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Archiv "Was vom Leben bleibt: Skizze einer Depression" (04.04.1991)

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Academic year: 2022

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

W

as vom Leben bleibt:

„Jetzt, da ich tot bin."

Er lächelt dabei, er meint es ernst. Eine Creole im linken Ohrläppchen, eine Spur zu groß, mehr fällt nicht auf, selbst auf den zweiten Blick. Er spricht viel, redet schnell, beugt sich dabei nach vorne, beginnt, seinen Stuhl zu reiten. Ein An- walt der eigenen Schwäche, Gewalt, die er gegen sich kehrt, zielsicher, erbarmungslos. Er polemisiert, duldet keinen Wi- derspruch, erwartet unbedingte Zustimmung. Einer, der sich Eine Chance gegeben hat. Die- se Einzige, und Keine andere, Keine weitere. Allmächtig das Gefühl des „Ichda", im Rück- blick hat er allein daraufhin ge- lebt, nichts Anderes gilt. Seine Stimme hebt sich, wenn er dar- auf zu sprechen kommt, wird scharf, wird schrill, er beginnt, sich zu verhaspeln, die Zunge klebt am Gaumen, pelzig-trok- ken, nicht nur von den Medika- menten. Ein junger Mann, An- fang zwanzig, am Ende seiner Vorstellungskraft.

Leben in seiner einzig mög- lichen Form, als schrankenlose Gegenwart, stets da zu sein, al- lein geleitet vom Instinkt, Akti- on und Reaktion fallen zusam- men, werden eins: ein festste- hendes Bild in seinem Kopf, jetzt ein verlorenes Paradies.

Andere beschreiben seine Ent- wicklung, die Eltern, vor allem die Mutter. Still, eher verhal- ten, fast schüchtern das Kind, eines, das sich einordnet. „Un- auffällig", kein Wort, das er in den Mund nimmt. Kindergar- ten, Grund- und Hauptschule, eine kaufmännische Lehre.

Der Junge von nebenan, einer von vielen. Auf dem Klassen- photo der dritte von rechts, in der mittleren Reihe, die Positi- on ist austauschbar. Er selbst erlebt sich im Wartestand, hofft auf Verwandlung, „daß es passiert", eines Tages, von ei- ner Minute zur anderen, noch verpuppt im Kokon der Alltäg- lichkeit.

Das Weichbild seines Le- bens: eine Stadtrandsiedlung, altes und neues Dorf einge- meindet, kurz nach dem Krieg, das Umland noch bäuerlich. Ihr Tagesgang ist typisch, .von da aus verwechselbar. .von ches Leben, die Hauptstraße entlang geregelt: die Schule, das Kino, die Mehrzweckhalle,

die Kirche, das Bürgerzentrum, die Pizzeria. Für Varianten, Ausnahmen kein Platz. Nie- mand, dem etwas auffällt. Kein Gedanke an Ausbruch, noch der Samstagabend ein einge- fahrenes Ritual. Später werden sie sagen, er habe sich zuviel zugemutet, habe sich überfor- dert, sei den Belastungen sei- ner Arbeit nicht mehr gewach- sen gewesen.

Einer macht sich ein Bild von sich, paßt sich dem Rah- men ein, nichts darf da überste- hen, jetzt und für immer. Er be- ginnt mit sich, bleibt in sich ver- schlossen. Die Erinnerung an einen Trickfilm, sein erster Ki- nobesuch, zusammen mit sei- nen Eltern: Schauübungen,

Szene um Szene, alles ist mög- lich — niemand stirbt wirklich, Leben in Lichtgeschwindigkeit, bis in den Abspann hinein vor- gezeichnet, sein Auge läßt sich betrügen. Später, allein im Ki- no, nachmittags, die Reihen fast leer, findet er diese Sicher- heit wieder: Humanoide, halb Roboter, halb Mensch, sieg- reich bis zum Endkampf, die automatisch handeln, aus sich heraus, im Augenblick, ohne Zweifel. Die Leinwand als Spiegel seines Ichs: Wesen, die dadurch herrschen, daß sie funktionieren. Die Macht der vollständigen Berechenbarkeit, er spürt sie in sich, ist sich ihrer gewiß.

Selbsterfahrung, nicht als Übung, als Arbeit, allmählicher Erwerb neuer Fähigkeiten:

Vielmehr ist Alles in ihm ange- legt, es kommt allein darauf an, sich zur Ganzheit auszufor- schen. Im Fitness-Studio, auf den Bänken, in den Kraftma- schinen, im Hanteltraining spürt er jedem Muskel, jeder Sehne nach. Kein Gramm Fett, nichts Überflüssiges. Alles muß in Handeln umsetzbar sein, so- fort, ohne zu zögern. Stationen des Alltags, an denen er sich täglich mißt, prüft, kontrolliert:

im Auto weiß er um die Posi- tion des Schaltknüppels, die Stellung des Lenkrades, die Neigung der Tachometernadel, ohne hinsehen, ohne sich ver-

gewissem zu müssen, Sicher- heit, die unter die Haut geht.

