Psychische Störungen im Säuglingsalter
Cornelia Overs
Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie
- Spezialambulanz für Säuglinge und Kleinkinder - Universitätsklinikum des Saarlandes
Homburg
Gliederung
Einleitung
Besonderheiten psychischer Störungen im Säuglingsalter
Klassifikationen
Diagnostik – allgemein Therapie – allgemein Regulationsstörungen Schlafstörungen
Fütterstörungen
• Definition/Klassifikation
• Prävalenz/Komorbiditäten
• Ätiologie
• Diagnostik/Differenzialdiagnosen
• Therapie
• Verlauf und Prognose
Einleitung
Definitionen (deutscher Sprachraum):
Neugeborene: 0 - 4 Wochen Säuglinge: 1 -12 Monate Kleinkinder: 1 - 5 Jahre
Vorschulalter: gesamte Zeitspanne
von 0 bis 5 Jahren
Einleitung
Definitionen (englischer Sprachraum):
Infants: ca. 0 - 18 Mte
Toddlers: ca. 18 Mte - 3 Jahre
Preschoolers: ca. 4 - 5 Jahre
Einleitung
Säuglings- und Kleinkindpsychiatrie
Wichtiges, junges Teilgebiet der Kinder- und Jugendpsychiatrie (KJP)
Befindet sich auf dem gleichen Stand wie die Kinder- und Jugendpsychiatrie im Jahr 1970 Prognose: ähnliche Entwicklungen wie die
allgemeine KJP in den nächsten 20 Jahren Enorme Forschungstätigkeit seit 2004
Einleitung
Einleitung
Psychische Störungen im Vorschulalter :
Differenzierte Erkennung im Vorschulalter möglich Häufigkeit wie bei älteren Kindern
(Egger & Angold, 2006: bei 14 – 25% aller Vorschulkinder klin. relevante Störungen)
Teilweise andere Symptomatik, werden übersehen
(Egger & Angold, 2006: nur 11 – 25% der Kinder mit Verhaltensstörungen werden vorgestellt)
Große Belastung für Kinder und Eltern
Große Bedeutung von rechtzeitiger Diagnose, Beratung und Behandlung
Besonderheiten psychischer Störungen des Säuglingsalters
Intensität und Dynamik der Reifungs-, Anpassungs- und Lernprozesse (Entwicklungsaufgaben)
Untrennbarkeit der psychischen Entwicklung des Kindes von der Entwicklung der Eltern-Kind-
Beziehungen
Komplexität des ätiologischen Bedingungsgefüges, das mehrere Generationen einschließt (das Kind, seine Eltern und deren Herkunftsfamilien)
Klassifikationen
Besonderheiten von Störungen im Vorschulalter gegenüber denen älterer Kinder und Jugendlicher Ungenügende Erfassung von psychischen
Störungen des Alters von 0-5 Jahren durch tradit.
Klassifikationsschemata (ICD 10, DSM 5) Verschiedene Reformschritte
Klassifikationen
Verschiedene Reformschritte:
Deutsche Leitlinien (Schmidt & Poustka 2007, von Gontard, Möhler & Bindt, 2015)
RDC-PA (2002): Revision/ Modifikation der DSM-IV- Kriterien für das Vorschulalter; kategoriale Diagnosen vieler Störungen ab dem Alter von 2 Jahren möglich, eher für ältere Vorschulkinder geeignet
DC:0-3R (2005), DC:0-5 (2016): Alternatives Klassifi-
kationssystem speziell für das Säuglings-/ Kleinkindalter Entwicklungs- und beziehungsorientierte Klassifikation einzelner Störungsbilder (z.B. Fütterstörung, Chatoor, 1997)
Klassifikationen :
Dt. Leitlinien (Schmidt & Poustka, 2007)
Drei spezifische Regulationsstörungen im Säuglingsalter:
1) Exzessives Schreien 2) Schlafstörungen
3) Fütterstörungen
Deutliche Abweichungen der dt. Leitlinien von internationalen Entwicklungen, z.B. Zero-to- Three (2005)!
