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Archiv "83. Deutscher Ärztetag: Starke Mehrheit trägt das Grundsatz-Programm für die 80er Jahre" (29.05.1980)

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Weiterentwicktun der gesundhefte, sozialpolitische der Deutschen

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schen Ärzteschaft"

1

Schwerpunkte der Diskussion:

Selbstbeteiligung III Hausarzt und

Allgemeinmedizin

Ärztliche Kooperation III Demokratische

Grundwerte

Redaktion:

Haedenkampstraße 5

Postfach 41 02 47, 5000 Köln 41 Telefon: (02 21) 40 04-1

Fernschreiber: 8 882 308 daeb d Verlag und Anzeigenabteilung:

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DEUTSCHE S ÄRZTEBLATT

Ärztliche Mitteilungen

Herausgeber: Bundesärztekammer und Kassenärztliche Bundesvereinigung

83. Deutscher Ärztetag

Starke Mehrheit trägt

das Grundsatz-Programm für die 80er Jahre

Die Selbstbeteiligung der Versicherten an den Krankheitskosten war keineswegs das einzige Thema des 83. Deutschen Ärztetages, wohl aber das mit der größten öffentlichen Wirkung. Beherrschender für die Beratungen des Ärztetages waren Versuche der Allgemeinärzte, die Ärztetagsmehrheit von ihren Auffassungen über die Weiterbil- dung und über die Funktion des Hausarztes zu überzeugen oder, wenn nicht, die Positionen bis zum nächsten Deutschen Ärztetag, im Mai 1981 in Trier, offenzuhalten.

In diesem Punkt waren sich auch der Berufsverband der praktischen Ärzte und Ärzte für Allgemeinmedizin (der wohl bald seine Firmie- rung ändern muß, nachdem der Ärztetag den „praktischen Arzt"

zum Aussterben bestimmt hat) und der Marburger Bund, allerdings aus höchst unterschiedlichen Gründen, einig. Noch kurz vor Ende des Ärztetags am 17. Mai plädierte Dr. Hoppe dafür, einige, von ihm offenbar als präjudizierend angesehene Passagen, die auch Dr. Klotz und seinem BPA nicht schmecken konnten, zu streichen. Das gelang nicht. Der Ärztetag erwies sich wie auch sonst als mehr denn ein Konglomerat von Verbandsvertretern.

Auch das von Allgemeinarztvertretern und MB-Leuten vorgetragene Zugeständnis: „Eine Minderheit der Ärzteschaft sieht die abge- schlossene Weiterbildung als Voraussetzung für die selbständige ärztliche Tätigkeit in der ambulanten Versorgung an" wurde von der großen Mehrheit der Delegierten nicht gebilligt, ein Umstand, der einige wenige Vertreter der Allgemeinärzte um Dr. Kossow und Prof.

Häußler offensichtlich dazu bewog, dem „Blauen Papier" in der Schlußabstimmung ihre Zustimmung zu verweigern — obwohl der Ärztetag zum Beispiel Änderungswünschen von Kossow in langen Passagen nachgekommen war und obwohl die im „Blauen Papier"

enthaltenen Anregungen für die Selbstbeteiligung einer alten Idee Häußlers entsprechen.

Schon diese Beispiele verdeutlichen, wie sehr die Beratungen des

„Blauen Papiers" insgesamt von der Fixierung einer (ansehnlichen) Minderheit auf die Allgemeinarztprobleme bestimmt waren.

Heft 22 vom 29. Mai 1980 1427

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83. Deutscher Ärztetag: Grundsatz-Programm

Doch das neugefaßte gesund- heitspolitische Programm der Ärz- teschaft enthält weitaus mehr:

Die Themen

des „Blauen Papiers"

> Gesundheitserziehung durch Bildung und Aufklärung

> Grundsätze der Beziehungen von Patient und Arzt

> Medizinische Forschung

> Umweltgestaltung und Um- weltschutz

> Förderung gesundheitlicher Leistungsfähigkeit und individuel- ler Gesundheitsberatung

> Gesunde Familien, Jugend und Alter

> Anpassung der Arbeitsbedin- gungen an den Menschen

> Vorbeugung und Krankheits- früherkennung

> Rehabilitation

> Resozialisation

> Katastrophenschutz und Zivil- schutz im Verteidigungsfall

> Ambulante ärztliche Versor- gung

> Stationäre Versorgung

> Notfalldienst und Rettungs- wesen

> Öffentlicher Gesundheits- dienst

> Arbeitsmedizinische Versor- gung

> Ärztliche Dienste bei den So- zialleistungsträgern

> Arzneimittelversorgung

> Datenschutz und Datennut- zung in der Medizin

> Qualitätssicherung in der me- dizinischen Versorgung

> Weiterentwicklung der Kran- kenversicherung

> Grundsätze ärztlicher Berufs- ausübung

> Ausbildung zum Arzt

> Weiterbildung des Arztes

> Fortbildung des Arztes

> Zusammenarbeit mit anderen Berufen

> Internationale Gesundheitspo- litik

> Gesundheitspolitik in der EG

> Gesundheitspolitik und Sozial- politik in deutsch-sprachigen Län- dern

Schon diese Themenauflistung zeigt: das Programm behandelt das ganze Spektrum der Gesund- heitspolitik: beschreibend, den ärztlichen Standpunkt verdeutli- chend, Weiterentwicklungen auf- zeigend. Dabei geht das Papier von dem heute bestehenden Ge- sundheitssystem aus. Großer Wert wird dabei darauf gelegt, der Öf- fentlichkeit, den Patienten Zusam- menhänge des Systems zu erläu- tern und die Stellung von Arzt und Patient in ihrer wechselseitigen Abhängigkeit darzustellen.

