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Archiv "Informationstechnologien: Haftungsschutz oder Haftungsfalle?" (15.10.2010)

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A 1972 Deutsches Ärzteblatt

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Jg. 107

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Heft 41

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15. Oktober 2010

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edizinische Informations- technologien sind aus vie- len Arztpraxen nicht mehr wegzu- denken. Die entsprechende Software unterstützt den Arzt bei der Erstel- lung der Diagnose oder hilft bei der Therapie, etwa bei der Aus- wahl des richtigen Arzneimittels.

Welche Bedeutung haben derartige Technologien aber in rechtlicher Hinsicht? Können sie etwa dazu beitragen, das Haftungsrisiko des

Arztes zu verringern? Oder lauert in ihnen umgekehrt die Gefahr, dass dem Arzt von findigen Juris- ten schneller als früher „etwas an- gehängt“ wird? Entpuppt sich die neue Technologie, die immer deut- licher als dritte Säule medizini- scher Hilfsmittel neben die Arznei- mittel und die Medizinprodukte tritt, vielleicht gar als trojanisches Pferd einer weiteren Verrechtli- chung der Medizin?

Recht und Medizin sind aller- dings keineswegs unversöhnliche Kontrahenten. Die für die Haftung des Arztes zentralen Rechtsbegriffe

„Pflichtverletzung“, „Rechtswidrig- keit“ und „Verschulden“ werden nämlich maßgeblich vom medizini- schen Standard ausgefüllt. Und der wird vom Recht in der Regel auch als rechtlich erheblicher Standard übernommen. Letztlich entscheidet also nicht der juristische, sondern der medizinische Maßstab.

Der medizinische Standard

Der medizinische Standard seiner- seits gibt an, welche medizinische Maßnahme dem jeweils aktuellen medizinisch-wissenschaftlichen Er- kenntnisstand unter Berücksichti- gung praktischer Erfahrung und pro- fessioneller Akzeptanz entspricht.

Dabei ist der Standard zunächst einmal empirischer Normalverhal- tenstypus oder Durchschnittstypus:

Die tatsächliche durchschnittliche Übung, wie sie aufgrund praktischer Erfahrung und professioneller Ak- zeptanz entsteht, spielt bei der Er- mittlung des Standards eine bedeut- same Rolle. Insofern enthält der Standard ein „statisches, rückwärts gewandtes Element“*.

Der Standard bezieht seinen vollständigen Sinngehalt allerdings erst aus seiner Ausrichtung auf das erwartete korrekte und ordnungsge- mäße Verhalten. Die vom Arzt ge- schuldete „erforderliche Sorgfalt“

ist nicht einfach üblicherweise oder durchschnittlich aufgewandte Sorg- falt. Denn eine im Verkehr eingeris- sene Nachlässigkeit und Unsitte ist nicht zu berücksichtigen.

Entscheidend ist vielmehr das Maß an Umsicht und Sorgfalt, das nach dem Urteil „besonnener und gewissenhafter“ Angehöriger der je- weiligen Fachrichtung zu beachten ist. Plakativ formuliert: Diagnose und Therapie müssen so sein, wie sie von einem Mediziner dieses Fachs erwartet werden. Das in der Praxis Übliche bleibt aber auch dabei inso- fern maßgeblich, als nicht auf den weitergehenden – etwa in For- schungszentren erreichten – Stand INFORMATIONSTECHNOLOGIEN

Haftungsschutz oder Haftungsfalle?

Die Nutzung medizinischer Informationstechnologie führt umso eher zum Haftungsschutz, je deutlicher es dem medizinischen Standard entspricht, sie einzusetzen. Resultate dürfen allerdings nicht unkritisch übernommen werden.

*H.-L. Schreiber: Rechtliche Maßstäbe des medizi- nischen Standards, DMW 1984, 1458–9

Foto: iStockphoto

T H E M E N D E R Z E I T

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A 1974 Deutsches Ärzteblatt

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15. Oktober 2010 der medizinischen Wissenschaft ab-

gestellt wird. Auch kann nicht sofort und überall die neueste, modernste, kostspieligste apparative Technik verlangt werden. Selbst nach Durch- setzung einer neuen Methode oder neuer medizinischer Geräte kann ei- ne gewisse Karenzzeit bis zu ihrer Anwendung hinnehmbar sein. Die zentrale Frage auch des Juristen lau- tet: Wann ist es medizinisch nicht mehr vertretbar, nach beziehungs- weise mit einer älteren (risikoreiche- ren, mit weniger Heilungschancen verbundenen) Methode oder Gerät- schaft zu arbeiten?

Aus dem Blickwinkel medizi - nischer Informationstechnologie be- deutet dies, dass ein Arzt, der eine bestimmte Software nicht anwendet und dem Patienten dadurch einen Schaden zufügt, dann fehlerhaft han- delt, wenn deren Benutzung dem aktuellen medizinisch-wissenschaft- lichen Erkenntnisstand unter Berück- sichtigung praktischer Erfahrung und professioneller Akzeptanz entspricht und das Unterlassen des Einsatzes nicht (mehr) medizinisch vertretbar ist. Zentrale Gesichtspunkte dafür, dass sich eine bestimmte Informa - tionstechnologie zum medizinischen Standard entwickelt oder bereits ent- wickelt hat, sind Zuverlässigkeit, Praktikabilität, Überlegenheit gegen- über anderen Informationsquellen, Kosten und Verfügbarkeit.

