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5 JAHRE. Es war der Sommer ihres Lebens. Es war ihr letzter. EMANUELA Die Gänge des Vatikans sind düster. Man kann leicht verloren gehen

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5 JAHRE

WAHRE VERBRECHEN

EMANUELA Die Gänge des Vatikans sind

düster.

Man kann leicht verloren gehen

DIE RACHE DER MÄDCHEN

Er dachte, er könnte sie ewig

quälen

1992

Es war der Sommer ihres Lebens.

Es war ihr letzter UNSTERBLICH

Erfolgsautor Lee Child über

seinen Helden

31

31

JUNI   / JULI 2020 DEUTSCHLAND €  6,00/ ÖSTERREICH €  6,90 / SCHWEIZ CHF   9,60 / BENELUX €  7,30 / ITALIEN, SPANIEN, FRANKREICH, PORTUGAL (cont.) €  8,20 / DÄNEMARK DKR   74,95 / TSCHECHIEN CZK   220

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… haben wir alle. Und Verbrecher sind ziemlich froh darüber. Denn menschliche Schwächen sind ihr Startkapital. Unstillbares Ver­

langen, blinde Gier, lähmende Ängste, Verbohrtheit, Unsicher­

heiten oder heimliche Sehnsüchte ermöglichen es ihnen, andere zu verführen, zu bedrohen, zu überrumpeln, zu erpressen oder abhängig zu machen. Wir alle können Opfer werden und sind verletzbar.

Vielleicht berühren uns deshalb jene Geschichten ganz beson­

ders, in denen Menschen ihre Verletzungen überwinden, um sich gegen den Aggressor zu stellen und sich zu wehren. Solche Ge­

schichten können einen regelrecht euphorisch machen.

Etwas ist dabei erstaunlich: Die Menschen in diesen Mutma­

chergeschichten wachsen nicht unbedingt über sich hinaus und werden zu unschlagbaren Helden. Sie gewinnen vielmehr, weil sie sich ihren Schwächen stellen, sie sich eingestehen und sie auch vor anderen nicht mehr verbergen. Denn genau das ist es, wovon Verbrecher häufig am meisten profitieren: dass ihre Opfer sich schämen. Dass sie verschweigen, was ihnen widerfahren ist, weil sie es nicht wagen, sich verletz­ und fehlbar zu zeigen.

So geht es auch den Teenagern in einer unserer Geschichten aus dieser Ausgabe. Die Mädchen, die von einem unbekannten Cyber­

stalker auf Social­Media­Kanälen terrorisiert werden, brauchen lange, bis sie den Mut aufbringen, anderen mitzuteilen, was ihnen zugestoßen ist. Doch erst dadurch merken sie, dass sie nicht allein sind mit ihrem Schicksal. Erst dadurch machen sie die erstaun­

liche Erfahrung, dass sie nicht so schwach sind, wie sie dachten.

Auch nicht so ohnmächtig. Und dass der Mann, der sie quälte, keineswegs so mächtig ist, wie sie glaubten. Sondern um einiges schwächer als sie selbst. Lesen Sie diese inspirierende Geschichte auf Seite 20.

SCHWÄCHEN …

Newcomer-Magazin des Jahres

SILBER

5

JAHRE

WAHRE VERBRECHEN

Foto: Andra

AM 6. JUNI 2015 erschien Ausgabe Nummer 1 von stern Crime – dem ersten True-Crime-Magazin Deutsch- lands. Seitdem haben wir mehr als 250 Geschichten über echte Fälle erzählt, sowohl in unseren Heften als auch in digitaler Form auf stern Crime PLUS. In dieser Zeit entstanden mit

„Spurensuche“ und „Wahre Verbrechen“

zwei Podcasts. Anlässlich unseres Jubiläums bringen wir am 27. Juni eine Sonderausgabe heraus, in der wir die besten Storys aus fünf Jahren stern Crime präsentieren. Und:

Auf unseren Social-Media-Kanälen verlosen wir das begehrte Heft Nummer 1 („Spurlos“), das wir extra dafür noch einmal gedruckt haben.