Klassifikationen
Deutsche Leitlinien (von Gontard, Möhler
& Bindt, 2015)
Deckt den Altersbereich 0-5,11 Jahre ab
Differenzierte Empfehlungen für 0-3,11 Jahre und 4,0-5,11 Jahre
12 psychische Störungen des Säuglings- und Kleinkindalters
Berücksichtigt als diagnostische Grundlage ICD-10, DC:0-3 R, teilweise auch RDC-PA
Klassifikationen
Zero to Three (1994, 2005): Diagnostic classification of mental health and developmental disorders of infancy and childhood (DC: 0-3, DC:0-3R)
Klassifikation
Zero to Three (2016): Diagnostic classification of mental health and developmental disorders of infancy and childhood (DC:0-5)
DC: 0-3R (2005)
Multiaxiales Klassifikationssystem:
Achse I: Klinische (psychische) Störung Achse II: Beziehung
Achse III: Medizinische Diagnosen nach ICD-10 und DSM IV
Achse IV: Psychosoziale Stressoren Achse V: Emotionales und soziales
Funktionsniveau
DC: 0-3R (2005)
Achse I: Klinische Störungen
Posttraumatische Belastungsstörung (100) Deprivations-/Misshandlungsstörung (150) Störungen des Affekts (200)
Anpassungsstörung (300)
Regulationsstörungen der sensorischen Verarbeitung (400)
Schlafstörungen (500) Fütterstörungen (600)
DC: 0-3R (2005)
Achse II: Beziehung
Unterscheidung folgender Beziehungsstörungen:
Überinvolviert Unterinvolviert
Ängstlich/angespannt Ärgerlich/ablehnend Verbal misshandelnd
Körperlich misshandelnd Sexuell misshandelnd
Beurteilung von: Qualität des interaktiven Verhaltens, affektiver Ton, psychische Involvierung
Veränderungen in der DC: 0-5 (2016)
Ausdehnung des Altersbereichs auf 5 Jahre Aufnahme weiterer bekannter und neuer Störungsbilder, z.B. ADHS, Inhibition to Novelty Disorder
Altersbegrenzungen und Dauer spezifiziert Impairment als Kriterium einbezogen
…
DC: 0-5 Achse I
Neurodevelopmental Disorders Sensory Processing Disorders Anxiety Disorders
Mood Disorders
Obsessive Compulsive and Related Disorders Sleep, Eating and Crying Disorders
Trauma, Stress and Deprivation Disorders Relationship Disorders
DC: 0-5 Achse II
Relational Context
Bewertet auf einer vierstufigen Skala die Beziehung des Kindes zu
A) den primären Bezugspersonen
B) dem weiteren Umfeld (Geschwister, etc.)
Klassifikationen
In die Leitlinien 2015 ist als empfohlenes Vorgehen aufgenommen:
Klassifikation nach den Achsen der MAS bzw. der MBS der ICD-10
Als Ergänzung Diagnosen der Achsen I und II nach DC: 0-3 R
In Einzelfällen Ergänzung durch RDC-PA
Diagnostik - allgemein
Ziel der Diagnostik: Erfassung von
Art, Schweregrad und Entwicklungsfolgen der kindlichen Verhaltensauffälligkeiten
Funktionseinschränkungen und subjektives Leid für Kind und Familie
Aufbau einer weiterführenden therapeutischen Beziehung mit Eltern
Setting:
Familiensitzungen, Elterngespräche, Kindersitzungen (ab ca. 18 Monaten)
Diagnostik - allgemein
Vorstellungsanlass, akt. Symptomatik
Entwicklungs-/ Eigen- und Familienanamnese
(auch: Anamnese elterlicher Belastungen)
Pädiatrische (entwicklungsneurologische) Untersuchung
Schrei-, Schlaf- und Fütterprotokolle
Verhaltensbeobachtung (auch videogestützt) von z.B. kindlichem Temperament, Eltern-Kind- Interaktion
Standardisierte Verfahren (z.B. Intelligenz- und Entwicklungstests, Fragebögen)
Therapie - allgemein
Entwicklungsberatung
Störungsspezifische Beratung / Therapie, z.T.
