch bewusste Kundschaft zufrieden zu stellen. Das ist ein hehrer Anspruch in einer hoch sensiblen Le- bensmittelproduktion, der allen im Team viel abverlangt. So müssen alle die Hygienevor- schriften beachten und sich auf Schichtdienste

einstellen. Ricardo Roloff arbeitet gerne bei

der Bio-Molkerei Lobetal.

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12 Beispiele aus der Praxis

Durch die großen Glasscheiben im Milchladen steht das Molkereiteam immer in der Öffent- lichkeit.

Ricardo Roloff weiß genau, dass er gut aufpas- sen muss: „Ich muss lesen, schreiben, zählen.

Dabei muss ich mich sehr konzentrieren. Die Kunden beschweren sich, wenn sie nicht die von ihnen bestellte Ware erhalten. Das be- deutet dann Ärger. Trotzdem gefällt mir dieser Arbeitsplatz im Kühllager, weil ich nicht in einer großen Gruppe mit anderen zusammen bin.

Wir sind hier nur zu dritt, Egon (Anm.: Lage- rist) kontrolliert alles noch einmal. Das gibt mir Sicherheit.“

Die behinderten Beschäftigten leben entweder in stationären Wohneinrichtungen der Be hin- dertenhilfe, im Betreuten Wohnen oder selbst- ständig in einer eigenen Wohnung.

Sie kommen mit einem organisierten Fahr- dienst oder selbstständig mit öffentlichen Verkehrsmitteln an ihre Arbeitsstelle. In regel- mäßigen Gesprächen unterstützt eine Sozial- pädagogin die behinderten Mitarbeitenden bei der Lösung ihrer persönlichen Probleme, mit dem Ziel eine möglichst hohe Selbstständig- keit für jeden Einzelnen zu erreichen.

Ricardo Roloff hat auch schon versucht, auf dem ersten Arbeitsmarkt eine Stellung zu finden. Er hat beispielsweise ein Praktikum in einem Reinigungsservice gemacht. „Das war mir zu viel Stress“, sagt er. Er arbeitet gerne für die Lobetaler Bio-Molkerei. „Wir stellen Produkte her, die in ganz Deutschland verkauft werden“, sagt er stolz.

Beatrix Waldmann

Hoffnungstaler Werkstätten gGmbH

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Gebärdensprache in der Kita:

wenn Kinder keine Grenzen kennen

Von außen sieht die evangelische Kindertages- stätte „Paul und Anna“ in Berlin-Friedenau aus wie jede andere Kita: Ein großes Tor, das sicherstellt, dass die Kinder auf dem Hof gefahrlos spielen können. Vor der Eingangstür stehen Laufräder und Kinderwagen. Es herrscht reges Treiben. Eltern bringen ihre Kin- der, verabschieden sich, die Kinder winken ih- ren Eltern am Fenster zu.

Dass diese Kita besonders ist, fällt in der Mor- genrunde auf. Die Jungen und Mädchen zwi- schen zwei und sechs Jahren sitzen im Stuhl- kreis, zwischen ihnen sitzen die Erzieherinnen.

Eine von ihnen ruft ein Kind nach dem anderen auf. Aber: Sie fragt nicht nur „Wo ist Fabian?“

Sie macht dazu auch Fabians Gebärdenzei- chen. Jedes Kind hat sich eines ausgesucht.

Das Zeichen beginnt immer mit dem ersten Buchstaben des Vornamen, dann kommt ein Zeichen, das dem Kind besonders gefällt.

Fabian mag Nudeln so gerne, deshalb hebt die Erzieherin ihre Hände, macht eine drehende Bewegung und zieht die Hände auseinander – das Gebärdenzeichen für Nudel. Stolz reckt Fabian seine Hand nach oben.

Fabian kann hören, aber in der Kita hat er die Gebärdensprache gelernt. Und so kann er sich mit Batu unterhalten. Der Junge ist seit seiner Geburt gehörlos. Auch Helene, die das Down- Syndrom hat, gebärdet. In der Gruppe sind 13 Kinder im Alter von zwei bis sechs Jahren, da- von sind zwei Kinder hörgeschädigt, ein Kind hat das Down-Syndrom, ein weiteres Kind ist in seiner Entwicklung verzögert. Alle Erziehe- rinnen und Erzieher in der Kita sprechen in Lautsprache begleitenden Gebärden. Insge- samt werden dort zurzeit knapp 60 Kinder be- treut, zwölf davon haben eine Behinderung.

Beispiele aus der Praxis 13

Fabian gebärdet seinen Namen.

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Für viele von ihnen ist es wesentlich einfacher, sich mithilfe von Gebärden aus zu drücken, als zu sprechen. Hier lernen sie beides.

Inklusion wird jeden Tag gelebt

Die Kita „Paul und Anna“ lebt Inklusion jeden Tag und ganz selbstverständlich. Kinder mit und ohne Behinderungen spielen miteinander.