Bei stern Crime PLUS finden Sie neben der aktuellen Ausgabe exklusi- ve Inhalte – wie etwa den Longread

„Floreana“ (crimeplus.de/floreana) oder den Fall „Emanuela“ (crimeplus.

de/emanuela) aus dieser Ausgabe zum Hören (Audiostory). Wer es kostenlos testen möchte: crimeplus.de

Wie gefällt Ihnen Crime? Ihre Meinung interessiert uns: info@stern-crime.de

// editorial

Giuseppe Di Grazia,

stern-Crime-Redaktionsleiter

(4)

// inhalt

32 / DIE MISSION DES KOMMISSARS Manche Bilder brennen sich ins Gedächtnis ein. Sie sind wie ein Auftrag 42 / EIN LANGER TRIP

Drei zornige junge Männer besteigen ein Flugzeug. Sie haben Handgranaten in der Tasche.

Und ein außergewöhnliches Ziel 56 / „NULL RISIKO GIBT ES NICHT”

Gespräch mit dem Rechtspsychologen Andreas Mokros, der begutachtet, wie gefährlich verurteilte Gewalttäter sind

64 / DAS DUNKLE VERMÄCHTNIS DER LINDA MURRI

Die ganze Welt sprach über diesen Mord. Auf der Familie der Täterin lastet er noch mehr als hundert Jahre später. Ein Foto-Essay ihrer Urgroßnichte

76 / GHADDAFIS TOCHTER Der Name der Frau ist klangvoll.

Das Angebot, das sie per Mail unterbreitet, verlockend. Wer könnte da widerstehen? Unser Autor kann es nicht. Und so beginnt der Tanz 06 / STRAFE MUSS SEIN …

… denn sie schreckt ab. Diese Idee ist ein Pfeiler unseres Rechtssystems.

Aber ist sie auch richtig? Ein Essay 08 / 1992

Als der Sommer kam, zog es die Frauen mit ihren Kindern ins Grüne.

Sie ahnten nicht, dass dort der Wahnsinn wartete

20 / DIE RACHE DER MÄDCHEN Er dachte, er hätte sie unter Kontrolle.

Das war ein Irrtum Cover: Gundula Blumi. Fotos: Mario Wezel; Mattia Balsamini; Cole Wilson, Embroidery by Diane Meyer; Annalisa Natali Murri; AP/dpa/Picture-Alliance Jürgen Schmidt hat etliche schwere Fälle bearbeitet.

Einer hat ihn besonders lange beschäftigt

32

96

Pietro Orlandi liebte seine kleine Schwester.

Er wollte sie behüten

004 // crime 31

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84 / EIN SPEZIALIST

Der Bioinformatiker Dirk Labudde versucht, Verbrecher anhand ihrer Körperhaltung zu identifizieren 86 / DER WEG DES MALERS Gerhard von Kügelgen war einer der bedeutendsten Künstler der Romantik.

Sein Tod war wenig romantisch 96/ EMANUELA

Sie war die jüngste Bürgerin des Kirchenstaats, sie wurde entführt.

Von wem?

110/ MEIN BILD

Wolfgang Peter Geller war noch ein junger Student, als ihm ein Foto gelang, das um die Welt ging:

von einem tödlichen Schuss 112/ „TOM CRUISE IST EIN TOLLER SCHAUSPIELER. ABER ZU KLEIN“

Ein Werkstattgespräch mit dem Erfolgsautor Lee Child über seine Romanfigur Jack Reacher und die Überlebensdauer von Helden 117/ BÜCHER, FILME UND SERIEN

122 / DER PROMINENTE FALL Besoffene war man in Memphis gewohnt. Doch einen wie Ozzy Osbourne hatte man auch hier selten gesehen

03 / EDITORIAL 118/ LESERBRIEFE

120 / MITARBEITER, IMPRESSUM Southern-Airways-Flug 49 nahm einen Umweg

An Schulen kann es heftig zugehen.