videogestützt
Elterntraining (z.B. PEP)
Eltern-Kind-Interaktions-Therapie (z.B. PCIT) Einzelpsychotherapie des Kindes
Assoziierte Therapien, z.B. Ergotherapie u.U. Psychotherapie der Eltern, Paar-/
Familientherapie
u.U. Jugendhilfemaßnahmen
Therapie - allgemein
Allgemeine Therapieziele:
Verbesserung kindlicher Verhaltensprobleme
Verbesserung der Funktionalität und Qualität in der Interaktion
Entlastung und Stärkung der Beziehungsqualität Prävention von Misshandlung und
Vernachlässigung
Prävention von sekundären emotionalen und Verhaltensstörungen
Ausgewählte Störungsbilder im Säuglingsalter (DC 0-3R)
Regulationsstörungen der sensorischen Verarbeitung (400)
Schlafstörungen (500) Fütterstörungen (600)
Regulationsstörungen der sensorischen Verarbeitung (DC: 0-3R: 400)
Anlagebedingte Störung der Antwort auf sensorische Reize
Persistierende, einschränkende Schwierigkeit in der adäquaten Regulation von Emotionen,
Verhalten und Motorik als Antwort auf sensorische Reize
Regulationsstörungen der sensorischen Verarbeitung (DC: 0-3R: 400)
Überempfindlicher Typ (410)
Überschießende Antwort auf Reize wie Berührung, laute Geräusche, helles Licht, ungewohnte
Gerüche und Geschmack, taktil raue Oberflächen oder räumliche Bewegungen
Subtypen:
Typ A: Ängstlich/Vorsichtig (411) Typ B: Negativ/Oppositionell (412
)
Regulationsstörungen der sensorischen Verarbeitung (DC: 0-3R: 400)
Unterempfindlicher/Unterreagierender Typ (420) Ruhig und zurückhaltend
Benötigen eine hohe Intensität an Reizen, um adäquat zu reagieren
Stimulationssuchender/Impulsiver Typ (430) Suchen aktiv ein hohes Maß an sensorischen Reizen
Kann mit ADHD und Störung des Sozialverhaltens assoziiert sein
Regulationsstörungen: Prävalenz
Emde & Wise, 2003: bei 1083 Kindern aus 5
Zentren wurden Regulationsstörungen mit 21%
am häufigsten diagnostiziert
Allerdings sehr große Spanne zwischen 5-43%
Frankel et al., 2004: retrospektive Analyse bei 177 Kindern: 14% Regulationsstörungen
Skoovgard et al., 2007: dänische epidemiologische Studie
7,1% der 18 Monate alten Kinder erfüllen Kriterien der Regulationsstörung
Regulationsstörungen: Ätiologie
Multifaktorielle Erklärung, aber Datenlage zur Ätiologie unzureichend
Konstitutionelle Defizite in Informationsverarbeitung verschiedener sensorischer Modalitäten
Modulation dieser Schwierigkeiten durch Interaktion mit Bezugspersonen
Begleitende physiologische (v.a. kardiale)
Veränderungen, nur an kleinen Gruppen nachgewiesen (Barton & Robins, 2000)
Regulationsstörungen: Diagnostik
Diagnose aufgrund unklarem Konstrukt sehr schwierig
In DC: 0-3R fehlen spezifische Kriterien (Intensität, Häufigkeit etc.)