Weiterentwicklung heißt unter sol- chen Prämissen Verbesserungen im bestehenden System. Dazu ent- hält das Papier bei genauer Lektü- re — die verlangt beim Leser ange- sichts eines Umfangs von 147 Sei- ten allerdings einige Konzentra- tion — eine Fülle von Anregungen, nicht revolutionär, aber doch nach vorn weisend:

> So etwa zur inneren Struktur der Krankenhäuser, zur Koopera- tion der Ärzte untereinander und mit anderen Heilberufen.

> So zur Bedarfsplanung, zur Niederlassungsberatung.

> So zur Gesundheitsbildung und zur Selbstverantwortung des einzelnen — und in diesem Rah- men eben auch zur Selbstbeteili- gung.

Selbstkritisch werden auch Gren- zen der Medizin beschrieben, eu- phorische Erwartungen (die auch von ärztlicher Seite geweckt wur- den) an die ärztliche Kunst auf die Realitäten zurückgeführt: Ge- sundheit ist nicht Ergebnis eines Reparaturvorganges, der Patient kein Objekt ärztlichen Handelns und für seine Gesundheit zu- nächst einmal selbst verantwort- lich. Hier folgt das „Blaue Papier"

einem weltweiten Trend in der Me- dizin, auf den Bundesärztekam- mer-Präsident Dr. Karsten Vilmar schon seit längerem hinweist.

Das „Blaue Papier" bringt also einiges an grundlegenden Überle- gungen, auf denen Gesundheits- politik aufbauen sollte, nicht allein (und nicht in erster Linie) konkrete Handlungsempfehlungen für die Politik. Das ist Vorzug und Nach- teil zugleich.

Der Vorzug: Die „Ideologie", der die Mehrheit der Ärzte (meist un- bewußt) folgt, wird klar und über- zeugend beschrieben. Nur so läßt sich langfristig Politik machen, denn Politik ohne Vorstellung von dem, worauf sie aufbaut und wo- hin sie zielt, führt in die Sackgas- se, zu jenem kurzatmigen Pragma- tismus, durch den zum Beispiel die Kostendämpfungspolitik der Bundesregierung gekennzeichnet ist.

Der Nachteil: Grundlegende Über- legungen dieser Art sind einem breiten Publikum schwer zu ver- kaufen, sie lassen sich nur mit Mü- he in griffige Forderungen für den politischen Alltag ummünzen.

Die Folge: die griffigste Forderung des „Blauen Papiers", die nach Modellversuchen zur Selbstbetei- ligung, wurde herausgegriffen und als die Ärzteforderung prä- sentiert, alles andere „fiel unter den Tisch".

1428 Heft 22 vom 29. Mai 1980 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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Bericht und Meinung

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Zu Gast in

"Onkel Chroms Hütte”

Fünf Tage lang beherbergte das Inter- nationale Congress Centrum (zweimal mit pseudo-vornehmem „C” geschrie- ben) Berlin den Deutschen Ärztetag: ein geräumiges, funktionell gut durchdach- tes Gehäuse in Aluminiumlook, mit Roll- treppen, Wegweisern und elektroni- schen Anzeigetafeln, die an einen Flug- hafen (oder eine Gesamtschule) erin- nern lassen. Originelle Gebilde wie das ICC regen zu Spitznamen an: Kongreß- flughafen, Raumschiff oder aber — un- tertreibend — „Onkel Chroms Hütte" ...

7

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 22 vom 29. Mai 1980 1429

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Delegierte, Presse und Ehrengäste

Das Internationa- le Congress-Cen- trum war noch gar nicht fertig, als die Delegierten des Ärztetages seinerzeit die Stadt Berlin zum Tagungsort für den 83. Deutschen Ärztetag bestimm- ten. Dennoch — andere waren mit der Voraus-Bu- vhung der Räume noch schneller gewesen. Die De- legierten mußten daher jetzt nach drei Tagen von ei-

nem übersichtli- chen Plenarsaal (links oben) in ei- ne schlauchförmi- ge Messehalle Bild (rechts oben) wechseln. Der Qualität der Bera- tungen tat der Qualitätsabfall in der Sitzungs-Un- terbringung aller- dings nicht den geringsten Ab- bruch.

Sehr gut besucht waren die täglich veranstalteten Pressekonferen-

Neeteäue£

Bericht und Meinung

1430 Heft 22 vom 29. Mai 1980 DEUTSCHES ARZTE'BLATT

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zen (Bild ganz links).

Im Mittelpunkt der Plenarberatungen das „Blaue Pa- pier", behandelt unter Tagesord- nungspunkt 1:

wechselnd und rasch immer wie-

der neu anwach- send lange Red- nerlisten, auf eine Leinwand proji- ziert (rechts), dar- unter die Ta- gungsleitung. Mit- glieder des Aus- schusses „Blaues Papier" (oben, Mitte).

Beispielhaft ge- nannt für die vie- len interessierten Ehrengäste aus dem In- und Aus- land (Bildaus- schnitt unten links): Jamaicas Botschafter mit Frau (unten, Mitte)

Alle Fotos vom 83. Deutschen Ärztetag:

Bohnert-Neusch

Bericht und Meinung

DEUTSCHES ARZTEBLATT Heft 22 vom 29. Mai 1980 1431

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Bericht und Meinung

83. Deutscher Ärztetag: Grundsatz-Programm

Die "gedankliche Selbstbeteiligung"

Unter den 147 Seiten des "Blauen Papiers" finden sich tatsächlich ganze drei über die Selbstbeteili- gung. Darin regt der Deutsche Ärz- tetag an, "Selbstbeteiligungsmo- delle in einzelnen Leistungsberei- chen auf gesetzlicher Grundlage alternativ zum zur Zeit gültigen Leistungsrecht" zu erproben. Die Anregung schließt eine ganze Rei- he von Einschränkungen ein, so vor allem die, daß

..,.. die Sicherung aller Versicher- ten gegen das Krankheitsrisiko nicht beeinträchtigt werden darf, ..,.. das Prinzip der Solidarhaftung nicht aufgegeben werden darf, ..,.. eine Risikohäufung bei be- stimmten Versichertengemein- schaften auszuschließen ist.