Manchmal auch gnadenlos

20

42

64

Es gibt Menschen, die können es bis heute schwer ertragen, Linda Murri in die Augen zu blicken

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I

ch war 15. Meine Freundin Gesine und ich kamen auf die Idee zu kiffen. Irgendwie schien das etwas Tolles zu sein. Allerdings hatten wir keine Ahnung, woher wir in Buxtehude Gras bekommen sollten. Also klaub- ten wir Hanfkörner aus Vogelfutter, mischten sie in Tabak und rauchten das Zeug. Es schmeckte fürchterlich, was wir uns natürlich nicht eingestanden. Ich verkaufte die Dose mit den Körnern ein paar Tage später für vier Mark an einen Typen aus unserer Schule. Ich war froh, den Mist ge- winnbringend loszuwerden.

Wenig später lud mich die Kripo vor. Ich war verpfiffen worden und stand nun unter Verdacht, eine Dealerin zu sein.

Meine Eltern waren außer sich. Aber noch schlimmer war die Begegnung mit den Männern von der Kripo. In einem muffi- gen Vernehmungszimmer saß ich zwei Polizisten gegenüber,

legte mit zitternder Stimme ein Geständnis ab. Und bekam den Anpfiff meines Lebens. Den genauen Wortlaut habe ich vergessen, aber die Kripoleute wussten, wie man Teenager einschüchtert. Es war die unangenehmste Situation meines Lebens. Aber auch eine der wichtigsten.

Das Verfahren wurde natürlich eingestellt. Hanfkörner wa- ren schon damals frei verkäuflich, heute gelten sie sogar als Superfood. Ich hatte mich gar nicht strafbar gemacht. Die Standpauke war womöglich sogar rechtswidrig gewesen. Trotz- dem bin ich den Kripomännern noch heute dankbar. Ich war jung, dumm, labil und neugierig. Gute Voraussetzungen für den Start einer Drogenkarriere. Als kurz darauf echte Joints auf Feten kreisten, kam ich nicht in Versuchung. Ich fürchtete die Typen von der Kripo. Staatsanwälte und Richter waren sicher noch unangenehmer. Denen wollte ich auf keinen Fall Foto: Robin Hammond/Panos Pictures

STRAFE MUSS SEIN!

MUSS SIE?

von KERSTIN HERRNKIND

Wer Böses tut, soll büßen. Denn Angst vor Buße hält uns davon ab, Böses zu tun.

Diese Überzeugung ist eine Säule des Rechtssystems. Nur ist es so eine Sache mit Überzeugungen

006 // crime 31

// essay

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begegnen. Was ich durchlitten hatte, war Strafe genug gewesen – auch, wenn ich nicht auf der Anklagebank gesessen hatte.

Seither bin ich davon überzeugt, dass Strafe abschreckt. Zu- mindest mich. Aber gilt das auch für alle? Unser Strafrecht beruht auf dieser Annahme. Und viele Politiker glauben daran wie Kirchgänger an Gottes Wort. Betrüger, die Corona-Sofort- hilfe abgegriffen haben, sollen streng bestraft werden, sagt zum Beispiel der Bundeswirtschaftsminister. Der Justizminister in Bayern hat Heranwachsende auf dem Kieker, die ihm zu wenig für ihre Schandtaten büßen müssen. Und Hamburgs CDU ist so genervt von „Geisterradlern“, dass sie es für dringend gebo- ten hält, sie härter an die Kandare zu nehmen, damit sie nicht mehr auf der falschen Straßenseite fahren.

Die Angst vor Strafe führt uns auf den rechten Weg.

Aber ist das überhaupt erwiesen?