Anamnese wichtig
v.a. Fähigkeiten des Kindes zur Selbstregulation wichtig
Zurückhaltend in den ersten 6 Lebensmonaten, nur bis Ende 3. Lebensjahr
Regulationsstörungen:
Differenzialdiagnosen
Unterscheidung zwischen ODD/ADHS und Regulationsstörungen schwierig
Auch aufgrund des unklaren Konstruktes der Regulationsstörungen
Frankel et al., 2004:
41% der Kinder, die in DSM-IV die Diagnose ODD erhalten haben, werden in DC: 0-3R als
Regulationsstörungen diagnostiziert
Umgekehrt: 63% der Kinder mit Regulationsstörung erhalten gemäß DSM-IV die Diagnose ADHS/ODD
Regulationsstörungen: Therapie
Beratung der Eltern bzgl. sinnvoller Dosierung der Umwelteinflüsse
Steigerung der Empathie der Eltern für die Kinder Einübung von Grenzsetzung, Struktur und
Konsistenz
Ergotherapeutische Techniken
z.B. vestibuläre Stimulation durch rhythmische Bewegungen
Graduierte Exposition an neue Reize
Regulationsstörungen:
Verlauf und Prognose
Verlaufsstudien von Kindern mit gesicherter
Diagnose Regulationsstörung nach DC: 0-3R bis ins Schul- oder Jugendalter sind noch nicht
vorhanden
Inwiefern Regulationssymptome als
Vorläufersymtome von späterem HKS anzusehen sind, ist umstritten (Barton & Robins, 2000;
Petermann & Koglin, 2008; Becker et al., 2004)
DC:0-5
Sensory Processing Disorders
Sensory Over-Responsivity Disorder Sensory Under-Responsivity Disorder Other Sensory Processing Disorder
Kriterien ggü. DC: 0-3R deutlich verändert
Schlafstörungen (DC: 0-3R: 500)
Schlafstörungen bei jungen Kindern häufig und oft sehr belastend
Viel Forschung zu Schlafstörungen, sehr gute Datenlage, Empfehlungen bzgl. Diagnostik und Therapie auf hohem Evidenzgrad
Schlafstörungen (DC: 0-3R: 500)
Erst ab Alter von 12 Monaten diagnostizierbar, Persistenz von mindestens 4 Wochen
Einschlafstörungen (510)
Verlängerte Einschlafzeit und/ oder
Notwendigkeit der Anwesenheit der Eltern Durchschlafstörungen (520)
Mehrfaches nächtliches Aufwachen
Elterliche Interventionen nötig
und/oder
Weiterschlafen im elterlichen Bett
Schlafstörungen (DC: 0-3R: 500)
Ergänzungen durch RDC-PA-Kriterien:
Einschlafstörungen:
5-7 Episoden/ Woche für mind. 1 Monat Einschlafdauer:
> 30 Minuten (Alter 12-24 Mte)
> 20 Min. (Alter > 24 Mte)
Anwesenheit der Eltern erforderlich bzw.
> 3 Kontakte mit Eltern (Alter 12 – 24 Mte)
> 2 Kontakte mit Eltern (Alter > 24 Mte)
Einschränkungen der Eltern (empirisch nicht gesichert)
Schlafstörungen (DC: 0-3R: 500)
Ergänzungen durch RDC-PA-Kriterien:
Durchschlafstörungen:
5-7 Episoden/ Woche für mind. 1 Monat Wiedereinschlafdauer:
> 30 Minuten (Alter 12-24 Mte)
> 20 Min. (Alter 24 – 36 Mte)
> 10 Min. (Alter > 36 Mte)
Anwesenheit der Eltern erforderlich bzw.
