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Archiv "„Alles Krankhafte ist entgleiste Norm”" (19.08.1976)

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen GESCHICHTE DER MEDIZIN

Am 19. August jährt sich zum hun- dertsten Mal der Geburtstag von Robert Rössle, ordentlicher Profes- sor der Allgemeinen Pathologie und Pathologischen Anatomie, Dr.

med., Dr. med. vet. h. c., Dr. rer.

nat. h. c., Dr. med. h. c., 3. Nachfol- ger Rudolf-Virchows auf dem be- rühmten Lehrstuhl in der Berliner Charitö, den er über zwanzig Jah- re innehatte.

1876 in Augsburg geboren, starb Rössle achtzigjährig 1956 in Berlin an einem rezidivierten Herzinfarkt ungebrochenen Geistes. Zwanzig Jahre sind seitdem vergangen.

Noch ist sein Wirken in seinen Schülern lebendig, in Deutschland und zahlreichen anderen Ländern.

„... seit Virchow keine gleichgroße Originalität ..."

Rössle war ein Leitbild als begei- sternder akademischer Lehrer, als untadeliger, pflichtbewußter Diener der Wissenschaft und als schlich- ter Mensch, der die Demut kennt, erfüllt von natürlicher Autorität, ausgestattet mit glänzenden Gaben des Geistes und kristallener Klar- heit des Urteils. Solche Leitbilder, im Zuge von Gleichmacherei und falsch verstandener antiautoritärer Gesinnung oft kritisiert und ver- schmäht, sind aber in einer Zeit mit Mangel an großen Persönlichkeiten von der jüngeren Generation wie- der erwünscht und gesucht.

Rössles geistige Kraft und sein Ideengut haben in einzigartiger Weise die Entwicklung der Patho-

logie und darüber hinaus der allge- meinen Medizin richtunggebend beeinflußt. Wilhelm Doerr stellt in dem einleitenden historischen Ka- pitel zu seiner dreibändigen Or- gan-Pathologie (1974) Robert Röss- le als einzigen bewußt neben Ru- dolf Virchow. In schöner Einheit sind die Porträts beider Männer nebeneinandergefügt. „Man darf ruhig sagen, daß die Welt seit Vir- chow keinen Pathologen gleichgro- ßer Originalität besaß" (Doerr über Rössle 1956).

Die 1929 nach Jahren der Ordina- riate in Jena und Basel erfolgte Be- rufung auf den Lehrstuhl Rudolf Virchows an der Berliner Charitö ist der Höhepunkt seines wissen- schaftlichen Weges.

Rössle verstand es, mit Umsicht und Organisationstalent das Patho- logische Institut der Charitö zu ei- nem modernen, schon damals in selbständige Abteilungen(!) geglie- derten Instrument auszubauen, das Aufgaben der Forschung, Lehre und klinischen Pathologie harmo- nisch bewältigen konnte. Rössles Ausstrahlung vermochte hervorra- gende Mitarbeiter, wie u. a. Roulet, Suzuki, Hamperl, Schürmann, Bredt, Apitz, Linzbach zu verpflich- ten; seine und seiner Schüler Ar- beiten erlangten hier Geltung in al- len Teilen der Welt.

Zwanzig Jahre hat Rössle in der Charitö gewirkt, trotz aller Widrig- keiten des Krieges und des Zusam- menbruches. Nach seiner freiwilli- gen Emeritierung gründete der 72jährige 1949 das Pathologische

Institut am Wenckebach-Kranken- haus in Berlin-Tempelhof, dem er bis 1953 vorstand.

Von seinen öffentlichen Pflichten entbunden, blieb Rössle Berlin treu und widmete sich ganz seiner eige- nen Arbeit und Forschung, noch 77jährig als Gast im Institut für Ge- webe- und Zellforschung der Max- Planck-Gesellschaft bei seiner Schülerin Else Knake mit experi- mentellen Arbeiten und daheim als Schriftleiter und Herausgeber des Virchow-Archivs — vierzig Bände!

— beschäftigt. Die wissenschaftli- che Arbeit war für Rössle ein Le- benselixier. Er hat das treffend for- muliert: „Sich lange tätig und nütz- lich zu halten, ist Altruismus und Egoismus zugleich."

Zellstoffwechsel und Entzündungslehre

Bei der systematischen Durchsicht der Rössleschen Arbeiten werden zwei Grundfragen offenbar, die schon in den ersten Assistenten- jahren angepackt, später immer wieder aufgegriffen, entwickelt und vorangetrieben wurden; die Patho-

logie des Zellstoffwechsels, insbe- sondere die Erforschung von Wachstum und Differenzierung und die Entzündungslehre.

Schon in seiner Habilitationsschrift 1904 „Über den Pigmentierungs- vorgang im Melanosarkom" er- kannte Rössle die enge Beziehung von Kern und Zytoplasma, vor al- lem des Nukleolus im Zellstoff- wechsel der Zelle. Für Rössle gibt es keine eigentlichen pathologi- schen Prozesse, alles ist „vielmehr nur entgleiste Norm". Altern ist ein Urphänomen des Lebens, gebun- den an die geordnete chemische und gestaltliche Struktur des Zyto- plasmas und beeinflußt von der Auseinandersetzung der Zelle mit ihrer Umwelt. Rössle definiert:

„Was wir an Wachstum einbüßen und an Differenzierung gewinnen, ist Reifung, und die Reifung bezah- len wir mit dem Tode. Das Zah- lungsmittel ist, was wir unter Altern verstehen."