Ja, sagen die Ökonomen des Deutschen Instituts für Wirt- schaftsforschung und der Goethe-Universität Frankfurt. Sie haben Diebstähle, Raubüberfälle, Körperverletzungen und Tötungsdelikte über einen Zeitraum von fast 25 Jahren aus- gewertet. Fazit: Art und Höhe der Strafe sind zwar nachran- gig. Dass der Täter allerdings einen Schuss vor den Bug bekommt, ist wichtig. Milde Staatsanwälte, die Verfahren we-

gen Geringfügigkeit einstellen, ermuntern Verbrecher, ihre kriminelle Karriere weiter voranzutreiben.

Gewalttäter lassen sich von Haftstrafen nicht beeindrucken, behaupten dagegen Forscher der University of California Ber- keley, die mehr als 100 000 Fälle untersucht haben. Und Wis- senschaftler der Universität Bielefeld, die sich mit jugendli- chen Intensivtätern in Deutschland befasst haben, sagen:

Knast macht den Teenagern keine Angst. Erst recht nicht, wenn sie schon mal drin saßen. Je härter sie bestraft wurden, desto eher würden sie rückfällig. Der Jurist Thomas Galli – ein ehemaliger JVA-Leiter – schlägt vor, den Knast abzuschaf- fen. Denn: „Nach ein paar Jahren im Gefängnis kennen Straf- täter dann nur noch andere Straftäter. Es gibt kaum mehr Kontakt zu einem gesunden sozialen Umfeld.“ Oder anders ausgedrückt: Knast ist eine Art Hochschule für Kriminelle.

Zumindest im Falle des Freiheitsentzugs, der schwersten Strafe, die in Deutschland erteilt werden darf, herrscht also Unklarheit, ob sie überhaupt die gewünschte Wirkung zeigt.

Aber was ist mit anderen Sanktionen? Etwa der schwersten überhaupt vorstellbaren? Der Todesstrafe?

Der amerikanische Kriminalökonom Issac Ehrlich rechnete aus, dass in den USA eine Hinrichtung acht Morde verhin- dern würde. Potenziellen Mördern flöße der Gedanke an die Giftspritze solche Angst ein, dass sie ihre potenziellen Opfer doch lieber am Leben ließen. Sein Kollege James Yunker korrigierte die Zahl nach oben: Eine Hinrichtung verhindere

über 150 Morde. „Der aktuelle Forschungsstand gibt keine ausreichenden Informationen darüber, ob die Todesstrafe die Mordrate verringert, erhöht oder überhaupt einen Effekt auf sie hat“, liest man dagegen in einer aktuellen Studie, an der der Nationale Forschungsrat der USA mitgewirkt hat.

S

o geht es hin und her. Für jede Untersuchung, die be- legt, dass Strafe abschreckt, scheint es eine zu geben, die das Gegenteil behauptet. Der Heidelberger Jurist Tobias Spirgath hat sich die Mühe gemacht, über 400 empi- rische Studien und fast 3600 Effektschätzungen aus dem deutsch- und englischsprachigen Raum auszuwerten. Das Fazit seiner „Metaanalyse“: Ökonomen – im Ruf stehend, eher konservativ zu sein – finden gern heraus, dass Strafe abschreckt. Sozialwissenschaftler – als liberal geltend – sind eher skeptisch. Studien seien verzerrt und fehleranfällig. „Für die künftige Forschung lässt sich festhalten, dass die Frage nach der abschreckenden Wirkung des Strafrechts noch nicht als abschließend geklärt gelten kann“, schreibt er. Es ist also noch immer zu wenig erforscht. Und das Weltbild verfärbt die Ergebnisse.

