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as Religionsrecht des Islam, die Scharia, erlegt dem gläubigen Mus- lim als Pflicht auf, während des ge- samten Monats Ramadan von Sonnen- aufgang bis Sonnenuntergang keine Nahrung zu sich zu nehmen, nicht zu trinken und sich sonstiger Genüsse, wie beispielsweise Geschlechtsverkehr, zu enthalten. Diese sehr rigide Form des Fa- stens hat häufig Auswirkungen auf die Gesundheit des Fastenden, besonders im Arbeitsalltag, die nicht zu unterschätzen sind. Untersuchungen zei-gen, dass Muslime bei schwerer körperlicher Ar- beit und Einhaltung des Fastengebots – insbeson- dere wenn der Fastenmo- nat in die heiße Jahreszeit fällt – einer erheblichen Gesundheitsgefährdung ausgesetzt sind. Im Krank- heitsfalle stehen pragmati- sche Lösungen, bei denen der Erhalt der Gesundheit über religiöse Gebote ge- stellt wird, nicht unbedingt im Widerspruch zu den
Vorschriften des Islam. In den meisten islamischen Vereinen und Organisatio- nen in Deutschland fehlen jedoch ausrei- chende Kenntnisse über die Möglichkei- ten der Umgehung dieser religiösen Pflicht, wie sie im islamischen Recht vor- handen sind. Völlig unbekannt ist in der Regel ein Gebot, das in Widerspruch zum Fastengebot geraten kann: das schariatrechtliche Gebot, für die Auf- rechterhaltung der Gesundheit und die körperliche Unversehrtheit zu sorgen (arabisch: hurma = Schutz der körperli- chen Unversehrtheit).
Das Fastengebot gilt bei der Mehr- heit der islamischen Rechtsgelehrten als unumstößliche Pflicht für den voll-
jährigen, geistig gesunden Muslim, der das Fasten körperlich bedenkenlos er- tragen kann. Ausnahmeregelungen sind erlaubt für Reisende, Kranke, Schwan- gere, Stillende und Menstruierende (Koran 2, 183–185) sowie alte Leute.
Diese Ausnahmen werden begründet mit der Möglichkeit der für diesen Per- sonenkreis entstehenden körperlichen Schädigungen durch das Fasten.
Allerdings gibt es Gläubige, die ihr Seelenheil nicht nur einem irdischen
Gesundheitsschutz opfern wollen, son- dern Höheres anstreben: Sie holen dies- bezüglich ein Rechtsgutachten (fatwa) bei einem Gelehrten ein, um sich über die Möglichkeiten des Nachholens und Fragen der Ersatzleistungen für ein aus gesundheitlichen oder medizinischen Gründen unterbrochenes Fasten zu er- kundigen. Als Faustregel gilt für das is- lamische Fasten, dass eine Krankheit dann als Ausnahmetatbestand und der Erkrankte als nicht verpflichtet oder als entschuldigt angesehen werden kann, wenn sich durch das Fasten die Krank- heit zu verschlimmern oder die Heilung zu verzögern droht. Im reflektierten Is- lam ist es geboten, das Fasten zu bre-
chen, wenn gesundheitliche Schäden zu erwarten sind.
Bei Notmaßnahmen gilt im islami- schen Recht der Grundsatz der Verhält- nismäßigkeit, da in Zweifelsfällen die muslimischen Religionsgelehrten auf die im Grunde alleinige – weil in ihrer Kompetenz anerkannte – Zuständig- keit des Facharztes verweisen. Hier soll- te sich kein Arzt von eventueller reli- giöser Empfindsamkeit eines Patienten beeindrucken lassen, da von muslimi- schen Rechtsgelehrten durchaus auch die Auskunft nichtmuslimischer Ärzte akzeptiert wird, zumal in nichtislami- schen Ländern wie Deutschland. Es ist völlig ausreichend, wenn die mögliche Schädlichkeit des Fastens medizinisch vorausgesagt wird; sie muss nicht be- wiesen werden. Des Weiteren erhält hier das islamische Rechtsgut der „hur- ma“ einen Stellenwert, der schwerer wiegt und höher bewertet wird als die religionsrechtlich vorgeschriebene Fa- stenpraxis im Monat Ramadan.
Es ist genau dieses Gebot der „hur- ma“, das im Krankheitsfall Ärzten und Pflegepersonal die Handhabe dazu gibt, für die Gesundung des fastenden Patienten notwendige Injektionen zu geben und Medikamente zu verabrei- chen. Die Argumentation islamischer Rechtsgelehrter, auf die sich Ärzte be- rufen können, lautet hier: „Die Haut- und Aderinjektionen hinterlassen ihre Spur in den Adern, dringen aber nicht in den Ort des Essens und Trinkens ein, sind also nicht fastenbrechend.“ Es wird auch argumentiert, dass beispiels- weise Glukosespritzen – also Nährin- jektionen – keinen fastenbrechenden- den Charakter hätten, da sie die eigent- liche Fastenbedeutung, nämlich die
„wirkliche Absage an die Gelüste“, nicht zerstören. Grundsätzlich können Ärzte gegenüber fastenden muslimi- schen Patienten mit folgendem Argu- ment einiges bewirken: Das Fasten kann verschoben werden, die Krank- heit leider nicht. Krankheit gilt im Is- lam als Ausnahmetatbestand von der Fastenpflicht; um einen unsicheren muslimischen Patienten zu überzeugen und die Heilbehandlung nicht zu ge- fährden, kann der Arzt auf Koran 2, 185 verweisen, wo die Kranken ausdrück- lich vom Fastengebot ausgenommen werden. Assia Maria Harwazinski T H E M E N D E R Z E I T
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A3242 Deutsches ÄrzteblattJg. 99Heft 4829. November 2002
Fasten im Islam
Gebot körperlicher Unversehrtheit
Ausnahmen vom Fastengebot im Ramadan sind zulässig, wenn sie zur Aufrechterhaltung der Gesundheit erforderlich sind.
Das Fastengebot im Ramadan ist nicht verpflichtend, wenn ge- sundheitliche Schäden zu befürchten sind. Foto: epd