Monika Hartrampf leitet die Kita seit 1996. Sie ist überzeugt von dem Konzept: „Durch die Gebärden kommen die Kinder zur Sprache.“

Aber auch für die Kinder ohne Behinderung sind es wertvolle Erfahrungen: „Bei uns lernen die Kinder voneinander, die Kinder mit Behin- derung und die Kinder ohne Behinderung. Es geht darum, Rücksicht zu nehmen und den anderen wahrzunehmen, wie er ist. Die Kinder lernen, jeden in seiner Individualität zu akzep- tieren.“

Dass die Kita heute auf die Integration von be- hinderten Kindern spezialisiert ist, verdankt sie mehr oder weniger einem Zufall. 1995 kam das erste hörgeschädigte Kind. Um mit dem Kind kommunizieren zu können, bildeten sich die Mitarbeitenden fort. Bis heute machen die Erzieherinnen, Erzieher und die Köchin alle zwei Jahre Fortbildungen in der Gebärden- sprache. Weil immer mehr hörgeschädigte Eltern ihre Kinder in diese Kita bringen, lernen die Mitarbeitenden jetzt auch die Deutsche Gebärdensprache, die sich vor allem in der Grammatik von der Lautsprache begleitenden

Gebärdensprache unterscheidet, die sie mit den Kindern sprechen.

Individuelle Förderung

Der Alltag in der Inklusions-Kita funktioniert reibungslos. Dahinter steckt ein straffes Management. Jedes Kind wird seiner Behinde- rung entsprechend gefördert, sowohl in einer Kleingruppe als auch durch Einzelförderung.

Logopäden, Ergotherapeuten und Musikpäda- gogen arbeiten mit den Jungen und Mädchen.

Die Finanzierung des Angebots geschieht vor allem durch die Förderung des Landes Berlin, das die Kita für die Kinder mit Behinderung bekommt. Theoretisch könnte also jede Kita solch ein Angebot entwickeln. Kita-Leiterin Hartrampf weiß aber: „Das größte Problem ist es, sich an die Thematik heranzutrauen und ein Konzept zu entwickeln. Entscheidend dabei ist, dass sich die Kita den Kindern anpasst.“

Jede Anweisung, jeder Austausch, jedes Spiel findet in Gebärden statt. Sehr beliebt ist das Spiel „Mein rechter, rechter Platz ist frei.“ Die Erzieherin zeigt auf den leeren Platz zu ihrer rechten, spricht und gebärdet gleichzeitig. Die Kinder verstehen sie, antworten ihr mit Gebär- den – all das ist ganz normal hier in der Kita

„Paul und Anna“. Denn Kinder kennen keine Grenzen. Und hier wird dafür gesorgt, dass sie gar nicht erst entstehen.

Lena Högemann

Pressesprecherin des Diakonischen Werkes Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz e.V.

14 Beispiele aus der Praxis

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Beispiele aus der Praxis 15

leben lernen am EDKE:

gesellschaftliche Teilhabe in der Praxis

Tätig sein mitten im Kiez – das ist das Motto der beiden Außentagesförderbereiche von leben lernen im Berliner Bezirk Friedrichshain.

Hier arbeiten jeweils sechs Frauen und Männer, die durch ihre schwere geistige und zum Teil körperliche Behinderung stark eingeschränkt und auf einen hohen Unterstützungsbedarf angewiesen sind.

Die Beschäftigten nähen unter anderem Um- hängetaschen, weben Stoffe und fertigen Holzarbeiten. In der Umgebung kennt man sich, man tauscht sich mit den Betreibern der anderen Geschäfte aus.

Es sind die kleinen Dinge, an denen Inklusion im Alltag fassbar wird: Kürzlich stellte ein Nachbar im Haus fest, wie ängstlich einige Mitarbeitende auf seinen Hund reagieren und bot kurzerhand an, Spaziergänge gemeinsam zu machen – mit dem Hund, um Berührungs- ängste abzubauen.

Der Buchhändler nebenan dekoriert sein Schau- fenster mit Blumenketten aus Filz, die im Au- ßentagesförderbereich in Handarbeit gefertigt wurden. Man trifft sich öfter auf einen Kaffee.

Bei einer Mitarbeiterin ist der Buchladen so beliebt, dass sie diesen selbstständig auf- sucht. Andere Händler versenden Grußkarten an ihre Kundschaft, die im Außentagesförder- bereich aus handgeschöpftem Papier künstle- risch gestaltet werden.

Die Beschäftigten sind im Umfeld auf der Grundlage ihrer Kompetenzen akzeptiert.

Echte Wertschätzung der Arbeit, auch das ist Bestandteil von Inklusion.

Myrco Fiedler lebt und arbeitet bei leben lernen.

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16 Beispiele aus der Praxis

Was aber sagen die Beschäftigten selber dazu?

Interview mit Myrco Fiedler, Beschäftigter im Außertagesförderbereich Schreinerstraße 7.

Myrco, wo arbeitest du?

Myrco Fiedler: Ich arbeite in der Schreinerstra- ße 7. Hier arbeite ich gerne. Ich mag Ruhe. Die Gruppe ist klein. Die alte Arbeit kannst du dir sparen. Aber hier fahren auch viele Autos.

Was gefällt dir hier besonders?

Fiedler: Hier treffe ich Peter, meinen Freund.

Der wohnt nicht bei mir. Und bei dem Fest hier waren viele Leute. Da habe ich geholfen, Suppe zu verteilen. Da haben alle gesehen, was ich mache.