Die Beweislast im Prozess

Der Ausgang eines Zivilprozesses hängt maßgeblich davon ab, ob der Arzt oder der Patient die „Beweis- last“ trägt. Wer die Beweislast trägt und den entsprechenden Beweis nicht führen kann, verliert den Pro- zess. Die Beweislast für den Be- handlungsfehler, das heißt für die fehlerhafte Diagnose oder fehlerhaf- te Therapie des Arztes, trägt der Pa- tient. Der Patient gewinnt also den Schadensersatzprozess nur, wenn er beweisen kann, dass die Diagnose und/oder Therapie falsch war. Dar - über hinaus muss er beweisen, dass er kausal durch den Behandlungsfehler einen Schaden (Körper- oder Ge- sundheitsschaden) erlitten hat. Dem- gegenüber trägt der Arzt die Beweis- last für die ausreichende Aufklärung des Patienten und die daraufhin vom

Patienten erteilte Einwilligung in die Behandlung.

Fehlerkategorien

Die Fehlinterpretation tat- sächlich erhobener Befunde wird von der Rechtsprechung nur sehr zurückhaltend als Behandlungsfeh- ler gewertet. Der Grund liegt darin, dass Symptome einer Erkrankung nicht immer eindeutig sind, viel- mehr auf unterschiedliche Ursachen hinweisen können. Deshalb ist kein Diagnosefehler gegeben, wenn sich die fehlerhafte Diagnose als in der gegebenen Situation vertretbare Deutung der Befunde darstellt. Die

„Vertretbarkeit“ der Deutung ist al- lerdings abhängig von den zur Ver- fügung stehenden Kenntnissen und Hilfsmitteln: Je eher eine bestimm- te Informationstechnologie Diagno- sefehler verhindern kann, umso eher entspricht es dem medizini- schen Standard, sie einzusetzen.

Die Unterlassung einer medi- zinisch gebotenen Befunderhebung stellt einen Behandlungsfehler dar.

Solange die Diagnose nicht gesi- chert ist, muss der Arzt weitere ver- fügbare Erkenntnisquellen nutzen.

Auch hier gilt: Je eher eine be- stimmte Informationstechnologie Hinweise darauf geben kann, welche (weiteren) Befunde zu erheben sind, umso eher entspricht es dem medi- zinischen Standard, sie einzusetzen.

Zwar hat der Arzt grundsätz- lich die Freiheit, selbst die geeignete Therapie zu wählen. Er schuldet je- doch die Anwendung einer Therapie, die dem jeweiligen Stand der Medizin entspricht. Sofern ernsthaft mehrere in Betracht kommende Therapien bestehen, ist der Patient darüber auf- zuklären. Und wieder ist zu betonen:

Je eher eine bestimmte Informations- technologie Hinweise darauf geben kann, welche Therapie angezeigt ist oder welche Therapien angezeigt sind, umso eher entspricht es dem medizi- nischen Standard, sie einzusetzen.

Umkehr der Beweislast

Die Rechtsprechung kehrt die Be- weislast für die Ursächlichkeit des Fehlers für den entstandenen Scha- den zulasten des Arztes um, wenn der Arzt einen groben (fundamenta- len) (Befunderhebungs-/Diagnose-/

Behandlungs-)Fehler begangen hat.

Der Arzt muss dann also nachwei- sen, dass der beim Patienten entstan- dene Körper- oder Gesundheitsscha- den nicht auf seinen Fehler zurück- zuführen ist. Da dieser Beweis selten gelingt, verliert der Arzt im Zweifel den Prozess. Das bedeutet, dass der Arzt alles daransetzen muss, einen groben Fehler auf jeden Fall zu ver- meiden. Eine medizinische Informa- tionstechnologie bietet dem Arzt von daher einen besonders ausgeprägten Haftungsschutz, wenn sie grobe Fehler zu vermeiden hilft.

Fehlerhafte Technologie

Keine Technologie ist fehlerfrei. Das gilt auch für medizinische Software.

Von daher stellt sich die Frage, ob der Arzt gegenüber dem Patienten haftet, wenn er sich auf die Informa- tionstechnologie verlassen hat. Auch insoweit kommt es darauf an, was von einem erfahrenen, besonnenen Facharzt der entsprechenden Fach- richtung erwartet werden konnte:

Wenn er aufgrund seiner Fachkunde erkennen konnte, dass die Resultate der fraglichen Informationstechno- logie im konkreten Fall falsch sind, darf er ihnen nicht folgen. Die Lage ist nicht anders zu beurteilen als bei fehlerhaften Angaben in einem Lehrbuch oder in einer Fachzeit- schrift. Ähnliches gilt für die Befol- gung einer ärztlichen Leitlinie: Auch von ihr muss ein Arzt abweichen, wenn er erkennen kann, dass sie ver- altet oder sonst fehlerhaft ist. Auf die verzweifelte Frage aus Ärztekreisen, wie um alles in der Welt ein Arzt fehlerhafte Leitlinien erkennen soll, muss der Jurist antworten: Es gehört zur Fachkunde eines Arztes, dass er Informationen, aus welchen Quellen auch immer sie stammen, eigenstän- dig bewertet. Je gefährlicher ein Irr- tum ist, umso kritischer muss die Entscheidungsgrundlage hinterfragt werden. Nichts anderes gilt für me- dizinische Informationstechnologien:

Der Arzt darf ihnen nicht blindlings vertrauen. Sie geben ihm Hilfestel- lung, müssen aber jederzeit kritisch

bewertet werden. ■

Prof. Dr. jur. Jochen Taupitz Institut für Deutsches, Europäisches

und Internationales Medizinrecht, Gesundheitsrecht und Bioethik der Universitäten

Heidelberg und Mannheim

T H E M E N D E R Z E I T

Referenzen

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