> 3x/ Nacht (ges. > 30 Min) (Alter 12 – 24 Mte)
> 1x/ Nacht (ges. > 20 Min.) (Alter 24 – 36 Mte)
> 1x/ Nacht (ges. > 10 Min.) (Alter > 36 Mte)
Einschränkungen der Eltern
Schlafstörungen: Prävalenz
Geringe Prävalenzangaben in klassischen kinderpsychiatrischen Studien
Hypothese: Schlafstörungen werden oft übersehen
Sadeh et al. (2009)
5006 Eltern von Kleinkindern zwischen 0-36 Monaten füllen standard. Internetfragebogen aus
23% der Eltern: Schlafprobleme = kleines Problem
2% der Eltern: Schlafprobleme = schwerwiegendes Problem
Reid et al. (2009)
3000 2-3j. Kinder: Schlafstörungen sind mit internalisierenden und externalisierenden Verhaltensauffälligkeiten verbunden
Schlafstörungen: Ätiologie
Multifaktoriell bedingt (Mindell et al., 2006) Kindliche Faktoren
- biologische Faktoren
- temperamentsbedingte Faktoren - medizinische Faktoren
Umgebungsvariablen
- Elterliche psychische Störungen - Schwierigkeiten bei Grenzsetzung - Schuldgefühle
- Enge Wohnverhältnisse
Sehr komplexe, sich gegenseitig verstärkende Interaktionsabläufe
Schlafstörungen: Diagnostik
Ausschluss organischer Grunderkrankungen
Anfallsleiden, Obstruktion der Atemwege, Schlafapnoen, neurologische Erkrankungen
Ausschluss anderer Schlafstörungen
Pavor nocturnus
Körperliche Untersuchung
Erfassung komorbider Erkrankungen Fragebogen
Pediatric Sleep Questionnaire (2-18J)
Schlaftagebuch (mind. 2 Wochen)
Schlafstörungen: Therapie
Psychoedukation (z.B. Elternkurse) Positive Schlafroutinen
Kinder müde aber noch wach ins Bett legen, damit sie eigene Einschlaffähigkeiten entwickeln
Unmodifizierte Extinktion
Kinder ins Bett legen und Weinen, Rufen etc. bis zum nächsten Morgen ignorieren
Eltern dürfen Kind aus Sicherheits- und med.
Gründen überwachen, aber nicht intervenieren Hochwirksam, aber sehr belastend für Eltern
Schlafstörungen: Therapie
Graduierte Extinktion (Ferber-Methode)
Ignorieren von Weinen, Wutausbrüchen u.ä. für einen vorher definierten Zeitraum
Kurze Beruhigung des Kindes durch Eltern in regelmäßigen Abständen (15sec-1min)
Kind soll lernen, sich selbst zu beruhigen Hohe Wirksamkeit
Faded bedtime
Kinder werden zu einer späteren Zeit ins Bett gelegt als üblich
Schrittweise Vorverlegung der Schlafenszeit nach vorne (jeweils um 15-30min)
Tagsüber keine Schlafenszeiten (z.B. Mittagsschlaf)
Schlafstörungen: Therapie
Schlafstörungen:
Verlauf und Prognose
Häufige, sehr belastende Störungen Neg. Auswirkungen auf u.a.
kognitive Entwicklung (z.B. Lernen, Gedächtnis, etc) Affektregulierung (z.B. chronische Irritabilität)
Aufmerksamkeit
Verhalten (z.B. Aggressivität, Hyperaktivität) Gesundheit (z.B. Unfälle)
Lebensqualität
Hohe Komorbiditätsraten
Schlafstörungen:
Verlauf und Prognose
Sekundäre Betroffenheit der Eltern (z.B.