Was arbeitest du hier?

Fiedler: Papier schöpfen. Das schaffe ich und macht Spaß. Kleine Karten daraus machen. Ich kann schon neun Jahre am Webstuhl arbeiten.

Filzen mag ich auch, aber Nähen nicht. Weißt du, das mit der Nadel und dem Durchziehen.

Kennst du Leute aus der Nachbarschaft?

Fiedler: Wir sagen „Guten Tag“ auf der Straße und im Haus. Manchmal kommen Leute vor- bei. Der Hausmeister oder die Post kommt.

Dann frage ich: „Wie geht es?“ und die antwor- ten auch.

Bist du auch allein in der Straße unterwegs?

Fiedler: Ich gehe zur Physiotherapie. Da bringt mich jemand hin. Ich gehe dann allein zurück.

Da sind viele Hunde auf der Straße, die stören nicht.

Leben im Kiez

Tatsächlich inklusiv sind auch die beiden Außenwohngruppen, die leben lernen 2010 im Berliner Stadtteil Alt-Hohenschönhausen eröffnet hat. Der Gedanke, eine Alternative zu stationären Wohnformen zu schaffen, um die Möglichkeiten der gesellschaftlichen Teilhabe zu erhöhen, wird hier erfolgreich umgesetzt:

Jeweils fünf Menschen mit einer schweren geistigen und zum Teil körperlichen Behinde- rung, die einen erhöhten Unterstützungsbe- darf haben, leben in zwei Wohnungen eines gewöhnlichen Mietshauses zusammen. Die Wohnungen sind bedarfsgerecht ausgestattet und wurden barrierefrei ausgebaut.

Von den betreuenden Mitarbeitenden werden die Frauen und Männer dabei unterstützt, ihr Leben trotz ihrer geistigen, psychosozialen und körperlichen Einschränkungen weitge- hend selbstständig zu meistern. Alle verfügen über ein eigenes Zimmer. Die Küche, das Wohnzimmer sowie die Bäder teilen sie sich.

Unterstützt von Assistenten führen sie ihren Haushalt, waschen Wäsche, kochen, organi- sieren sich ihre Freizeit und fahren jeden Mor- gen zur Arbeit. Lebensmittelgeschäfte, Frisör und Arztpraxen sind fußläufig erreichbar. Die Frauen und Männer sind im Kiez integriert, in der Nachbarschaft kennt man sich. Nach einem Wegetraining sind einige in der Lage, selbst zum Bäcker oder zum Kiosk zu gehen.

Wie sehen die Bewohnerinnen und Bewohner das Projekt?

Interview mit der Bewohnerin Stefanie Albrecht und dem Bewohner Myrco Fiedler.

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Beispiele aus der Praxis 17

Wohnt ihr gern hier und was ist besser als vor- her?

Stefanie Albrecht: Ich wohne gerne hier, ich will lieber hier bleiben. Hier kann man besser ein- kaufen gehen und schwimmen und lernen.

Myrco Fiedler: Ich finde am Schönsten von der Arbeit Nachhausekommen. Ich schreibe gern in meinem Zimmer. Ich habe Ruhe. Ich kann CDs hören.

Albrecht: Ich gehe hier gerne alleine einkaufen oder spazieren, wo ich mich auskenne. Dann sage ich Bescheid, wo ich hingehe.

Sprecht ihr auch manchmal mit den Leuten hier?

Albrecht: Die Leute sind nett im Blumenladen und beim Bäcker. Wenn ich Hilfe brauche, dann frage ich. Manchmal spreche ich auch mit dem Nachbarn. Der schenkt mir mal eine Rose und wir gießen die Blumen auf dem Balkon.

Fiedler: Ich habe gesehen, wie die Männer Fenster geputzt haben. Ich sage „Guten Tag“

und frage: „Wie geht es?“

Albrecht: Der Nachbar hat für uns auch mal ein Paket angenommen. Ich habe einen Schlafan- zug bestellt.

Was ist hier anders als vorher?

Albrecht: Wir müssen viel mehr selbst machen, aber das macht nichts. Das muss man, das ist Verantwortung. Früher gab es keine Gruppen- gespräche. Hier spreche ich viel mit meinen Mitbewohnern. Früher habe ich fast nur mit meinen Betreuern gesprochen.

Fiedler: Ich mache lieber etwas alleine in meinem Zimmer. Am Wochenende bin ich allei- ne. Die Anderen sind weg und ich gehe zum Konzert mit einem Betreuer oder so.

Albrecht: Oder zu den Eisbären!

Was ist schwierig, wo braucht ihr Hilfe?

Albrecht: Wir brauchen Hilfe beim Sortieren der Wäsche mit den Farben. Wenn was Neues gekocht wird oder beim Einkaufen. Manchmal brauchen wir Hilfe, wenn wir uns streiten.

Manchmal verstehe ich auch Marie nicht.

(Anm.: Marie ist gehörlos und gebärdet.) Fiedler: Manchmal bin ich laut, ich bin sauer.

Das geht nicht, wegen der Nachbarn. Die be- schweren sich, wenn ich laut Musik höre. Aber das mache ich nicht mehr.

