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Archiv "Sexualstraftäter und Maßregelvollzug: „Bei der Prognose läuft viel schief“" (25.01.2002)

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ie küssen und sie schlagen ihn – die Medien den Sexualstraftäter. Sie küssen ihn, weil er einen brisanten Stoff fokussiert, der auf breites Interesse stößt. Sie schlagen ihn, weil er sich wie kein anderer zum Sündenbock eignet.

Der Journalist Werner Krebber unter- suchte das Verhältnis der Medien zu psy- chisch kranken Rechtsbrechern und plä- diert vor allem für eine Versachlichung der Diskussion um Sexualstraftäter (1).

Seiner Ansicht nach unterschätzen be- sonders die elektronischen Medien und die Boulevardpresse die Wechselwir- kung zwischen ihrer Darstellung und der Einstellung der Bevölkerung. Im Geran- gel um die Quote werde der Straftäter – platt vereinfacht – als das „personifizier- te Böse“ dargestellt, der staatliche Dienstleistungen in Anspruch nimmt, die ihm nicht zustehen. Dementspre- chend sei die Sicherheit der Bevölke- rung in den letzten Jahren stärker in den Vordergrund gerückt, die therapeuti- sche Hilfe für den Täter dagegen zurück- gegangen, erklärte Krebber beim Deut- schen Psychologentag, dem Berufsver- band Deutscher Psychologinnen und Psychologen e.V. (BDP), Bonn.

Die sensationslüsterne Berichter- stattung der Medien verhindere Ratio- nalität. Doch die Politik, die unmittel- bar auf die Medien reagiere, mache die Sache nicht besser. Allzu gern geben Politiker populistischem Druck nach, jüngstes Beispiel war die Forderung von Bundeskanzler Gerhard Schröder in der „Bild am Sonntag“, Sexualstraf- täter „für immer wegzuschließen“.

Für die oft unter Zeitdruck arbeiten- den Journalisten sei es nicht leicht, die komplexen Zusammenhänge verständ- lich darzustellen, räumte Krebber ein, vor allem wenn es um die Motive des Täters geht: „Wie vermitteln Journali- sten das, was selbst für Fachleute oft un- benennbar ist?“ Sinnvoll wäre, wenn die psychiatrische Fachwelt Journali-

sten zum Beispiel Weiterbildungsange- bote unterbreiten würde, um die kom- plizierte Thematik transparenter zu machen. Die Journalisten hingegen sollten ihr Interesse auch auf die Miss- stände im Maßregelvollzug lenken:

überfüllte forensische Kliniken und zu wenig Gutachter, deren Qualifikation zudem oft verbesserungswürdig er- scheint. „Bei einem Gerichtsprozess konzentriert sich das Medieninteresse nur auf die Person des Gutachters und bei einem Rückfall auf die ‚falsche‘

Prognose“, kritisiert Krebber.

100-prozentige Prognose- Sicherheit gibt es nicht

„Prognosen können keine hundertpro- zentige Sicherheit geben“, sagte Lutz Gretenkord, Leitender Psychologe an der Klinik für forensische Psychiatrie Haina. Doch könnte das Prognosever- fahren in kleinen Schritten verbessert werden. Wesentliches Kriterium für ein psychiatrisches Gutachten ist die Fra- ge, ob weitere Straftaten zu erwarten sind. Gretenkord schlägt vor, Progno- sen mehr als bisher auf empirische Un- tersuchungsergebnisse zu stützen. Al- lerdings gebe es nur wenige solcher Rückfälligkeitsuntersuchungen. Eine der wenigen erstellte er selbst:

In einer Follow-up-Studie unter- suchte Gretenkord die Rückfälligkeit von 188 Straftätern (eingewiesen nach

§ 63 StGB), die zwischen 1977 und 1985 aus der Klinik für forensische Psychia- trie Haina entlassen wurden (2). Bei den Untersuchten überwogen begange- ne Gewaltdelikte.

Ergebnisse: 107 der 188 ehemaligen Patienten (57 Prozent) hatten nach ih- rer Entlassung keinen Eintrag im Bun- deszentralregister; 81 Einträge lagen wegen Bagatelldelikten oder Verstößen gegen Bewährungsauflagen vor. 56 Pa-

tienten (29 Prozent) kamen erneut in Freiheitsentzug; davon begingen 22 wiederholt ein Gewaltdelikt und drei ein Sexualdelikt ohne Gewalt.