Jedem Kenner des Versicherungs- prinzips ist damit schon klar, daß die Anregung des Ärztetages nur ein kleines Spektrum möglicher Versicherungsformen übrigläßt, zu mal die ursprünglich in der Vor- lage vorgesehene Form der

"Wahltarife" auf Antrag von Dr.

Bourmer ausdrücklich ausge- schlossen wurde; die private Kran- kenversicherung wird zufrieden sein. Immerhin, der Möglichkei- ten, sich Gedanken über Selbstbe- teiligung zu machen, sind in die- sem Rahmen keine weiteren Gren- zen gesetzt.

Dr. Vilmar wies in seinem Einlei- tungsreferat zu dem Tagesord- nungspunkt 1, der eben jenes

"Blaue Papier" zum Gegenstand hatte, und das gleichzeitig der Festvortrag der öffentlichen Kund- gebung am 13. Mai war, darauf hin, daß der Selbstbeteiligungsge- danke "keineswegs so neu und so unvereinbar mit unserem System der sozialen Sicherung ist, wie das in der öffentlichen Diskussion in einigen nur als polemisch zu be- zeichnenden Beiträgen dargestellt wird, denn auch unser heutiges Recht kennt bereits Wahlmöglich- keiten und Selbstbeteiligungsre- gelungen im Bereich der gesetzli-

chen Krankenversicherung, zum Beispiel die Direktbeteiligung an den Arzneikosten, bei Heil- und Hilfsmitteln, bei Kosten für Kran- kentransport - die erst bei Über- schreiten der Summe von 3,50 DM erstattet werden- und besonders bei der Inanspruchnahme von Wahlleistungen im Krankenhaus."

ln der Öffentlichkeit betonte Vil- mar dann aber vor allem: "Selbst- verständlich dürfen Selbstbeteili- gungsmodelle nicht durch zusätz- lich zum Beitrag zu leistende Gel- der die erste Inanspruchnahme bei einer Neuerkrankung oder Ver- letzung erschweren oder unmög- lich machen und auf diese Weise vielleicht die Gesundheit gefähr- den. Der Gedanke an eine Regi- strierkasse in einer Arztpraxis oder im Krankenhaus, die in einem sozialisierten System wie in Schweden durchaus üblich ist, kann also für die Bundesrepublik Deutschland getrost fallengelas- s.en werden. Selbstbeteiligungs- modelle, die auf gesetzlicher Grundlage mit entsprechend er- mäßigtem Beitragssatz angeboten werden sollten, müssen von vorn- herein sicherstellen, daß die Si- cherung aller Versicherten gegen das Krankheitsrisiko nicht beein- trächtigt, das Prinzip der Solidar- haftung der Versichertengemein- schaft nicht aufgegeben wird und daß sie auch nicht zur Risii<Ohäu- fung für bestimmte Versiche- rungsgemeinschaften führen."

Zum "Blauen Papier" erläuterte er: "ln der Beratungsunterlage zur Weiterentwicklung der gesund- heits- und sozialpolitischen Vor- stellungen der deutschen Ärzte- schaft wird weder generell die Ein- führung von Selbstbeteiligungs- medellen noch ein bestimmtes Selbstbeteiligungsmodell vorge- schlagen, es wird aber gefordert, auch über diese Möglichkeit zur Sicherung unseres freiheitlichen Systems auch in der Öffentlichkeit nachzudenken. Es ist also zu- nächst ein Aufruf zur gedankli- chen Selbstbeteiligung. Wer je- doch schon die Diskussion über diese Fragen ablehnt, bringt sich

1432 Heft 22 vom 29. Mai 1980 DEUTSCHES ARZTEBLATT

in den Verdacht, daß er durch Vor- enthaltung, geradezu durch Ent- eignung des Bürgers von Ent- scheidungs- und Gestaltungsmög- lichkeiten, durch lnstitutionalisie- rung der Medizin beabsichtigt, Machtpolitik zu betreiben."

Dr. Ernst Eberhard Weinhold, des- sen persönlichem Einsatz die Pas- sagen über die Selbstbeteiligung im "Blauen Papier" ganz wesent- lich zuzuschreiben sind, führte im Verlauf des Ärztetages einen wei- teren Gedankengang aus: steigen die Ansprüche an das Versiche- rungssystem weiter und können sie nicht- zum Beispiel- dadurch gebremst werden, daß der einzel- ne erkennt, was er an Leistungen verursacht, und dadurch, daß sei- ne Verantwortung für die Gesund- heit auch durch finanzielle Anreize geweckt wird, dann wird das Sy- stem schon auf mittlere Sicht unfi- nanzierbar. Weinhold befürchtet für einen solchen Fall die "Vertei- lung von medizinischen Leistun- gen" im Rahmen eines sozialisier- ten Gesundheitswesens. Jedem, dem an der Erhaltung des beste- henden Systems - wegen seiner Vorteile gerade auch für den Pa- tienten - gelegen sei, sollte sich daher auch mit einer Selbstbeteili- gung auseinandersetzen.