Stefanie Albrecht wohnt gerne bei leben lernen.

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18 Beispiele aus der Praxis

Was wünscht ihr euch noch?

Albrecht: Ich will im Wohnzimmer eine neue Couch, die ist so hart.

Fiedler: Ich finde die gut!

Räumliche Teilhabe ist nicht einfach umzusetzen

Wenn Inklusion bedeutet, dass alle Menschen gleichberechtigt dazugehören, muss man ge- sellschaftliche Teilhabe aktiv gestalten – auch räumlich. Leicht ist es jedoch nicht, potenzielle Vermieter davon zu überzeugen, dass Men- schen mit Behinderung das gesellschaftliche Zusammenleben im Wohnumfeld bereichern.

Nicht jede Nachbarschaft reagiert offen.

Zudem gibt es bei der Finanzierung der Betreu- ung Hürden, die Inklusion erschweren: So hat sich die Nachtbereitschaft in den Außenwohn- gruppen als nicht ausreichend erwiesen. Doch erst ab 20 Menschen, die gemeinsam in einer Wohneinheit leben, ist ein voller Nachtdienst im gesetzlichen Personalschlüssel vorgesehen.

Wo aber finden sich Wohnungen, die keinen

„Heimcharakter“ haben und die so nah beiein- ander liegen, dass ein Nachtdienst diese überblicken kann? Hier stößt der Anspruch, gesellschaftliche Teilhabe für Menschen mit Be hinderung zu verwirklichen, auf Widersprü- che. Dabei bedeutet Inklusion doch, allen und nicht nur bestimmten Menschen Teilhabe zu ermöglichen.

Benjamin Bell, Ines Siewert leben lernen gGmbH am EDKE

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Beispiele aus der Praxis 19

Arbeit für alle: ein JobPATE hilft Menschen mit Beeinträchtigungen

Ein Mal in der Woche sitzt Peter Wohlleben im Pfarrer Berg-Zimmer im Haus der Diakonie in Berlin-Steglitz. Vor ihm steht ein Telefon.

Kalender, Ordner und Unterlagen stapeln sich auf dem Tisch, an dem sonst Besprechungen stattfinden. In diesem provisorischen Büro arbeitet er ehrenamtlich. Peter Wohlleben ist JobPATE. Seine Mission: Menschen, die auf dem ersten Arbeitsmarkt Schwierigkeiten ha- ben, eine Arbeitsstelle zu finden, zu beraten.

Sein Ziel: Für jeden eine seiner Fähigkeiten entsprechende Arbeit zu finden – unabhängig von Behinderung oder Beeinträchtigung.

Seine erste Klientin an diesem Tag hat psy- chische Probleme. Die studierte Architektin hangelt sich von Aushilfsjob zu Aushilfsjob, weil sie leicht überfordert ist. Zusammen brüten die beiden über dem Lebenslauf der Frau.

Wohlleben hilft ihr, zu reflektieren, zu formulie- ren. Eigentlich schadet das niemanden, der sich bewerben muss, aber für diese Menschen ist diese Hilfe entscheidend. „Wir wollen den Lebenslauf so formulieren, dass der Arbeitgeber gar nicht nein sagen kann“, sagt Wohlleben.

Mit ruhiger und angenehmer Stimme spricht er den Klienten Mut zu. Und: Die Bewerberin muss selber etwas leisten. Es gibt Hausaufga- ben bis zum nächsten Treffen, die Klientin soll die Bewerbungsunterlagen überarbeiten. Sie merkt, dass der JobPATE sie ernst nimmt – so wie sie ist. „Vielen Dank“, sagt sie zum Ab- schied. In zwei Wochen geht die Arbeit weiter.

Wer sich von Peter Wohlleben beraten lassen möchte, muss online unter www.patenmodell.de

einen Fragebogen ausfüllen. JobPATE Peter Wohlleben im Einsatz.

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20 Beispiele aus der Praxis

Dann wird der Klientin oder dem Klienten einen der über 1.000 JobPATEN in ganz Deutschland vermittelt. Das Patenmodell ist eine deutsch- landweite Ehrenamts-Initiative in Trägerschaft des Diakonischen Werkes Berlin- Branden- burg- schlesische Oberlausitz. Wohlleben ist einer der PATEN des Patenmodells in Berlin und spezialisiert auf die Beratung von Men- schen mit Behinderungen und Beeinträchti- gungen. Wohlleben sitzt selber im Rollstuhl.

„Ich weiß, mit welchen Schwierigkeiten Men- schen mit Behinderung bei der Arbeitssuche konfrontiert sind, ich habe es selber erlebt“, sagt der JobPATE. Seit 2006 engagiert sich Wohlleben ehrenamtlich. Als Berliner Koordi- nator betreut er nicht nur zahlreiche Klienten, sondern auch fünf andere ehrenamtliche Job- PATEN. Seit 1999 sitzt Wohlleben im Rollstuhl.

„Ich musste mich schwer gegen die allgemeine Meinung wehren, Menschen mit Behinderung können keine Leistung mehr bringen“, berich- tet er. Genau dieses Verständnis hilft ihm bei seiner heutigen Arbeit.