Rufen deshalb konservative Politiker so schnell nach här- teren Strafen? Wie jüngst in Nordrhein-Westfalen, wo Innen- minister Reul (CDU) nach dem Skandal in Lügde forderte, die Höchststrafe für Kindesmissbrauch „zu verdoppeln“. Aller- dings sind die beiden Männer, die über Jahre Minderjährige auf einem Campingplatz missbraucht hatten, zu zwölf und 13 Jahren Gefängnis verurteilt worden. Mit anschließender Sicherungsverwahrung. Mehr geht nicht. Reul lenkt mit der Forderung davon ab, dass Polizei und Jugendamt heftig ver- sagt hatten. Ein Untersuchungsausschuss versucht gerade zu klären, warum die Täter trotz mehrfacher Anzeigen jahrelang unentdeckt blieben. Das Beispiel zeigt, dass mit dem Schrei nach härteren Strafen vor allem eines gemacht wird: Politik.

Aber noch mal zurück zur Jugendkriminalität, in die ich nicht abgerutscht bin, weil mir die Vernehmung schon Strafe genug war. Sehr viele Jugendliche werden kriminell. Nicht, weil sie Drogen nehmen. Sie klauen im Laden. Über 80 Pro- zent der Jungen und fast 70 Prozent der Mädchen. Sagt eine Langzeituntersuchung. Aber die meisten finden auf den rechten Weg zurück. Weil sie älter werden. Und vernünftiger.

Sie legen ihr kriminelles Verhalten ab wie einen aus der Mode gekommenen Hoodie. Ohne Polizei, ohne Richter.

Ohne Strafe. Meine alte Freundin Gesine hat die Begegnung mit der Kripo damals übrigens kein bisschen beeindruckt, wie sie mir jetzt am Telefon erzählte. Im Gegenteil. Sie hat danach angefangen zu kiffen.

Kerstin Herrnkind, stern-Reporterin, zog mit Ende 20 dann doch zwei Mal an einem Joint.

Den Geruch fand sie widerlich. Also beschränkte sie weiterhin ihren Drogenkonsum auf Alkohol

Diese Überzeugung ist eine Säule des Rechtssystems. Nur ist es so eine Sache mit Überzeugungen

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// crime 31 008

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SOMMER-

  FLIRREN

von JUDKA STRITTMATTER fotos GUNDULA BLUMI

ES SIND DIE HEISSESTEN WOCHEN

DES JAHRES . DIE FRAUEN ZIEHT ES MIT IHREN KINDERN INS GRÜNE. SIE WISSEN NICHT,

DASS DA DRAUSSEN DER WAHNSINN WARTET

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E

es ist juli, die sonne scheint, rachel nickell ist 23 und

kann eigentlich ganz zufrieden sein mit ihrem leben, das in guten, wenn auch nicht immer

einfachen bahnen läuft.

Auch an diesem sonnigen Morgen fahren sie in Rachels silberfarbenem Volvo zum Park, stellen den Wagen beim Golfklub ab, gehen los. Und werden nie mehr in dieser Ein- tracht wiederkommen. Eine halbe Stunde später wird Rachel tot sein. „Übertötet“, wie man unter Fachleuten sagt. Sie wird mit aufgeschlitzter Kehle und 49 Messerstichen im Leib unter einer Birke liegen, vergewaltigt und zusammengekrümmt wie ein Embryo. Ihr Slip und ihre Jeans werden heruntergezo- gen sein, und es wird aussehen, als hätte der Täter sie extra so drapiert, um ihr noch im Tod alle Würde zu nehmen.

Der Rentner Michael Murray sieht bei seinem Spaziergang nahe der großen Windmühle ein paar nackte Frauenbeine aus dem hohen Gras ragen. Erst denkt er, es sei eine Sonnen- badende, von denen gibt es viele hier. Doch irgendwas stimmt nicht mit diesen Beinen. Murray kommt näher und bemerkt einen jaulenden Hund und einen kleinen Jungen, der sich an eine im Gras liegende Frau klammert. Der Junge ist blut- verschmiert und sein Griff so fest, dass Murray ihn kaum lösen kann. „Steh auf, Mami“, sagt der Junge wieder und wieder, bevor er für lange Zeit verstummt.

Bald darauf trifft Scotland Yard ein, und von Stund an hat London eine neue Mordfallakte. Eine, die es viele Jahre nicht vergessen wird. Und für die sich die Polizisten lange schämen werden.