Die nun im "Blauen Papier" fest- geschriebenen Vorschläge stießen nicht auf das einhellige Wohlgefal- len aller Delegierten. Vor allem zwei Vertreter der Kassenärztli- chen Bundesvereinigung, deren Vorstandsmitglied Dr. Löwenstein und deren Hauptgeschäftsführer Dr. Fiedler, äußerten deutliche Be- denken. Löwenstein bekannte so- gar "mit allem Freimut", daß er grundsätzlich gegen eine Selbst- beteiligung ist, denn wenn sie überhaupt eine Effizienz haben solle, dann träfe sie letzten Endes die Kranken. Löwenstein erinnerte auch an frühere Diskussionen um die Selbstbeteiligung. Damals, als Bundesarbeitsminister Blank derartiges vorhatte, hatte sich eine Mehrheit der Ärzte gegen einen solchen Vorschlag ausgespro- chen - mit Erfolg, wie man weiß.

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Daten

zur Vorgeschichte

Das „Blaue Papier" wurde auf Beschluß des 81. Deutschen Ärztetages, 1978 in Mannheim, ausgearbeitet. Es basiert auf den „gesundheits- und sozial- politischen Vorstellungen der deutschen Ärzteschaft" aus dem Jahre 1974 (Näheres zur Entstehung in Heft 19/1980).

Der Vorstand der Bundesärzte- kammer hatte mit der Ausarbei- tung des Entwurfs einen Ar- beitsausschuß beauftragt, dem angehörten: Bundesärztekam- mer-Präsident Dr. Karsten Vil- mar (Vorsitz), KBV-Vorstands- mitglied Dr. Ernst Eberhard Weinhold, BÄK-Vorstandsmit- glied Dr. Gerd Iversen, BÄK- Hauptgeschäftsführer Prof. J.

F. Volrad Deneke, Justitiar Dr.

Reiner Hess.

Einen Zwischenbericht über den Stand der Arbeiten gab Vil- mar auf dem Deutschen Ärzte- tag 1979 in Nürnberg; damals lagen bereits große Teile des Papiers in einer Entwurfsfas- sung vor — allerdings noch oh- ne so wesentliche Kapitel wie die über die ambulante Versor- gung. Ein weiterer Zwischenbe-

richt folgte auf der Sitzung des Präsidiums des Deutschen Ärz- tetages, in dem alle wesentli- chen ärztlichen Organisationen und Verbände vertreten sind, am 1. Dezember 1979.

Die Verbände hatten schließlich am 16. Februar 1980 in Hanno- ver in einer Anhörung Gelegen- heit, ausführlich zu der Ge- samtvorlage Stellung zu neh- men. Diese wurde — nach einer endgültigen Bearbeitung durch den Vorstand der Bundesärzte- kammer und hinsichtlich der Aussagen über die kassenärztli- che Versorgung, abgestimmt mit der Kassenärztlichen Bun- desvereinigung — zwei Wochen vor Beginn des 83. Deutschen Ärztetages in Berlin den Dele- gierten zugesandt.

Auf diesem Ärztetag wurde der Programmentwurf in erster und abschließend zweiter Lesung beraten und nach nahezu drei- einhalb Verhandlungstagen am 17. Mai 1980 mit sehr großer Mehrheit verabschiedet.

Das gesamte Programm wird in den nächsten Wochen im DEUTSCHEN ÄRZTEBLATT veröffentlicht; die Bundesärzte- kammer bereitet zudem eine Populärfassung vor. DÄ 83. Deutscher Ärztetag: Grundsatz-Programm

Dr. Fiedler war nicht so prinzipiell gegen die Selbstbeteiligung, aber er gab doch zu bedenken, daß sie ein vertrauensvolles Arzt-Patient- Verhältnis tangieren könne und den Solidargedanken mindere. Al- lerdings — so Fiedler — man solle ruhig darüber sprechen, dabei aber klarstellen, daß die Ärzte der- artiges nicht vorschlügen, um ihre finanzielle Situation zu verbes- sern.

Dieses wurde dann auch noch ausdrücklich im „Blauen Papier"

klargestellt, und Präsident Vilmar erläuterte bei mehreren Gelegen- heiten, daß der Vorschlag allein darauf abziele, die Verantwortlich- keit des Versicherten zu stärken.

In dieser Weise argumentierten auch in trauter Gemeinsamkeit Prof. Häußler und Prof. Kanzow.

Häußler: man müsse jedem indivi- duell verdeutlichen: „es ist Deine Krankheit". Man könne ein Mehr an Gesundheit nicht mit den Me- thoden von 1893 produzieren. Die- sen Gedanken griff Kanzow auf, indem er darauf hinwies, daß die Krankenversicherung zu Bis- marcks Zeiten auf der Not und der Solidarität der Arbeiter basiert ha- be und sich diese Bedingungen seit dem 19. Jahrhundert gewan- delt hätten: „Man kann unter Wohlhabenden und Reichen keine Solidarität erzielen. Dadurch hat das Versicherungssystem des 19.

Jahrhunderts die ethische Grund- lage verloren", erklärte Kanzow.

Die Diskussionen in Berlin waren deutlich beeinflußt von den schon während des Ärztetages bekannt- gewordenen öffentlichen Reaktio- nen auf die Selbstbeteiligungsvor- schläge, die, durchweg stark ver- gröbert, von einer Zuzahlung des Patienten im Krankheitsfalle spra- chen und (was Fiedler befürchtet hatte) den Ärzten unterstellten, sie machten diese Vorschläge ledig- lich, um ihre Honorare aufzubes- sern. Doch die Mehrheitsmeinung der Delegierten ging dahin, daß man mit solchen Angriffen (die zu erwarten gewesen wären!) leben müsse. Denn in unserem Wirt-

schafts- und Gesellschaftssystem sei nun einmal der finanzielle An- reiz ein wirksames Steuerungsmit- tel, das gelte es auszuprobieren.