Eine andere Klientin ist durch einen Fernseh- beitrag auf die JobPATEN aufmerksam gewor- den. Die Frau ist im mittleren Alter, hat eine freundliche Ausstrahlung. Ihr sieht man die körperliche Beeinträchtigung nicht an. Aber sie hat seit Langem nur einen 400-Euro-Job. Das soll sich ändern. „Ich habe schon wieder eine Absage bekommen“, erzählt die Klientin trau- rig. Zusammen arbeiten sie auch hier an dem Lebenslauf. Wohlleben: „Der Lebenslauf soll ein Geschenk sein.“ Die Klienten sollen selber formulieren. Peter Wohlleben wirkt ein biss- chen wie ein freundlicher Nachhilfelehrer. „Sie fordern mich aber ganz schön“, sagt die Klien- tin. Das ist auch Sinn der Sache.

Er erlebt eine Menge mit den Klienten. Es gibt Fälle, da wisse auch er nicht weiter. „Aber das ist die Ausnahme“, sagt Peter Wohlleben. Egal ob Stottern, der Rollstuhl, körperliche oder psychische Problemlagen, Wohlleben hat Wege gefunden, die Menschen in Arbeit zu bringen.

Er spricht mit potenziellen Arbeitgebern und erklärt den Bewerberinnen und Bewerbern ihre Möglichkeiten.

So hat zum Beispiel ein Gärtnermeister, der stottert, mit Wohllebens Hilfe eine Stelle im er- sten Arbeitsmarkt gefunden. „Wenn ich könnte, wie ich wollte, würde ich diesen Job Tag und Nacht machen“, sagt Peter Wohlleben. „Wir haben so viele Interessenten.“

Lena Högemann

Pressesprecherin des Diakonischen Werkes Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz e.V.

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Beispiele aus der Praxis 21

Ein Laufereignis ist auf den ersten Blick nur ein sportlicher Wettkampf. Doch der „Run of Spirit“

im Evangelischen Johannesstift in Spandau ist mehr. Neben einem sportlichen Gegeneinan- der gibt es ein Miteinander der Sportlerinnen und Sportler und Gäste. Das Besondere an diesem Lauf ist, dass er die Teilhabe von Menschen mit Behinderung bewusst ermög- licht. Menschen mit und ohne Behinderung begegnen sich bei dieser Laufveranstaltung – und das nicht nur in getrennten Kategorien, sondern auch gemeinsam über die Distanzen 2,5 km, 5 km und 10 km. Gemeinsam Heraus- forderungen annehmen – das verbindet. Drei Jahre nach dem ersten „Run of Spirit“ wurde die Idee dieser einzigarti gen Laufveranstaltung mit einem ersten Platz durch den Innovati- onspreis des Berliner Sports gewürdigt. Was war für die Jury das Innovative daran? Dass Menschen mit unterschiedlichen Fähigkeiten zusammen starten, Läufer und Geher, Roll- stuhlfahrer, Menschen mit ganz verschiedenen körperlichen und geistigen Voraussetzungen.

Sie alle legen einen Weg zurück. „Bewegung und Begegnung“ lautet das treffende Motto und seinen Namen hat der „Run of Spirit“ nicht nur deshalb verdient, weil er jedes Jahr am Pfingstmontag stattfindet. Er zeigt auch, wie viel Geist im Sport steckt.

Schwere Schritte ins zweite Leben

Der Geist dieses Laufes hat auch Lothar Bänsch eingenommen, ihn motiviert weiter zu kämp fen und weiter zu trainieren. Beim ersten „Run of Spirit“ erreicht er nach zwei Stunden und 36 Minuten das Ziel. Seine Distanz: die 2,5 km des barrierearmen Laufes. Um seinen Hals hängen vier Würstchen, an seiner Seite Bruder Wolfgang, an der Wegstrecke Riesenapplaus.

Run of Spirit: laufen inklusive – gemeinsam Hürden überwinden

Lothar Bänsch gibt alles beim Run of Spirit.

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22 Beispiele aus der Praxis

Alle konnten gerade ein kleines Wunder erle- ben. „Da gab es Menschen, die hätten heulen können“, erinnert sich Lothar Bänsch.

Seine Leidenschaft ist von jeher der Sport ge- wesen: Neujahrslauf 1990 durchs Brandenbur- ger Tor, Kanutour 2000 km von Bratislava nach Budapest oder am Wochenende mal schnell auf das Rad und 300 km in den Spreewald und zu- rück in die Hauptstadt – kein Problem für den fit- ten Mann. 2005 wird plötzlich alles anders. In der Familie ist Bluthochdruck verbreitet. „So muss es auch mich erwischt haben“, mutmaßt er. Die Behandlung im Unfallkrankenhaus Marzahn än- dert nichts an der Tatsache, dass Lothar Bänsch linksseitig gelähmt bleibt. Der Katholik lebt seit- dem im Evangelischen Johannesstift in Spandau in einer Wohngruppe. Die ist wie ein Zuhause für ihn. Obgleich Prognosen von Ärzten und The- rapeuten voraussagten, dass er sich fortan auf ein Leben im Rollstuhl einrichten müsse, begann er 2008 mit dem persönlichen Training: täglich um 7.30 Uhr wurden Stehübungen am Pult und Schrittübungen mit einem Vierpunktstock gemacht. Zum Erstaunen aller gelangen ihm die mühevollen Schritte. Bis Ende Mai 2009 konnte er eineinhalb Stunden ununterbrochen „auf den Beinen“ sein, fast ein Wunder. Beim ersten „Run of Spirit“, gab Lothar Bänsch sein öffentliches

„Comeback“ – mit Vierpunktstock, viel Humor und unendlicher Zähigkeit. Auch 2012 war der Publikumsliebling wieder am Start, wieder mit den altbewährten Würstchen um den Hals, aber dieses Mal auf der 5 km-Strecke.