Mehr als zwei Jahrzehnte später hat Alex Hanscombe, der kleine Junge von damals, ein Buch herausgebracht, es trägt den Titel „Letting Go“. Darin beschreibt er, wie er den Mord an seiner Mutter erlebte und wie es mit ihm danach Sie hat gemodelt und den Traum von der Karriere zwar fürs

Erste aufgeben müssen, als sie vor drei Jahren Mutter ge- worden ist. Aber sie liebt das Leben in der Kleinfamilie und ist vernarrt in ihren Sohn Alex. Mit ihm und ihrem Freund André Hanscombe wohnt sie in einer kleinen Zweizimmer- wohnung in Balham, Südwest-London. André war früher Tenniscoach, jetzt ist er Kurierfahrer, hofft aber noch immer auf eine Profikarriere. Sie sind seit drei Jahren ein Paar, in einem öffentlichen Schwimmbad haben sie sich kennenge- lernt, in dem Rachel als Life Guard arbeitete. Auf fast jedem Foto, das es von ihr gibt, wirbelt ein lebensfroher Blondschopf herum, oft wird sie mit der Frau aus der Timotei-Shampoo- Werbung verwechselt. Manchmal plagen Rachel zwar Selbst- zweifel, aber darüber wird später keiner reden. Die Menschen werden entsetzt sein, dass jemandem wie ihr, einer jungen Frau in der Blüte ihres Lebens, so etwas widerfährt, am hell- lichten Tag, an einem solchen Ort und vor den Augen eines solchen Zeugen.

Am 15. Juli 1992 macht sich Rachel mit dem dreijährigen Alex und ihrer Mischlingshündin Molly mal wieder auf den Weg. Wenn André arbeitet, geht Rachel gern ins Grüne. Es gibt einen Park, direkt vor ihrer Wohnung, Tooting Common, aber dort ist sie schon oft blöd angemacht worden von ir- gendwelchen Typen, jüngst hat sich sogar einer vor ihr ent- blößt. Rachel fährt lieber nach Wimbledon Common. Die Gegend ist einfach besser, die Anwohnerschaft nobel. Die Tennisplätze, auf denen jedes Jahr das älteste und renom- mierteste Turnier der Welt ausgetragen wird, liegen um die

Ecke. Es spricht viel für Wimbledon Common. Foto: Mirrorpix

010 // crime 31

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R A C H E L N I C K E L L I S T B E R E I T S M I T 2 0 J A H R E N M U T T E R G E W O R D E N . S I E U N D I H R S O H N A L E X S I N D U N Z E R T R E N N L I C H

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weiterging. Sein Vater André hatte schon 1996 Einblicke in seine Gefühlswelt veröffentlicht. Er schrieb darüber, wie er nach Rachels Tod keinen Sinn mehr sah. Wie er anfangs dar- an dachte, Selbstmord zu begehen und seinen Sohn in den Tod mitzunehmen, weil auch der die Mutter so sehr vermisste.

Wie der Vater tritt auch Alex nach seiner Buchveröffentli- chung in Talkshows auf, und im Gegensatz zu seinen Intervie- wern, die sich immer noch erschüttert geben über die grausame Tat, ist er die Ruhe in Person. Ein junger Mann mit dunklem Bart, nettem Hemd und meist mit buddhistischer Gebetskette um den Hals. Seine Rede hat einen spirituellen Unterton. Er spricht davon, dass alles aus einem Grund passiert sei und sich sein Leben „von der Dunkelheit zum Licht“ entwickelt habe. Er spricht von Vergebung. „Wenn Shakespeare recht hat“, sagt er,

„und die Welt eine Bühne ist, dann spielen wir alle die Rolle des Guten oder Bösen zu verschiedenen Zeiten.“

Zuschauer und Leser wundern sich über seine milden Wor- te und auch darüber, dass er sich an alles so genau erinnert, schließlich war er am Tag des Mordes erst knapp drei Jahre alt. Alex weiß noch, wie er an diesem Julimorgen seinem Va- ter zuwinkte, als sie das Haus verließen. Und dass er in der Nacht zuvor so oft aufgewacht war, dass Rachel am Morgen ächzte: „Ich möchte für immer schlafen.“ Er weiß noch, wie die Bäume immer dichter standen, je tiefer sie in den Park gingen, und wie auf einmal etwas Seltsames in der Luft lag.