Mehr noch, er spürt die Ge- schwindigkeit am eigenen Leib, übersetzt das Vibrieren der Ka- rosserie in eigene Geschwin- digkeit, erlebt die Beschleuni- gung des Motors als eigene Kraft, das Kurvenverhalten des Wagens als inneres Gleichge- wicht.

Noch die Umwelt wird ihm zum Maschinenraum, in den er sich einfügt, mit den Menschen durch Hebel und Widerlager verbunden und zugleich vor ih- nen geschützt. Er weiß von den Anderen, das genügt. Verboten der Weg zur Seite, Nebenpfade gestattet er sich nicht. Ein kur- zer, alles klärender Blick muß

genügen. Auf der Tanzfläche, in den Diskotheken steht er allein, aufgenommen in den Rhythmus der Synthesizer, er schwingt mit dem Licht der Stroboskope im Takt. Nichts darf verunsichern, er gestattet sich kein Bedenken. Nur die Gewißheit über sich gilt, Bezie- hungen zu Anderen gestaltet er nach Algorithmen: Menschen,

„die Anderen", werden bere- chenbar, lassen sich als Stör- quellen identifizieren, digitali- siert über Aufnahme oder Ab- bruch eines Kontaktes, abspei- cherbar, beliebig abrufbar und damit beruhigend.

Konsequent der letzte Schritt, den er setzt, äußerer Vollzug dessen, was er von je- her in sich erlebt. Von Schule, Lehre, Freunden unberührt, wechselt er in ein Computerla- bor, letztgültig Teil der Maschi- ne zu sein, die sich genügt, auf immer und ewig, er will endlich Verschmelzung. Fast spürt er Freude, etwas wie Genugtu- ung, übergeht dieses befrem- dende Gefühl. Meldet sich für die Nachtschicht, will ungestört sein, allein mit Seinesgleichen.

Horcht in die Maschinen hin- ein, verlängerte Glieder seines Körpers, Leben in Animation, ihre Tastatur sein ureigenes Sensorium. Doch sein Kopf sperrt sich, ein erstes — dieses Eine Mal, läßt sich nicht auf die Programme ein, verweigert

das Verständnis. Schlagartig trifft ihn diese Erkenntnis, fin- det ihn wehrlos: kein Zugriff auf Hilfsdateien, nur der erste Versuch zählt, jeder weite- re ein Eingeständnis eigener Schwäche, Unzulänglichkeit.

Er resigniert, konsequent kampflos, ein Systemabsturz, von keinem Speicher abzufan- gen. Die Anderen, sein Thera- peut werden es später eine De- pression nennen, werden die Entwicklung dorthin definie- ren, in die Verzweiflung, nie besessen zu haben. Anderes ist für ihn nicht denkbar, nichts geht verloren.

Kränkend alltäglich der weitere Weg, etwas, das außer- halb seiner selbst abläuft, ab- gleitet an ihm, kurz zu be- schreiben, ein klassischer Be- fund. Er läßt seine Wohnung verkommen, verweigert die Nahrung, wechselt die Klei- dung nicht mehr, zieht sich zu- rück ins Bett. Keiner, der ihn versteht, und nichts, das trägt:

Eltern, Angehörige, der Haus- arzt reden ihm zu, niemand, der den Untergang seiner In- nenwelt registriert, eine abge- blendete Vision. Mehrere The- rapieversuche, erst ambulant, später stationär, Medikamente, Einzel- und Gruppengesprä- che, gestufte Arbeitstherapie, schließlich gelingt der äußere Schein. Er beginnt, von neuem, ganz anders zu funktionieren, ein Glied der Gesellschaft, nützlich genug, um existieren zu können. Einer von vielen, ei- ner wie jeder Andere, nichts hat sich geändert von außen, von innen Alles.

Was vom Leben bleibt:

„Jetzt, da ich tot bin." Er lä- chelt dabei, er meint es ernst.

Eine Creole im linken Ohr- läppchen, eine Spur zu groß, mehr fällt nicht auf, selbst auf den zweiten Blick. Er spricht viel, redet schnell, beugt sich dabei nach vorne, beginnt, sei- nen Stuhl zu reiten. Ein Anwalt der eigenen Schwäche, Gewalt, die er gegen sich kehrt, zielsi- cher, erbarmungslos. Einer, der sich Eine Chance gegeben hat.

Diese Einzige, und Keine an- dere. Ein junger Mann, Anfang zwanzig, am Ende seiner Vor- stellungskraft.

Anschrift des Verfassers:

Dr. med. Wolfgang Schreiber Sperberstraße 1

W-8031 Eichenau

Was vom Leben bleibt

Skizze einer Depression

Dt. Ärztebl. 88, Heft 14, 4. April 1991 (75) A-1191

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