Normalität tut wohl

Auch Philipp Torwesten fieberte auf den „Run of Spirit“ zu. Dass Rollstuhlfahrer, behinderte und nicht behinderte Menschen zusammen gegan- gen, gelaufen, gewalkt sind, fand er besonders

toll. Es hatte etwas so normales, nicht ausge- grenzt zu sein. Das tut gut. Philipp Torwesten ist kognitiv beeinträchtigt. Sauerstoffmangel während der Geburt bewirkte, dass der gebürti- ge Marzahner in seinem Leben einige Umwege gehen musste. Von der Lernbehindertenschule schickte man ihn in eine für geistig Behinderte.

1998 begann er eine Berufsorientierung bei den Berliner Werkstätten für Behinderte im Berliner Westhafen. Er lernte Silke, seine große Liebe, kennen. Seit drei Jahren ist sie seine Ehefrau.

Philipp Torwesten arbeitet bei Ikon in Zehlendorf.

In der Verpackungsabteilung hat er als Assistenz- manager auch Verantwortung für einen Rolli fah- renden Mitarbeiter übernommen. Ihm Essen zu reichen und Arbeitsaufträge zu erteilen sind seine Aufgaben neben dem regulären Arbeitspensum.

Der Job macht ihm Spaß. Die Freizeit wird zum großen Teil vom Sport bestimmt. Die 10 km beim

„Run of Spirit“ ist er mühelos gelaufen. „Ich bin eine Sportskanone, das habe ich von meinem Vater in die Wiege gelegt bekommen.“ Zum Glück kickt Ehefrau Silke, die 2003 bei der WM auch im Vierer der Handicap-Ruderer saß, in sei- nem Fußballteam mit. Die beiden sind glücklich in ihrer gemeinsamen Wohnung in Spandau. Sie werden von Mitarbeitenden der Behindertenhilfe des Evangelischen Johannesstifts, der Einrich- tung Schwanter Weg, betreut. „Leben so normal wie möglich“ ist deren Devise im ambulant be- treuten Wohnen.

Diana Richter

Evangelisches Johannesstift Berlin

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Inklusion um jeden Preis?

Eine Anregung zum kritischen Denken

Wer eine kritische Perspektive auf das The- ma Inklusion einnimmt, läuft immer Gefahr, als inklusions-kritisch zu gelten. Dabei geht es eher darum, Fragen zu stellen, die zum vertieften Nachdenken im individuellen Fall anregen sollen, ohne gleich patente Antwor- ten parat zu haben. Denn im allgemeinen Inklusions-Hype sollte nicht vergessen wer- den, dass gesellschaftliche Teilhabe für die vielen verschiedenen Individuen, aus denen unsere Gesellschaft besteht, nicht nur einen unterschiedlichen Stellenwert besitzt, sondern auch unterschiedlich gestaltet werden kann.

Eine Normierung von Inklusions-Bestrebungen wäre fatal. Die Ermöglichung von Teilhabe darf nicht zu einem Teilhabe-Zwang geraten.

Individuelle Einschränkungen bedürfen zu- weilen einer exklusiven Unterstützung – im positiven und nicht-gegenteiligen Sinne des Wortes exklusiv. Wo ein besonderer Bedarf an Hilfestellung, wo besondere Hilfsmittel erforderlich sind, sollten diese auch gewährt werden. Aber: Ist ein Mensch mit einer schwe- ren geistigen Behinderung und zusätzlichen körperlichen Einschränkungen in einer Klasse einer Regelschule wirklich gut aufgehoben?

Kann er dort tatsächlich optimal gefördert wer- den? So einfach lassen sich die Fragen nicht beantworten. Dazu sind Rahmenbedingungen notwendig und vor allem eine Haltung.

Regelschule nicht die einzige Lösung

Akzeptiert man, dass nicht alle Menschen gleich sind, so wird auch einsichtig, dass nicht jeder das Gleiche kann und braucht. Selbst- verständlich hat ein Mensch mit schwerer geistiger Behinderung und möglicherweise

zusätzlichen körperlichen Einschränkungen einen Anspruch darauf, in einer Regelschule unterrichtet zu werden. Doch sind die Lehrer- innen und Lehrer eingehend darauf vorbe- reitet? Die Angst davor, dem Einzelnen nicht gerecht werden zu können, ihn nicht genügend individuell fördern zu können, ist ohnehin gege ben. Inklusion kann nicht bedeuten, die Lehrkräfte mit dieser Aufgabe alleine zu las- sen. Inklusion als Sparmodell, bei der Schüler mit besonderem Bedarf einfach in bestehende Regelschulen inkludiert werden, ohne vorher die Rahmenbedingungen entsprechend aus- zurichten, funktioniert nicht.