Wie seine Mutter und er sich umdrehten und da dieser Mann mit der schwarzen Tasche und dem schwarzen Gürtel war.

Wie er, der Junge, sich plötzlich im Dreck wiederfand und seine Mutter da lag und nicht mehr aufstand, obwohl er sie wieder und wieder darum anflehte, sie schließlich anschrie.

„Ich erhebe nicht den Anspruch, dass ich mich an alles, was ich durchlebt habe, perfekt erinnere“, schreibt er im Vor- wort seines Buches. Aber er gebe die Dinge von Anfang bis Ende mit der größten Akkuratesse wieder. Selbst, wie seine Mutter roch, wisse er bis heute. Sie und er seien unzertrenn- lich gewesen. Bis dieser Fremde ihnen näher kam.

S

scotland yard findet im sommer 1992 kein haar, kein sperma, auch keinen speichel des mörders und keinen

fingerabdruck.

Es melden sich auch keine Zeugen, nur der kleine Alex scheint das Verbrechen gesehen zu haben. Die einzige auffällige Spur sind rote Lackteilchen, die man in seinem Haar gefunden hat. Es ist unklar, woher sie dorthin gelangten.

André Hanscombe muss in der Gerichtsmedizin seine tote Freundin identifizieren und seinen traumatisierten Sohn aus dem St George’s Hospital abholen. Rachels Eltern werden erst

nach vier Tagen von der Polizei in Ontario, Kanada, aufgespürt.

Sie kehren sofort von ihrer Urlaubsreise heim. Der Vater, ein ehemaliger Armeeoffizier, stellt sich umgehend und tapfer in eine Pressekonferenz und ruft die Londoner zur Hilfe auf.

„Sie war ein helles Licht“, sagt er über seine Tochter. „Das nächste Mal könnte es Ihre Tochter, Mutter oder Frau sein.

Bitte lassen Sie das nicht noch einmal zu.“

In den Wohnstuben von Greater London ist die News von Rachels Tod schon am selben Tag aus den Fernsehern ge- lärmt und hat eine ganze Stadt aufgewühlt, die sich nun fragt:

Wer tötet eine Mutter vor den Augen ihres Kindes? Und: Wie kann in einer guten Gegend wie Wimbledon und im hellsten Sonnenschein so etwas Scheußliches passieren?

Es waren doch rund 500 Leute im Common unterwegs, Jogger, Reiter, Golfer, Picknicker – sogar Reiterpatrouillen der Polizei. Niemand hat einen Blutbefleckten fliehen sehen.

Nur ein Mann, der sich in einem Bach die Hände wusch, wur- de gesichtet, und ein anderer, der am Morgen hastig den Park verließ. Erste Recherchen in der zentralen Scotland-Yard- Datenbank mit Namen „H.O.L.M.E.S“ ergeben, dass über 100 verurteilte Sexualstraftäter innerhalb einer Meile um den Fundort von Rachel Nickell leben. Von wegen vornehmes Wimbledon.

Und wurde nicht sieben Wochen zuvor wieder eine dieser Attacken in Plumstead Common, knapp 20 Kilometer entfernt, gemeldet? Wahrscheinlich eine weitere Tat des Serienverge- Fotos: Garey Stone/DDP; Ken McKay/ITV/Shutterstock; Shutterstock

012 // crime 31

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waltigers, der dort seit 1989 unterwegs ist. Mann fällt Frauen an, die mit ihren Kindern unterwegs sind. Schlägt, würgt und vergewaltigt diesmal eine 22-Jährige im Beisein ihrer Tochter, die im Buggy sitzt. Sind das nicht erstaunliche Parallelen?