Gretenkord zog die 22 mit Gewalt- tätigkeitsdelikten rückfällig geworde- nen Männer heran, um Variablen für die Prognose zu ermitteln. Danach wer- den Patienten eher rückfällig,

❃die eine Heimunterbringung hinter sich haben,

❃die an einer Persönlichkeitsstörung leiden,

❃die mit einem Gewaltdelikt vorbe- lastet waren,

❃die während der Unterbringung im Maßregelvollzug mindestens zweimal gewalttätig waren.

Je älter der Entlassene ist, desto ge- ringer ist das Rückfallrisiko. Falsche Prognosen können leicht entstehen, wenn der Gutachter

❃sich ausschließlich auf diese Varia- blen verlässt,

❃die Prozentangaben der Rückfall- wahrscheinlichkeitstabellen überbewer- tet,

❃ auf die „klinische Prognose“, das heißt die gründliche Analyse des Ein- zelfalls, verzichtet,

❃ den gesunden Menschenverstand ausschaltet.

Gretenkord plädiert dafür, bei jedem nach § 63 StGB Untergebrachten jähr- lich zu entscheiden, ob er entlassen wer- den kann. Wichtig sei auch eine ambu- lante forensische Nachbetreuung, die die Rückfallwahrscheinlichkeit senkt.

Generell kritisiert er die Neigung einiger psychiatrischer Gutachter, bei einem Prozess die Rolle des Richters einzuneh- men: „Das ist ein unhaltbarer Zustand.“

„Sexualstraftäter werden so gut wie nicht mehr entlassen – 36 Prozent ver- bringen mehr als elf Jahre im Maßregel- vollzug“, kritisierte Dr. phil. Sabine No- wara, psychologische Gutachterin, Su- pervisorin und Lehrtherapeutin. In ei- P O L I T I K

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A162 Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 99½½½½Heft 4½½½½25. Januar 2002

Sexualstraftäter und Maßregelvollzug

„Bei der Prognose läuft viel schief“

Die Probleme der Kriminalprognose und das Verhältnis der Medien zu

Sexualstraftätern waren Themen auf dem Deutschen Psychologentag in Bonn.

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nem bundesweiten groß angelegten Forschungsprojekt untersuchte die neue Vorsitzende der Sektion Rechts- psychologie des BDP Rückfalldelin- quenz, Vorbelastung und Entwicklung von Sexualstraftätern, die 1987 mit Maßregelanordnung (§§ 63, 64 StGB) verurteilt worden waren (3). Es zeigte sich, dass die zur Unterbringung in einer Entziehungsanstalt Verurteilten (§ 64 StGB), bei denen ein Alkohol- oder Drogenproblem im Vordergrund stand, besser behandelbar sind: Bei die- sen Patienten betrug die Rückfalldelin- quenz 15 Prozent. Dagegen begingen diejenigen, bei denen eine Maßregel in einer psychiatrischen Klinik angeord- net war (§ 63 StGB), in 40 Prozent der Fälle ein einschlägiges Rückfalldelikt.

Wurde bei den nach § 63 Verurteilten die Strafe direkt zur Bewährung ausge- setzt, lag die Rückfallquote bei 25 Pro- zent. Nowara wies darauf hin, dass bei den meisten Tätern „das klassische Bild von schief gelaufener Sozialisation“:

Misshandlungen in der Kindheit, Heim- aufenthalte und Sonderschule, vorlag.

Dabei stellten Sexualstraftäter keines- wegs eine homogene Gruppe dar, denn viele verübten auch sonstige Straftaten.

Nowara bemängelte, dass bei den Be- gutachtungen „sehr viel schief läuft“.

Kommt es zu einschlägigen Rückfallde- likten, werden diese recht schnell nach der Entlassung verübt, habe die Studie gezeigt. Dies weise darauf hin, dass wichtige prognostische Aspekte bei der Entlassungsentscheidung außer Acht gelassen wurden, oder auch, dass die Nachsorge mangelhaft war. Nowara for- dert daher eine differenziertere Entlas- sungsprognostik, gegebenenfalls müsse ein externer Sachverständiger hinzuge- zogen werden. Notwendig sei auch eine bessere Aus- und Weiterbildung der im Maßregelvollzug Tätigen sowie bei je- dem Entlassenen eine qualifizierte am- bulante Nachsorge. Petra Bühring

Literatur

1. Krebber W: Sexualstraftäter im Zerrbild der Öffentlich- keit. Fakten – Hintergründe – Klarstellungen. Konkret Literatur Verlag, 1999.