Es gilt also, sich anzuschauen, was die Vor- aussetzungen dafür sind, damit das Lernen er- folgreich ist. Was für den einen gilt, gilt nicht für alle anderen in gleichem Maße. Manchmal sind Spezialeinrichtungen zielführender, manchmal nicht. Spezielle Hilfen, die der besondere Bedarf erforderlich macht, dürfen dabei nicht mit einer pädagogischen Sonderbehandlung gleichgesetzt werden. Allen die gleichen Chancen zu ermöglichen bedeutet nicht, dass alle die gleichen Voraussetzungen vorfinden.

Exklusivität muss also weder ein Merkmal von Sonderbehandlung noch von Ausgrenzung sein, sondern trägt richtig gedacht dazu bei, jedem die Hilfen zu gewähren, die für die Er- möglichung gleicher Chancen an gesellschaft- licher Teilhabe notwendig sind.

Nicht alles Konsens und harmonisches Miteinander

Das heterogene Ganze, die Gesellschaft, von der Inklusion idealer Weise ausgeht, besteht nicht nur aus Konsens und einem harmoni-

Schlussbetrachtungen 23

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24 Schlussbetrachtungen

schen Miteinander, sie enthält Widersprüche, die zu Konflikten und Frustrationen führen.

Gemeinsam lernen heißt auch, mit diesen Kon- flikten umzugehen, sie auszuhalten, wenn sie sich nicht, oder noch nicht lösen lassen. Eine Ablehnung der Person aufgrund einer wie auch immer gearteten Behinderung ist Diskrimi- nierung, und sie muss ohne wenn und aber bekämpft werden.

Doch die Frage, ob jeder Mensch von jedem gemocht werden muss, stellt sich im Diskurs um Inklusion. Kinder, die bekanntlich dazu nei- gen, ihr Herz auf der Zunge zu tragen, können da gnadenlos sein. Dabei ist eine Behinderung oft nicht der Grund für Zuneigung oder Abnei- gung, sondern die Persönlichkeit beziehungs- weise der Charakter. Normalität heißt, den Menschen zu sehen, nicht den behinderten Menschen.

Inklusion beschränkt sich nicht nur auf das Lernumfeld. Es gilt zu fragen, was und wo der am besten geeignete Wohnort ist, wie es um den Lebensmittelpunkt und Aktivitäten bestellt ist. Menschen, die aufgrund ihrer Ein- schränkung ihren Willen nicht verbalisieren können, sind darauf angewiesen, dass andere erkennen, womit es ihnen augenscheinlich am Besten geht. Die Gefahr der gut gemeinten Unterstellung durch Betreuende, Lehrkräfte, Angehörige, Mitmenschen ist eng mit der Be- obachtung verknüpft.

Dieser Tatsache sollte man sich stets bewusst sein. Wenn Inklusion Menschen mit Behinde- rung die gleiche Chance verschafft, aktiv an der Gesellschaft teilzuhaben, wie Menschen ohne solche Einschränkungen, so ist im Ein- zelnen zu fragen, ob und in welcher Form

diese aktive Teilhabe denn überhaupt gewollt ist. Vielleicht sieht die Selbstbestimmung des Einzelnen ein anderes Modell der Teilhabe an Gesellschaft vor. Eines, das mehr auf partielle Teilhabe an üblichen gesellschaftlichen Aktivi- täten setzt, anstatt auf ein Mittendrin.

Inklusions-Verhinderung aus Rück- sicht?

Nehmen wir das Beispiel eines Menschen, der nicht in der Lage ist, die Lautstärke sei- ner Stimme zu regulieren, der laut schreit und dessen Tag-Nacht-Rhythmus verschoben ist.

Ist das höhere Ziel einer positiven inklusiven Entwicklung die eigene Wohnung in einem Mietshaus? Und wenn ja, wessen Ziel ist es?

Wie viel Inklusion vertragen die Nachbarn?

Und das ist nicht einmal ketzerisch gefragt.

Dürfen sie sich über die Lautstärke-Belastung beschweren, die Polizei holen? Sehen wir sie als Inklusions-Verhinderer, obgleich sie ledig- lich ihr Recht auf Nachtruhe einfordern?

Man kennt die unangenehme Situation im Konzertsaal. Menschen mit einer schweren geistigen Behinderung zeigen ihre Freude über Musik häufig auf eine andere Weise als nicht behinderte Menschen. Was hat hier Vorrang:

Das Recht auf Teilhabe des einen oder der Rest des Publikums?

Inklusion ist daher nicht allgemein zu betrach- ten. Es kommt auf den Menschen an und auf das Umfeld, in dem er sich bewegt und für das bestimmte gesellschaftliche Normen gelten.