mütterliche Depressivität, gestörte Familieninteraktionen)
Fazit:
Unbehandelt Tendenz zu Chronifizierung und Persistenz; Entwicklung komplexer,
differenzierter Schlafstörungen
Schlafstörungen:
DC: 0-5
Sleep Onset Disorder Night Waking Disorder
Partial Arousal Sleep Disorder
Nightmare Disorder of Early Childhood
Fütterstörungen (DC:0-3R: 600)
601: Fütterstörungen mit Beeinträchtigung der homöostatischen Regulation
602: Fütterstörung mit unzureichender Eltern- Säuglings-Reziprozität
603: Infantile Anorexie
604: Sensorische Nahrungsverweigerung
605: Fütterstörung im Zusammenhang mit einer bestehenden medizinischen Erkrankung
606: Posttraumatische Fütterstörung
Fütterstörungen nach DC: 0-3R
(Übersicht nach von Gontard, 2010)
Diagnose Hauptsymptome Beginn Beobachtung Wachstums- defizit
Regulations-
FS Zu abgelenkt, zu
unruhig, zu schläfrig NG Geringe Mutter- Kind-
Reziprozität
Ja
FS der reziproken Interaktion
Wachstumsdefizit, Deprivation,
Vernachlässigung, fehlende elterliche Sorge, Defizite in sozialer Interaktion
Erstes
Lj. Ja
Fütterstörungen nach DC: 0-3R
(Übersicht nach von Gontard, 2010)
Diagnose Hauptsymptome Beginn Beobachtung Wachstums defizit
Frühkindliche
Anorexie Geringer Appetit, oft Nahrungsverwei- gerung, geringe Gewichtszunahme
<3.Lj. Mutter-Kind- Konflikt über die kindliche Nahrungsver- weigerung
Ja
Sensorische Nahrungs- verweigerung
Anhaltende
Nahrungsverwei- gerung bestimmter Nahrungsmittel
Einfüh- rung von Beikost, fester Nahrung
Mutter-Kind- Konflikt wegen selektiver
Nahrungs- verweigerung
Spezifische Ernährungs- defizite
Fütterstörungen nach DC: 0-3R
(Übersicht nach von Gontard, 2010)
Diagnose Hauptsymptome Beginn Beobachtung Wachstums defizit
FS assoziiert m. med.
Erkrankungen
Kind beim Füttern gestresst, keine ausreichende
Nahrungsaufnahme
Jedes
Alter Beginnt zu essen, aber zunehmender Stress beim Füttern
Ja
FS assoziiert mit Insulten d. gastro- intestinalen Traktes
Anhaltende
Verweigerung von Flaschen, fester oder jeder Nahrung
Jedes
Alter Kind schon
beim Hinsetzen zu Essen oder beim Anbieten von Nahrung gestresst
Abhängig von der Dauer
Fütterstörungen: Prävalenz
Wright, 2007
20 % (N=89) von 455 Kindern (Alter 2½ Jahre) hatten nach Elternangaben eine Essprobleme:
49 % aßen eingeschränkte Zahl von Nahrungsmitteln 39 % bevorzugten Getränke gegenüber fester
Nahrung
4% tranken nur Flüssigkeiten 23 % aßen zu langsam
18 % waren nicht an Essen interessiert
Fütterstörungen: Prävalenz
Wright, 2007
Elterliche Strategien:
85 % boten neue Nahrungsmittel an
67 % ließen Fernsehen oder Video beim Essen laufen 74 % spielten Spiele mit ihren Kindern
Strafende Maßnahmen:
55 % gaben ihren Kindern keinen Nachtisch 28 % nahmen das Essen weg
19 % zwangen ihre Kinder zum Essen 12 % drohten
3 % schlugen ihre Kinder
Fütterstörungen: Prävalenz
McDermott, 2008
Prospektive Langzeitstudie von 5122 Kindern:
Prävalenz: Essstörungen im Alter von 2-4 Jahren:
20,2 % aßen manchmal und 7,6 % oft unregelmäßig Persistenz:
48 % der 6 Monate alten Kinder mit Fütterstörungen hatten im Alter von 2-4 Jahren eine Essstörung
Risikofaktoren:
Kind: körperliche Erkrankungen, Schläfrigkeit und ängstlich- depressive Symptome
Mütter: körperliche Erkrankungen, Depression und Angst
Fütterstörungen: Diagnostik
Ernährungs- und Gewichtsanamnese
Pädiatrische (entwicklungsneurologische) Untersuchung
Ernährungsprotokoll
Videogestützte Verhaltensbeobachtung und Analyse der Fütterinteraktion
Interaktionsbeobachtung in weiteren
altersrelevanten Kontexten (Spielsituationen) Anamnese elterlicher Belastungen und