Das zuständige Dezernat in Plumstead Common weist die Kollegen in Wimbledon darauf hin, doch die Truppe um In- spector Keith Pedder verfolgt eine andere Richtung. Wegen des medialen Tornados, der seit Rachels Tod über die Stadt fegt, ist sie unter Druck und setzt auf jemanden, der gerade sehr angesagt ist: Paul Britton.

Der Mann ist Profiler, er berät sogar das FBI und das rus- sische Innenministerium, auch eine Fernsehserie über seine Arbeit wird derzeit produziert. Profiling ist seit Mitte der 80er Jahre ein viel beachtetes Ermittlungstool, es nimmt endlich auch die Psyche und Persönlichkeit von Tätern ins Visier. Aufgrund seiner Analyse des Tathergangs gibt Britton den Detectives seine Einschätzung an die Hand: allein leben- der Mann zwischen 20 und 30, der von mittlerer Bildung ist, kaum oder gar keine sexuellen Erfahrungen, dafür abnorme Fantasien hat, eventuell unter Erektionsstörungen leidet und Pornografie konsumiert. 548 verdächtige Männer werden befragt und auch auf Brittons Profil abgeklopft, 32 sogar vo- rübergehend festgenommen.

Dann ist auch der kleine Alex wieder da, hat seine Sprache, manchmal sogar sein Lachen wieder. Kinder verkraften Trau- matisches manchmal besser als Erwachsene, erklären die

Psychologen seinem Vater, außerdem wollen Kinder ihre El- tern aufheitern und trösten. Alex selbst erklärt seine Öffnung später so: „Ich habe dem Mörder meiner Mutter verziehen, lange bevor ich wusste, wer er überhaupt war.“ Alle negati- ven Gefühle dazu habe er schon sehr früh „losgelassen“.

Die Ärzte und sein Vater können dem Jungen ein paar Aus- sagen zum Täter entlocken, indem sie eine Art Ratequiz mit ihm spielen: großer oder kleiner Mann? Dicker oder dünner, schwarzer oder weißer? Er erinnert sich an den Gürtel und die dunkle Tasche. So bekommen die Ermittler eine Beschreibung und ein Phantombild, das am Ende aufgrund der Hinweise, die eingehen, in Richtung eines Mannes zu weisen scheint:

Colin Stagg, 29. Er ist arbeitslos und lebt nur ein paar Minu- ten vom Park entfernt. Ein Polizist, der mit seinen Kollegen am 15. Juli den Tatort gegen Neugierige absperrte, hat sich diesen Namen ebenfalls notiert. Stagg kam mit seinem Hund des Weges, fragte, was los sei, und erzählte dann, dass er an diesem Tag schon einmal in der Früh, gegen 8.15 Uhr, im Com- mon gewesen sei, aber nichts Verdächtiges bemerkt habe.

Die Behörden, ohnehin unter Druck aufgrund einer wild rotierenden Presse und verängstigter Bürger, haben endlich etwas in der Hand. Die Hausdurchsuchung bei Stagg stimmt die Ermittler hoffnungsvoll, dass sie den Richtigen haben:

In seinem Schlafzimmer findet sich eine schwarz gestrichene Wand und ein Buch über Okkultismus. Stagg gesteht, dass er noch Jungfrau sei. Überhaupt beantwortet er offen

S E L B S T A L S E R W A C H S E N E R K A N N S I C H A L E X H A N S C O M B E N O C H E R S TA U N L I C H D E TA I L L I E R T D A R A N E R I N N E R N , W A S I M P A R K I N W I M B L E D O N G E S C H A H . D A M A L S W A R E R D R E I J A H R E A LT U N D D E R E I N Z I G E , D E R D E N TÄT E R B E S C H R E I B E N K O N N T E

Referenzen

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