Was haben all die Bemühungen um Gesundheitserziehung und Motivierung des Patienten, so fragte zum Beispiel Dr. ltal, bisher eigentlich konkret an Gesundheit gebracht? Da könne man es doch ruhig einmal mit dem Anreiz über den Geldbeutel versuchen. ltal:

„Wir müssen jetzt Farbe be- kennen."

Die Entscheidung des Ärztetages über das einschlägige Kapitel des

„Blauen Papiers" („Weiterent- wicklung der Krankenversiche- rung") fiel deutlich aus. Es wurde mit sehr großer Mehrheit ange- nommen. Aufschiebende Anträge von Dr. Nicklas und Dr. Grochocki, zunächst Modellvorschläge im Rahmen einer Kommission zu er- arbeiten, wurden mit ähnlich gro- ßen Mehrheiten abgelehnt.

Die Selbstbeteiligung hatte das Bild bestimmt, das vom Ärztetag öffentlich vermittelt wurde, intern waren Probleme um Allgemeinarzt und Hausarzt von weitaus größe- rer Auswirkung. Einige Vertreter der Allgemeinärzte hätten um der

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 22 vom 29. Mai 1980 1433

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83. Deutscher Ärztetag: Grundsatz-Programm

250 Delegierte, nach demokratischen Verfahren in den Landesärztekammern gewählt, bilden den Deutschen Ärztetag

Durchsetzung ihrer Auffassungen willen durchaus riskiert, das ge- samte „Blaue Papier" in Berlin scheitern zu lassen: Sie wünsch- ten lediglich eine erste Lesung, keine Verabschiedung des Pro- gramms und hatten damit zu- nächst auch Erfolg.

Mit Hilfe der Geschäftsordnung ein Kompromiß

für die Allgemeinärzte

BPA-Vorsitzender Dr. Helmuth Klotz (der auch Vizepräsident der Bundesärztekammer ist, in dieser Frage aber eingestandenermaßen als BPA-Repräsentant handelte) beantragte nämlich: „Gemäß § 18 der Geschäftsordnung der Deut- schen Ärztetage findet eine 2. Be- ratung und Beschlußfassung (2.

Lesung) auf dem 84. Deutschen Ärztetag in Trier statt." Das war ein geschickter Trick. Jener § 18 war bis dahin nach Erinnerung gestandener Ärztetagsmatadoren noch nie angewendet worden. Er sieht vor, daß auf Verlangen des Vorsitzenden oder eines Drittels der Delegierten eine zweite Le- sung von Vorlagen durchgeführt werden muß. Der „Vorsitzende"

(weder BÄK-Präsident Dr. Vilmar noch der gerade amtierende Präsi- dent Dr. Osterwald) hatte zwar die- sen Wunsch nicht, doch immerhin 85 der 250 Delegierten; und damit schien es zunächst tatsächlich so,

als werde die Verabschiedung des

„Blauen Papiers" um ein Jahr ver- schoben.

Klotz und einige Mitstreiter argu- mentierten damit, es gelte hier in Berlin darüber zu befinden, ob einige vom Vorstand der Bundes- ärztekammer gestrichene Passa- gen wieder in das „Blaue Papier"

einzufügen seien — Passagen, die die Allgemeinärzte als günstig für sich ansahen, günstiger jedenfalls als das, was im „Blauen Papier"

verblieben war (was im Vergleich zum „Blauen Papier" von 1974 al- lerdings immer noch eine ganze Menge war).

Tatsächlich hatte der Vorstand auf einem Hearing der Verbände im Februar dieses Jahres in Hannover eine Entwurfsfassung vorgelegt, die ausführlicher auf die Stellung des Hausarztes einging, als die in Berlin vorliegende Beratungsvor- lage. Die Streichung, so Vilmar, sei um des Straffens willen vorge- nommen worden. Die Vertreter der Hausärzte witterten hinter dem Streichmanöver des Vorstandes der Bundesärztekammer jedoch offenbar bösere Absichten.

Auch mancher Delegierte, der nicht unbedingt Hausarzt-Positio- nen vertrat, ließ sich von dem Miß- trauen anstecken, zumal ihm noch ein weiteres Argument zugesteckt wurde: der Entwurf des „Blauen

Papiers" sei den Delegierten doch erst 14 Tage vor Beginn des Ärzte- tages zugegangen, und das könne man sich nicht bieten lassen.

Die Koalition aus Unzufriedenen und Verbandsstrategen führte gleich zu Beginn des Ärztetages, am 14. Mai, zu einer zähen Geschäftsordnungsdebatte, die schließlich mit einem Kompromiß endete: 1. Lesung in Berlin, über Zeit und Ort der 2. Lesung wird entschieden, wenn die 1. abge- schlossen ist.

Darin zeigte sich schon ein Rück- zug von der rigorosen Absicht, die Verabschiedung des Papiers in Berlin zu torpedieren. Es kam im Verlauf der sich über gut drei Tage hinziehenden Diskussion über das

„Blaue Papier" zwar zu noch man- cher Geschäftsordnungsdebatte, und eine Gruppe von Delegierten und deren Hintermännern ver- suchten sichtlich, die Debatte durch Filibustern so lange hinzu- ziehen, bis zu einer Verabschie- dung des Papiers keine Zeit mehr sein würde, doch konnte schließ- lich am letzten Tag des Deutschen Ärztetages, am 17. Mai, das Papier doch noch in — einer mehr forma- len — 2. Lesung beraten und verab- schiedet werden.