Bedeutungszuschreibungen
Fütterstörungen: Diagnostik
Feeding Scale
1) Wechselseitigkeit
2) Konflikthafte Interaktion
3) Sprechen und Ablenkung während des Fütterns
4) Kontroll-Konflikte
5) Fehlende mütterliche Kontingenz
Fütterstörungen: Ätiologie
Regulations-Fütterstörung (601.) Homöostase, Vigilanz Fütterstörung der reziproken
Interaktion (602.) Interaktion, psychische Störung der Eltern
Frühkindliche Anorexie (603.) Hyperarousal
Sensorische Nahrungsverweigerung
(604.) Sensorische Störung
Fütterstörung assoziiert mit
medizinischen Erkrankungen (605.) Medizinische Grunderkrankung Fütterstörung assoziiert mit Insulten
des gastrointestinalen Traktes (606.) Konditionierter Reflex
Fütterstörung: Behandlung
Allgemeine Therapie:
• Ernährungsberatung
• Psychoedukation
• Pädiatrische Mitbehandlung
• Logopädische Behandlung
• Bei Bedarf kontrollierte Hungerversuche mit Nahrungseinschränkung
Fütterstörung: Behandlung
Allgemeine Essensregeln (unvollständig) Feste Mahlzeiten, nur geplante
Zwischenmahlzeiten
Max. 30 min. pro Mahlzeit Kein Essen unter Zwang
Kein Spielen während der Mahlzeiten
Essen nie als Belohnung oder Geschenk
Beendigung der Mahlzeit, wenn das Kind Essen in Wut umherschmeißt
Fütterstörungen:
spezifische Behandlung
Regulations-FS (601.) Regulation d. Stimulationsausmaß während des Essens, Erhöhung elterl. Feinfühligkeit FS der reziproken Interaktion
(602.) Bezugspflege mit Körperkontakt, Füttern,
Spielen, Eltern-Kind-Therapie, ggf. JH
Frühkindliche Anorexie (603.) Psychoedukation zum Kindstemperament, Struktur, Grenzsetzung, Erlernen von
Hunger- und Sättigungsgefühl Sens. Nahrungsverweigerung
(604.) Nahrungsergänzung bei Bedarf,
Modelllernen, Desensibilisierung FS assoziiert m. med.
Erkrankungen (605.) Behandlung d. Med. Grunderkrankung, Modifikation von Abläufen, ggf. Sonde FS assoziiert m. Insulten d.
gastrointestinalen Traktes (606.) Ggf. Sonde, Sondenentwöhnung, Desensibilisierung
Fütterstörungen:
Verlauf und Prognose
Tendenz zur Persistenz und Chronifizierung
Systematische Nachuntersuchungen für die sechs Subtypen (DC:0-3R) liegen nicht vor
Gute Prognose: Fütterstörung assoziiert mit Insulten des Gastrointestinaltraktes
Ungünstige Prognose: Frühkindliche Anorexie
DC: 0-5
Overeating Disorder Undereating Disorder Atypical Eating Disorder
Literatur
Bolten, M., Möhler, E. & von Gontard, A. (2013). Psychische Störungen im Säuglings- und Kleinkindalter. Exzessives Schreien, Schlaf- und
Fütterstörungen. Göttingen: Hogrefe.
Dt. Ges. f. Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie u.a.
(Hrsg.) (2007). Leitlinien zur Diagnostik und Therapie von psychischen Störungen im Säuglings-, Kindes- und Jugendalter, 3. überarbeitete Auflage. Deutscher Ärzte Verlag.
Steinhausen, H.-C. (2006). Psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen. Lehrbuch der Kinder- und Jugendpsychiatrie und – psychotherapie. München: Elsevier U&S.
Von Gontard, A. (2010). Säuglings- und Kleinkindpsychiatrie. Ein Lehrbuch. Stuttgart: Kohlhammer.
Literatur
Von Gontard, A., Möhler, E. & Bindt, C. (Hrsg.) (2015). Leitlinien zu psychischen Störungen im Säuglings-, Kleinkind- und
Vorschulalter. AWMF online.
Zero to three (2005). Diagnostic classification of mental health and developmental disorders of infancy and childhood: Revised edition (DC: 0-3R). Washington, D.C.: ZERO TO THREE Press.
Zero to three (2016). DC: 0-5. Diagnostic classification of
mental health and developmental disorders of infancy and early childhood. Washington, D.C.: Author.