Was ist zielführender: Ein exklusives Konzert, in dem es erlaubt ist, seine Freude nach außen zu tragen, mitzumachen oder ein vermeintlich inklusives Konzert, in dem alle angespannt und mit wenig Freude teilnehmen, die einen, weil

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Schlussbetrachtungen 25

es ihnen zu laut ist und sie sich gestört fühlen, die anderen, weil sie permanent dazu aufgefor- dert werden, sich zurückzunehmen: „Psst, sei leise! Nicht so laut! Bitte still sitzen!“ Normalität in einer heterogenen Gesellschaft heißt auch, dass nicht jedes Angebot für jeden geeignet ist, und eine Vielfalt an exklusiven Angeboten im Grunde inklusiver ist, weil sie Wahlmöglich- keiten aufzeigen.

Insofern geht es nicht um die Frage: Inklu- sion um jeden Preis? Die kritische Perspektive richtet den Fokus nicht auf die Norm, son- dern auf die Individualität. Einer heterogenen Gesellschaft tut ein heterogener Umgang mit Inklusion ganz gut.

Jeanette Pella Geschäftsführerin

leben lernen gGmbH am EDKE

Exklusion

Integration

Inklusion

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Und wie hältst du’s mit der Inklusion?

Nach der Lektüre dieser Broschüre kann sich jede und jeder genau diese Frage stellen: Und wie hältst du’s mit der Inklusion? Die Antwort auf diese Frage wird unsere Gesellschaft stär- ker beeinflussen als manche sich das heute vorstellen können. Als Diakonie beschäftigt uns die Antwort auf diese Frage schon von Berufs wegen, aber auch aus unserem christ- lichen Verständnis der Nächstenliebe heraus.

Wir haben Ihnen in dieser Broschüre diakoni- sche Einrichtungen und Projekte gezeigt, die an dem großen Ziel mitarbeiten: Eine wirkliche gerechte Teilhabe von Menschen mit Behinde- rung an dem Leben, das jede und jeder von ihnen führen möchte. Aber wir merken auch:

Inklusion ist kein Selbstzweck und noch keine Selbstverständlichkeit.

Eine wichtige Rolle werden die Schulen spie- len. Seitdem Eltern entscheiden dürfen, ob ihr Kind auf eine reguläre Schule oder eine Förder- schule gehen soll, hat ein Prozess eingesetzt, der nicht mehr aufzuhalten ist. Davon bin ich überzeugt. Die Herausforderungen sind groß:

Es geht nicht nur um barrierefreie Schulge- bäude, es geht auch um mehr Lehrkräfte, So- zialpädagogen und um ausgefeilte Konzepte, um allen Schülerinnen und Schülern gerecht zu werden. Das alles wird Geld kosten. Hier ist die Politik gefragt. Inklusion zum Nulltarif kann es nicht geben. Konkret auf die Situation in Kitas und Schulen bezogen bedeutet das:

Erfolgreiche inklusive Konzepte sind nicht al- lein durch die Umverteilung von Personal aus den sonderpädagogischen Einrichtungen in die inklusiven Kitas und Schulen machbar. Es wird mehr Aufwand bedeuten – keine leichte Aufgabe vor dem Hintergrund der begrenzten finanziellen Ressourcen der Länder Berlin und Brandenburg.

26 Schlussbetrachtungen

Fehlen hier jedoch die Ressourcen oder auch die politische Bereitschaft, wird Inklusion auch (teilweise) scheitern können.

Es reicht aber nicht, den Prozess den anderen zu überlassen. Wir alle sind gefordert: Erst wenn Menschen mit Behinderung jeden Tag auf der Straße, im Supermarkt oder im Konzert angenommen werden, wie sie sind, sind wir am Ziel angekommen.

Auf dem Weg dahin soll diese Broschüre ein kleiner Schritt sein. Es sind unsere Mitglieds- einrichtungen, die sich auf den Weg gemacht haben, für eine gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen zu sorgen.

Diese Beispiele sollen Möglichkeiten zeigen, wie es funktionieren kann. Wobei jeder andere Weg ebenfalls willkommen ist. Im Kleinen kann Großes beginnen. Begleiten Sie uns auf die- sem Weg.

Martin Matz

Vorstandsmitglied des Diakonischen Werkes Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz e.V.

Diakonievorstand Martin Matz

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Impressum 27

Diakonisches Werk Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz e.V.

Paulsenstraße 55/56, 12163 Berlin Postanschrift: PF 33 20 14, 14180 Berlin Telefon: 030 820 97-0

Fax: 030 820 97-105 diakonie@dwbo.de www.diakonie-portal.de Fotos:

Titel (v.o.n.u.): © Lena Högemann, © Evang. Johannesstift Berlin,

© Ronny Heise, © Mara von Kummer, © Lena Högemann S. 3: © DW-Archiv

S. 4, 6: © vitalinko/Fotolia (l.), © Kaarsten/Fotolia, © muro/Fotolia S. 9: © Udo Kasper/pixelio

S. 11: © Kathrin Jung

S. 12: © Ronny Heise (l.), © Christian Walmann S. 13, 14: © Lena Högemann

S. 15, 17,18: © Mara von Kummer S. 20: © Lena Högemann

S. 21: © Evang. Johannesstift Berlin S. 22: © Alexander Krause

S. 25: Quelle: Wikipedia S. 26: © DW-Archiv

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Berlin-Brandenburg-

schlesische Oberlausitz

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