Bemühungen, qua Geschäftsord- nung auch inhaltlich etwas zu er- reichen, gehören zum parlamenta-

1434 Heft 22 vom 29. Mai 1980 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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83. Deutscher Ärztetag: Grundsatz-Programm

... ein Gremium, das seine Aufgaben ernst nimmt: bei Beratungen des Ärztetages gibt es kein „gähnend leeres Plenum"

rischen Geschäft — so frustrierend das Gerangel auch auf den Beob- achter wirkt, und nicht nur auf den: auch ein Großteil der Dele- gierten war das Finassieren sicht- lich leid. Daß die Debatte über das

„Blaue Papier" insgesamt aber sehr friedlich verlief, war auch dem zu diesem Tagesord- nungspunkt 1 amtierenden Präsi- denten Dr. Gustav Osterwald (ne- ben Klotz weiterer Vizepräsident der Bundesärztekammer), der die dreieinhalbtägige Debatte gedul- dig und humorvoll leitete, und dem ihm zur Hand gehenden BÄK- Hauptgeschäftsführer Prof. J. F.

Volrad Deneke zu verdanken. Bun- desärztekammer-Präsident Vilmar hatte als Referent zu diesem Ta- gesordnungspunkt (er war Vorsit- zender des Ausschusses, der das

„Blaue Papier" erarbeitet hat) auf die Verhandlungsleitung während dieser Zeit verzichtet.

Was hat die Allgemeinärzte zu ih- ren Vorstößen bewegt? Kurz ge- sagt: das, was bei einigen Ver- bandsvertretern als das „Trauma von Nürnberg" bezeichnet wird, oder nüchterner gesagt: der Kom- promiß in Sachen Ausbildung, praktischer Vorbereitungszeit auf die Niederlassung und Weiterbil- dung, der 1979 in Nürnberg gefun- den wurde und mit dem sich eine Reihe von Vertretern der Allge- meinärzte nicht abfinden wollten.

Waren in Nürnberg vor allem Prof.

Häußler und Anhänger bis zum Schluß des Ärztetages gegen die gefundene Kompromißformel, weil sie die von Häußler favorisier- te Pflichtweiterbildung ausschloß, so hatten sich im letzten Jahr — zwischen Nürnberg und Berlin gleichsam — auch einige andere, die zunächst dem Kompromiß von Nürnberg zugestimmt, ja ihn aus- gehandelt hatten, eines anderen besonnen. Und „die Schlappe von Nürnberg", so ging schon vor dem Ärztetag die Parole um, sollte aus- gewetzt werden. Entweder indem bereits in Berlin im „Blauen Pa- pier" eine auch den Allgemeinärz- ten mehr entgegenkommende Formel gefunden wurde oder in Berlin zumindest so viel vorberei- tet würde, daß im nächsten Jahr in Trier ein positives Ergebnis zu- gunsten der Allgemeinärzte her- auskommen könnte.

Favorisiert wurde daher von den Allgemeinärzten jene Fassung des

„Blauen Papiers" vom Verbände- Hearing in Hannover, die den All- gemeinärzten eine Auslegung in ihrem Sinne am besten gestattete.

Mittels Geschäftsordnung wurde auf dem Ärztetag in Berlin zu- nächst versucht, die „Hannover- Fassung" zum Beratungsgegen- stand zu machen. Das wurde ab- gelehnt. Im zweiten Schritt mach- ten sich die Allgemeinärzte-Vertre- ter daran, wesentliche Teile aus dieser früheren Fassung über Er-

gänzungsanträge in das „Blaue Papier" hineinzupraktizieren — und das gelang. Der Ärztetag nahm mit deutlichen Mehrheiten zwei Anträge von Dr. Kossow und Dr. Schumann an, in denen die Anforderungen an die allgemein- ärztliche Vorbildung genauer um- schrieben wurden. Die dabei zum Teil gefundenen Formeln bedurf- ten allerdings bereits auf dem Ärz- tetag der Interpretation.

Im Antrag Kossow heißt es zum Beispiel, daß der niederlassungs- willige Arzt durch eine ausreichen- de Ausbildung und Berufserfah- rung über diejenigen Kenntnisse und Erfahrungen verfügen muß, die ihn zur Ausübung des Berufes in eigener Praxis befähigen. Dies setze u. a. voraus: „den Erwerb der erforderlichen Berufserfah- rung — insbesondere auf dem Ge- biet, auf dem sich der Arzt betäti- gen will, im Anschluß an das Me- dizinstudium". In dem ursprüngli- chen Antrag hatte das Wörtchen

„insbesondere" noch gefehlt, und Dr. Hoppe hatte vermutet, daß mit dem Satz daher insgeheim eine versteckte Pflichtweiterbildung auf einem ganz bestimmten Ge- biet gemeint sei. Diese Vermutung war, nachdem in Berlin tatsächlich das eine oder andere Mal mit der- art versteckten Formeln gearbeitet wurde, nicht ganz auszuschließen.

Doch Kossow fügte nicht nur das Wörtchen „insbesondere" ein,

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 22 vom 29. Mai 1980 1435

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1436 Heft 22 vom 29. Mai 1980 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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Bericht im eineng

mmer im Gespräch bleiben

über die Allgemeinmedizin und anderes . . .)

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 22 vom 29. Mai 1980 1437

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83. Deutscher Ärztetag: Grundsatz-Programm

sondern die Allgemeinarzt-Vertre- ter versicherten, so Klotz vor der Presse, daß damit keineswegs die Pflichtweiterbildung gemeint sei, denn der ganze Komplex „Allge- meinmedizin" sei ja Gegenstand des nächsten Ärztetages in Trier.

In dem vom Ärztetag angenomme- nen Antrag Dr. Schumanns ist ebenfalls eine derartige Kompro- mißformel enthalten. Danach for- dert der Ärztetag „die Einführung einer ausreichenden Assistenten- zeit zum Erwerb praktischer Be-

rufserfahrung in der ärztlichen Be- rufsausübung nach Abschluß des Medizinstudiums", außerdem „ei- ne Neugestaltung des Weiterbil- dungsganges für den Allgemein- arzt, mit stärkerer Ausrichtung auf die Allgemeinmedizin".