2. Gretenkord L: Empirisch fundierte Prognosestellung im Maßregelvollzug nach § 63 StGB – EFP-63. Bonn:

Deutscher Psychologen Verlag.

3. Nowara S: Sexualstraftäter und Maßregelvollzug. Ei- ne empirische Untersuchung zu Legalbewährung und kriminellen Karrieren. Wiesbaden: KUP – Schriftenrei- he der Kriminologischen Zentralstelle e.V.

P O L I T I K

Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 99½½½½Heft 4½½½½25. Januar 2002 AA163

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ür Prof. Peter Scriba, Mitglied im Sachverständigenrat für die Konzer- tierte Aktion im Gesundheitswesen, ist der Fall klar: Entweder gelingt es der Selbstverwaltung, geeignete Strukturen zur Überprüfung der ärztlichen Fortbil- dung zu schaffen, oder die Politik – ver- anlasst durch die Beitragszahler und die Krankenkassen – wird ein entsprechen- des Verfahren zwingend vorschreiben.

Bei einer vom Bundesministerium für Forschung und Technik geförderten Ta- gung in Bonn zu Fragen der Fort- und Weiterbildung in der Medizin äußerte er sich skeptisch, was die Umsetzung der durch die Berufsordnung vorgegebenen Verpflichtung der Ärzte zur kontinuier- lichen Fortbildung anbelangt. Die be- stehenden Fortbildungsangebote für Ärzte seien sowohl quantitativ als auch qualitativ verbesserungsbedürftig. In vielen Bereichen der medizinischen Versorgung sei „die Performance der Ärzte“ nicht ausreichend.

Dagegen verwies der Leiter der Nordrheinischen Akademie für ärztli- che Fort- und Weiterbildung, Prof.

Reinhard Griebenow, auf das in Deutschland bereits bestehende flächen- deckende Fortbildungsangebot, das von den Ärzten auch wahrgenommen wer- de. Hier müsse allerdings in Zukunft verstärkt auf die Anbieter eingewirkt werden, maßgerechte Fortbildungen zu präsentieren. Eine Rezertifizierung der Ärzte in Form einer Prüfung lehnt Griebenow ab.

Erfahrungen im Ausland

Für die Diskussion hierzulande über Art und Weise einer Überprüfung des ärztlichen Wissensstands können Er- fahrungen hilfreich sein, die im Aus- land gesammelt wurden. In Kanada hat man vor einigen Jahren ein System

zur kontinuierlichen Überprüfung der ärztlichen Berufsausübung installiert (Monitoring and Enhancement of Phy- sician Performance = MEPP). In die- sem gemeinsam mit den ärztlichen Be- rufsverbänden entwickelten Verfahren erfolgt im Abstand von etwa fünf Jah- ren ein Screening eines jeden Arztes.

In einem ersten Schritt werden dabei die verfügbaren Daten der Kranken- kassen sowie Fragebögen an Kollegen, Patienten, Mitarbeiter und den jeweili- gen Arzt ausgewertet. Aufgrund des erhobenen Befunds kommen rund zehn Prozent aller Ärzte in ein Peer- Assessment-Verfahren, bei dem sich erfahrene Ärzte eingehender mit der Berufsausübung der betroffenen Kol- legen auseinander setzen. Wird hier Handlungsbedarf gesehen, stehen für eine intensive individuelle Fortbildung landesweit fünf Schulungszentren zur Verfügung. Ziel sei es, die betroffenen Ärzte für eine weitere Berufsausübung fit zu machen, betonte Dr. Gary G.

Johnson, Direktor der Federation of Medical Licensing Authorities of Canada. Für dieses Verfahren, das

„privilege of self-regulation“, zahlt je- der kanadische Arzt jährlich 800 Dollar.

In Belgien hat man einen anderen Weg gewählt, die niedergelassenen Ärzte zur kontinuierlichen Fortbil- dung zu motivieren. Entschieden hat- ten die belgischen Ärzte Pläne der Re- gierung, Zwangsfortbildung und eine Rezertifizierung im Abstand von fünf Jahren einzuführen, abgelehnt. Statt- dessen setzte man auf finanzielle An- reize für diejenigen Kassenärzte, die regelmäßig an Fortbildungsveranstal- tungen teilnehmen und sich einem Peer-Review-Verfahren, so etwa der Überprüfung der eigenen Verschrei- bungspraxis durch Kollegen, unter-

ziehen. Thomas Gerst

Fortbildung

Weiter in der Diskussion

Für eine Überprüfung des jeweiligen Standpunkts

können Erfahrungen in anderen Ländern hilfreich sein.

Referenzen

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