„Alles Krankhafte ist entgleiste Norm”

Zum 100. Geburtstag von Robert Rössle

Claus J. Lüders

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 34 vom 19. August 1976 2185

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Spektrum der Woche Aufsätze Notizen

„Alles Krankhafte ist entgleiste Norm"

Faßbar sind bei der Alterung die physiko-chemischen Veränderun- gen des Protoplasmas und der pa- raplastischen Substanzen. Solange Zellen sich teilen können, bleiben sie jung, weil Teilung mit physiolo- gischer Entschlackung verbunden ist. Betrachtet man die Ergebnisse der Kieler Tagung der Deutschen Gesellschaft für Pathologie 1975, so sind mit den modernen Metho- den der Biochemie und Prolifera- tionskinetik die grundsätzlichen Aussagen Rössles bestätigt und weiterentwickelt worden.

Erkenntnisse

von bleibender Geltung

Bei der Erarbeitung der Allgemei- nen Pathologie der Entzündung kam Rössle aufgrund vergleichen- der morphologischer Studien an der ganzen Tierreihe zu der funda- mentalen Erkenntnis, daß die Ent- zündung im ärztlichen Sinne nichts Außergewöhnliches darstellt, son- dern physiologische Beispiele hat.

Entzündung ist ein komplexes Ge- schehen, ein Stoffwechselvorgang mit humoralen und zellulären Ab- läufen, die der Selbstreinigung, der parenteralen Verdauung dienen.

Rössle hat diese allgemeinen Schlußfolgerungen zum Entzün- dungsproblem schon 1923 in einem großartigen Referat vor der Deut- schen Gesellschaft für Pathologie dargelegt; sie haben noch heute bleibende Gültigkeit, es gibt kein besseres Konzept.

Diesen grundlegenden Untersu- chungen schließen sich Arbeiten über spezielle Entzündungsformen an, über die rheumatische Entzün- dung, insbesondere über die rheu- matischen Gefäßprozesse, über den Typhus abdominalis, die se- röse Entzündung, die Fremdkör- perentzündung und schließlich in der Baseler Zeit die fundamentalen Arbeiten über die Morphologie der Allergielehre. Darüber hinaus hat er durch die Formulierung des Be- griffs der Pathergie die allergi- schen Erscheinungsbilder in eine übergeordnete Einheit eingebaut.

Von bleibender Geltung sind Röss- les Arbeiten zur Konstitutionspa- thologie. In dem umfassenden Werk „Die Pathologische Anatomie der Familie" hat er mit unendli- chem Fleiß über viele Jahrzehnte die Sektionsergebnisse von Ange- hörigen gleicher Familien zusam- mengetragen und festgestellt, daß es eine „überindividuelle Krank-

Robert Rössle, Tuschpinselzeichnung von 1. Grashey-Straub

heit" als Folge exogener Einflüsse gibt. Rössle hat damit, wie sein Schüler Otto Gsell 1972 auf der den Umweltschäden gewidmeten Grazer Pathologentagung betont, die heute anstehende bedrückende Problematik „Umwelt, Sucht, Phar- maka" vollwertig umfaßt.

Große Beachtung verdienen Röss- les Arbeiten zum Geschwulstpro- blem. Von ihm stammt der Begriff des Retothelsarkoms. In seinen letzten Lebensjahren wies Rössle in einer Studie „Versuch einer na- türlichen Ordnung der Geschwül- ste" nach, daß die morphologi- schen Kennzeichen des malignen

Wachstums ein Vorbild in den Vor- gängen der Plazentation haben.

Wie schon bei der Entzündungsleh- re gilt hier der Grundsatz: „Alles Krankhafte ist entgleiste Norm."

Aus der Fülle der Arbeiten auf dem Gebiet der Organpathologie seien vor allem die Beiträge zur Patholo- gie der Leber genannt mit einer heute noch anerkannten Darlegung der formalen Genese der Zirrhose.

Auch verdanken wir Rössle den Begriff des Hepatons als einer.

funktionellen Einheit. Rössles Werk (gemeinsam mit Fr. C. Roulet)

„Maß und Zahl in der Pathologie"

liefert erstmals exakte Unterlagen für quantitative Untersuchungen in der morphologischen Pathologie und ist für jeden Pathologen unent- behrlich.

Pathologen der Gegenwart:

Schüler von Rössle

Überblickt man das Gesamtwerk Rössles, so darf man mit Wilhelm Doerr die Aussage machen, daß kaum ein Pathologe gleich Rössle bestimmend auf die geistige Situa- tion seines Faches und darüber hinaus der gesamten Medizin Ein- fluß genommen hat. Doerr (1956 u.

1974) schreibt, daß alle Pathologen der Gegenwart sich mit Rössles Werk auseinanderzusetzen haben und in diesem Sinne alle seine Schüler sind.

Rössle selbst bekannte in seinem letzten Lebensjahr mit Stolz, daß er keine „Schule", wohl aber zahlrei- che Schüler herangebildet habe.

Jeder Schüler ist in seiner Art ei- genständig geworden, doch be- wußt oder unbewußt gebunden und fortwirkend beeinflußt von der um- fassenden Persönlichkeit des Leh- rers und seines Werkes.

Literatur beim Verfasser

Anschrift des Verfassers:

Prof. Dr. Claus J. Lüders Pathologisches Institut Wenckebach-Krankenhaus 1000 Berlin 42 (Tempelhof)

2186 Heft 34 vom 19. August 1976 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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