Bereits in Berlin wurde darüber diskutiert, was unter der „erfor- derlichen Berufserfahrung" laut Antrag Kossow und der „ausrei- chenden Assistentenzeit" laut An- trag Schumann exakt gemeint sei.

Einstweilen wird man sich auf die vielfältigen Zusicherungen verlas- sen dürfen, damit sei nicht eine ganz bestimmte Form einer Pflichtassistentenzeit oder Pflicht- weiterbildung gemeint. Alles wei- tere steht für Trier an. Die Ver- bandsstrategen sind zur Vorberei- tung dessen bereits am Werk.

Grundwertediskussion auf den Ärztetag übertragen Auch die kritischen Abschnitte über die Allgemeinmedizin wur- den vom Ärztetag mit sehr großer Mehrheit verabschiedet. Ange- sichts der Differenzen ist es aller- dings nicht verwunderlich, daß sich eine vernehmbare, im Kern jedoch nicht mehr als ein gutes Dutzend Delegierter umfassende Minderheit zeigte. Wie überhaupt sich auf dem Ärztetag in einigen Grundsatzfragen keine totale Ei- nigkeit erzielen ließ. Das trifft zum Beispiel zu für die Aussagen über die ärztlichen Kooperationen. Der Ärztetag erkennt im „Blauen Papier" an, daß im ambulanten

Bereich Zusammenschlüsse zu- künftig größere Bedeutung erhal- ten werden. Er führt einige von ihnen als empfehlenswerte Koope- rationsformen auf. Zu ihnen ge- hört nicht die fachübergreifen- de Gemeinschaftspraxis. Hierüber wurde des längeren debattiert, wobei sich vor allem einige Vertre- ter des NAV hervortaten. Sie dran- gen mit ihrer Auffassung, auch die fachübergreifende Gemein- schaftspraxis in den Katalog der beispielhaften Formen auszuneh- men, nicht durch. Immerhin läßt sich aus der Beratung erken- nen, daß auch dieses Thema in- nerärztlich weiter diskutiert wer- den wird.

Grundlegende Auffassungsunter- schiede zeigten sich in familienpo- litischen Fragen—einem Abschnitt des „Blauen Papiers", der beson- ders eingehend beraten wurde.

Dazu hatte Dr. Hirschmann ei- ne vollständige Alternativfassung vorgelegt.

Der Dissens, wie ihn Hirschmann, Dr. Eiert und Dr. Viergutz formu- lierten: die Vorstandsvorlage geht

— unausgesprochen — von einem Wertekatalog aus, der aus dem Naturrecht abgeleitet ist, doch darüber sei heute kein Überein- kommen mehr zu erzielen. Die Wertvorstellungen etwa über Ehe, Familie, Kinderzahl, Abtreibung hätten sich geändert. Ein Pro- grammpapier müsse dies berück- sichtigen.

Die Gegenposition: Unbewußt ge- he auch heute noch die Mehrzahl vom Naturrecht aus. Man dürfe ge- sellschaftliche Wandlungen nicht ohne weiteres als gegeben hin- nehmen, sondern müsse notfalls auch gegen einen vorherrschen- den Trend seine Wertvorstellun- gen verteidigen.

Eine Abwandlung also der Grund- wertediskussion, die auch im all- gemeinpolitischen Raum geführt wird ...

Der Ärztetag entschied mehrheit- lich für das Naturrecht.

Die Ärzteschaft ist also nicht jener

„monolithische Block", als der sie in der Vergangenheit oft beschrie- ben wurde (und auch da schon nicht war). Sie hat jedoch mit ih- rem „Blauen Papier" eine Grund- auffassung entwickelt, die die Auf- fassung der Mehrheit der Ärzte- schaft wiedergibt, die andererseits Spielraum auch für differenzierte Auslegungen bietet.

Der Vorsitzende der SPD-Bundes- tagsfraktion, Herbert Wehner, hat

in einem Grußwort allerdings mit einem drohenden Unterton ge- mahnt, eine Ärzteschaft, die (in Sachen Weiterbildung) in Mehr- heit und Minderheit gespalten sei, könne den Politikern nicht mit Rat zur Seite stehen. Für seine Frak- tion wäre es kaum denkbar, bei einer in dieser Frage gespaltenen Ärzteschaft für eine Seite Partei ergreifen zu müssen.

Mehrheiten und Minderheiten — Ausdruck der Demokratie

Herbert Wehner geht offenbar von der Auffassung aus, Ärztetage hät- ten in entscheidenden Fragen ein- stimmig abzustimmen. Bundes- ärztekammer-Präsident Vilmar äu- ßerte vor der Presse ironisch, er werde Wehner einmal danach fra- ge, wie es mit einstimmigen Be- schlüssen des Deutschen Bundes- tages in wichtigen Fragen des deutschen Volkes bestellt sei. Vil- mar bekräftigte mehrfach, daß Minderheiten Bestandteil, ja Kenn- zeichen des demokratischen Pro- zesses seien; es sei unzulässig, nach diesem Ärztetag, der mit sei- nen Abstimmungen vergleichswei- se kleine Minderheiten offenbart hat, von einer „gespaltenen Ärzte- schaft" zu sprechen. Die Mehrhei- ten seien überzeugend gewesen.

Sie waren es. Bei der Schlußab- stimmung über das „Blaue Pa- pier" wurden — einer privaten Zäh- lung zufolge — 12 Gegenstimmen und vereinzelte Enthaltungen ge- zählt. Das rechtfertigt den in ei- ner Entschließung zum „Blauen Papier" festgestellten Anspruch:

1438 Heft 22 vom 29. Mai 1980 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

(13)

Aus dem „Blauen Papier"

Freie Arztwahl auch unter Spezialisten

— Koordinierung durch den Hausarzt

Der Patient hat die freie Arztwahl.

Diese Wahlmöglichkeit gibt dem Patienten die Möglichkeit, seine ei- gene Position in der Parnterschaft zu seinem Arzt zu festigen und das erforderliche Maß an Verantwor- tung mitzutragen. Aus diesem Grunde sollte auch der behandelnde Arzt mit dem Wunsch eines Patien- ten auf Konsultation eines anderen Arztes Verständnis entgegenbrin- gen. Die Wahlmöglichkeit unter Arzten darf aber durch den Patien- ten nicht willkürlich gehandhabt werden mit dem Ziel, sich unbe- rechtigt Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung zu verschaf- fen. Eine unkoordinierte Behand- lung durch gleichzeitige Inan- spruchnahme mehrerer Ärzte ist nicht nur medizinisch nicht zu ver- treten, sondern auch unwirtschaft- lich.

Die bestmögliche ärztliche Versor- gung erfordert die Zusammenarbeit der Ärzte untereinander und sollte ebenso wie die Zusammenarbeit mit Angehörigen anderer Heilberufe am besten unter Koordination eines Hausarztes nach den sachbezoge- nen Erfordernissen gestaltet wer- den.

Jedem Patienten muß eine bedarfs- gerechte, dem gesicherten Stand der medizinischen Entwicklung und der technischen Möglichkeiten ent- sprechende ärztliche Versorgung offenstehen. Die Organisationsfor- men der Krankenversorgung und das Leistungsangebot müssen die- sem Ziel dienen. Nur wenn dabei auch die individuellen Besonderhei- ten der Menschen berücksichtigt und die Erwartungen der Patienten an die persönliche Zuwendung des Arztes erfüllt werden, sind best- mögliche Leistungen zu erwarten.

Diese Voraussetzungen werden ge- fördert, wenn der Arzt Art und Ort

seiner Niederlassung sowie die Form seiner Berufsausübung in ei- gener Praxis selbst wählen kann.

Dazu gehört nicht nur die Entschei- dung, sich auf einem Gebiet der Medizin besonders intensiv weiter- zubilden und sich dann in eigener Praxis auf dieses Gebiet zu be- schränken, sondern auch die Mög- lichkeit, sich in Gemeinschaftspra- xen niederzulassen oder aber Pra- xisgemeinschaften zur partner- schaftlichen Nutzung von Räumen, technischen Einrichtungen und As- sistenzpersonal zu bilden. Der Arzt soll aus seiner beruflichen und so- zialen Verantwortung die Bedürfnis- se der Bevölkerung berücksich- tigen.

Um eine möglichst große Überein- stimmung zwischen dem Bedarf an Arzten verschiedener medizinischer Gebiete und den Entscheidungen der Ärzte für die Art und den Ort ihrer Tätigkeit zu erreichen, sind Bedarfsanalysen und Niederlas- sungsberatungen erforderlich.

In einem Gesundheitssystem, in dem jeder Arzt sich in freier Praxis niederlassen kann, muß durch die Rechtsordnung gewährleistet sein, daß der niederlassungswillige Arzt durch eine ausreichende Ausbil- dung und Berufserfahrung über die- jenigen Kenntnisse und Erfahrun- gen verfügt, die ihn zur Ausübung des Berufes in eigener Praxis befä- higen. Dies setzt voraus:

• Den Erwerb der erforderlichen theoretischen und praktischen Kenntnisse in der Medizin während des Studiums.

• Den Erwerb der erforderlichen Berufserfahrung insbesondere auf dem Gebiet, auf dem sich der Arzt betätigen will im Anschluß an das Medizinstudium.

Bericht und Meinung 83. Deutscher Ärztetag: Grundsatz-Programm

„Der 83. Deutsche Ärztetag fordert vom Gesetzgeber sowie von den anderen Verantwortlichen in Bund und Ländern, daß künftig jede Um- und Neuorientierung im gesamten Gesundheitswesen — also nicht nur in der ambulanten ärztlichen Versorgung — nur unter der Mitwir- kung der gewählten Vertreter der Ärzteschaft erfolgt. Dies gilt auch für die medizinische Ausbildung in den Universitäten und akademi- schen Lehrkrankenhäusern.”

Zur Begründung erklärte Antrag- steller Dr. Raudszus:

„Die DGB-Gewerkschaften sehen es als selbstverständlich an, daß neue Produktionsverfahren in den Betrieben der Zustimmung der Be- triebsräte bedürfen. Dies muß auch befürwortet werden, da die Einführung neuer Produktionsme- thoden direkt den Arbeitnehmer in dieser oder jener Weise betreffen.

Mit der gleichen Selbstverständ- lichkeit müssen aber auch dann die Ärzte an jeder Änderung inner- halb des Gesundheitswesens mit- bestimmen und mitwirken kön- nen." Beifall. NJ

• Einige wesentliche, in diesem Bericht herangezogene Passagen des „Blauen Papiers" werden im vorliegenden Heft dokumentiert:

0

Zur Frage Allgemeinmedizin/

Hausarzt: darauf bezieht sich der nebenstehende Auszug („Freie Arztwahl auch unter Spezialisten — Koordinierung durch den Haus- arzt")

© Zur Selbstbeteiligung: die ein- schlägigen Passagen finden sich auf Seite 1450 f.

0

Zur Familienpolitik: Auszüge auf Seite 1458 f.

C) Zur „Ideologie": Seite 1456 („Gesundheitspolitik im Span- nungsfeld zwischen Individuum und Gesellschaft") DÄ

DEUTSCHES ARZTEBLATT Heft 22 vom 29. Mai 1980 1439

Referenzen

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